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"Letztendlich zählt für mich immer die Neugierde der Kinder"

"Pinocchio zu zeichnen, das war für mich nicht schwer", sagt Roberto Innocenti. "Da musste ich nur durch die Toskana fahren und habe alles gefunden." Andere Themen fielen dem Illustrator schwerer. Er war der Erste, der den Holocaust in einem Bilderbuch thematisierte.

Roberto Innocenti im Gespräch mit Ute Wegmann | 13.07.2013
    Ute Wegmann: Spricht man über große internationale Illustratoren, fällt sein Name als einer der Ersten. In Italien kennt jedes Kind seine Bilder zu Carlo Collodis Pinocchio. In seinem Verlag heißt er nur der "Mastro". Roberto Innocenti. Der Name Innocenti steht für hohe Illustrationskunst. Er steht für Präzision und Fantasie. Er steht für große Bildtafeln, reich an Personal, Flora, Fauna und Tierwelt, aber auch für feine Vignetten.

    Er steht für ein außergewöhnliches Zeichentalent und die Verwendung von Pinsel und Farbe. Er hat nie eine Akademie oder Zeichenschule besucht. Der italienische Künstler Roberto Innocenti ist Autodidakt. Im Jahr 1940 in der Toskana geboren, verließ er dreizehnjährig die Schule, machte eine Lehre und beschloss dann mit 18 Jahren nach Rom zu gehen, in ein Trickfilmstudio.

    Roberto Innocenti, Sie lebten damals als Jugendlicher in der Nähe von Florenz, in einem toskanischen Dorf. Wie entdeckten Sie Ihr Talent zum Zeichnen? Und wie – vor allem – erlernten Sie die Kunst?

    Roberto Innocenti: Ich habe mir das selber beigebracht. Wenn ich mich als Kind gelangweilt habe, habe ich mich hingesetzt und gezeichnet, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich war sehr unsicher, was meine Sachen betraf. Schließlich waren es Kinderbilder. Ich begriff aber sehr schnell, dass man dazu lernte, wenn man an einer Sache dran blieb. Man muss das Zeichnen als ein Handwerk verstehen. Die Arbeit in Rom in dem Trickfilmstudio, das sollten animierte Trickfilme werden, aber es gab mehr Misserfolge als positive Ergebnisse. Das Studio arbeitete nicht gut. Es war ein Disaster. Eigentlich war alles nach dem Krieg in Italien ein Disaster. Später in Florenz hab ich in alles Mögliche gezeichnet: Trickfilmcartoons und Werbung und so etwas. Dann wollte ich als Illustrator arbeiten. Aber in Italien war das unmöglich. Sie bezahlten so gut wie nichts. Deshalb habe ich erst mit 42 Jahren angefangen, und zwar im Ausland. Meine Verleger kamen immer aus dem Ausland. Es gab keinen Italiener.

    Ab dem Zeitpunkt habe ich es ernsthaft betrieben. Früher war der Begriff weiter gefasst, da habe ich auch Plakate gemalt, Design und Objekte gemacht. Heute beschränkt sich mein Aufgabengebiet nur noch auf Bücher. Es gibt nichts anderes mehr, was ich machen kann.

    Wegmann: Betrachtet man Ihre detailreichen, feinsinnigen, mit viel Hintergrund gestalteten Bildtafeln so stellt man zwei Dinge fest. Bewegung und Perspektive beherrschen jedes einzelne Bild: Weghüpfende Hasen, fliegende Eulen oder Vögel, Weintrauben tretende Kinder, Körbe flechtende Frauen. In Pinocchio gestalteten Sie eine Aufsicht auf einen italienischen Dorfplatz des 19. Jahrhunderts. Man kann dort neben arbeitenden Menschen, die Reisig oder Holz transportieren, bellende Hunde, Vögel jagende Katzen, Körner pickende Tauben, in der Sonne trocknende Steinpilze und Pferdeäpfel entdecken. Zwischen all dem flieht Pinocchio über eine Treppe. Wir schauen auf die Szenerie von oben, sodass wir sogar den Flug der Vögel verfolgen können. Gibt es einen Künstler, der Sie beeinflusst hat?

    Innocenti: Das kann schon sein. Aber ich beschäftige mich mehr mit der Idee, dass Kinder sehr neugierig sind. "Pinocchio" zu zeichnen, das war für mich nicht schwer. Ich lebe hier in der Toskana, ich kenne die Vergangenheit gut, also auch die alte Toskana. Maler und Illustratoren haben mich immer interessiert, auch Werbeleute, jede Art von Bildkunst. Man vergleicht mich manchmal mit Brueghel oder so, ja, den kenne ich, aber letztendlich zählt für mich immer die Neugierde der Kinder. Ich gebe viele Informationen und wecke dadurch weitere Neugierde. Es gelingt mir nicht, einfache Bilder zu zeichnen, weil es zu viel zu erzählen gibt.

    Wenn man zum Beispiel einen Dorfplatz nimmt. Wir laufen darüber und nehmen die Kleinigkeiten nicht wahr, auch nicht die Handlungen zwischen den Menschen, aber ich versuche alles in meinem Bild aufzunehmen, die ganze Welt, die für Kinder spannend sein könnte. Und ich glaube, dass es Kindern Spaß macht, dieser Erzählung zu folgen. Es ist somit nicht nur die Geschichte Pinocchios, sondern eine Parallelgeschichte. Die Bilder öffnen einen Blick auf Neues, erweitern das Bewusstsein für Dinge. Wo könnte das sein, fragt man sich vielleicht. Der Dorfplatz existiert in Wirklichkeit nicht. Aber in der Toskana, damit meine ich nicht die touristische Toskana, sondern eine Art Paralleltoskana, da gibt es diese Orte. Mit jedem Buch versuche ich, dem Leser etwas mitzugeben, zu informieren. Ich versuche, die Geschichte anzureichern und mich nicht einzuschränken.

    Die alten Meister sind unumgänglich, um zu reifen, und um in der frühen Kindheit zu erkennen, dass das Zeichnen ein Handwerk ist. Auch um sich Figuren vorzustellen und Bilder zu entwerfen. Dann muss man den eigenen Stil finden, die Meister rücken immer weiter in die Ferne. Man muss eine eigene Sprache entwickeln. Irgendwann habe ich entdeckt, dass die immergleiche Machart mich nach einer Weile langweilt. Außerdem muss man die Ausdrucksform für den jeweiligen Autor finden. Ich habe jedenfalls viel Spaß daran, mich zu verändern. So birgt jedes Buch seine eigenen Gesetze, und jedes verlangt seinen eigenen Stil.

    Wegmann: Mit 18 Jahren gingen Sie nach Rom, das war Ende der Fünfziger Jahre. Da fällt einem gleich "La dolce Vita" ein oder "Mamma Roma". Es ist die Zeit des italienischen Kinos, Fellini und Pasolini führen Regie in Rom, Marcello Mastroiani und Anna Magnani spielen Hauptrollen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

    Innocenti: Ich bin wegen der Trickfilme nach Rom gegangen. In Cinecitta habe ich so den ein oder anderen Dreh gesehen. Aber Rom war eine sehr arme Stadt und lange nicht so stattlich wie heute. Wenn man mit dem Zug nach Rom fuhr, sah man reihenweise Baracken. Die Menschen campierten entlang der Gleise. Cinecitta war damals eine andere Welt, eine Traumwelt. Die Wirklichkeit war weitaus komplizierter. Es gab so viel Armut. Ich habe selber nur sehr wenig gegessen, weil ich kein Geld hatte, nicht bezahlt wurde. Diese Zeit in Rom habe ich eigentlich abgekapselt. Sie hat keinen weiteren Einfluss auf mein Leben gehabt. Keine Vorteile, keine Nachteile. Es war eine Episode, ein Abenteuer, basta!

    Wegmann: Man kann Ihr Werk in zwei Kategorien einteilen. Die erste Kategorie sind die illustrierten Klassiker: "Nußknacker und Mausekönig" von E.T.A. Hofmann, "Pinocchio" von Carlo Collodi, Robert Louis Stevensons "Die Schatzinsel". Allesamt Bücher aus dem 19. Jahrhundert. Was fasziniert Sie am 19. Jahrhundert?

    Innocenti: Die ein oder andere Geschichte habe gar nicht ich ausgewählt, sondern sie sind mir nahe gelegt worden. Aber ich habe nie eine Auftragsarbeit gemacht, das kann ich nicht. Es ist eine besondere Erfahrung, klassische Texte zu illustrieren. Man muss dem vorgegebenen Text folgen, aber andererseits auch eine eigene Geschichte erzählen. Es erfordert eine besondere Disziplin, weil man Kostümbildner und Bühnenbildner sein muss, und man muss das historische Ambiente sehr genau studieren, um alles präzise zu dokumentieren. Im Grunde ist es so, als ob man einen Kostümfilm dreht. Wenn ich zum Beispiel an Barry Lyndon denke. Die Filmleute haben das Gleiche recherchiert wie ich, wahrscheinlich haben sie es viel besser gemacht als ich – so ist das mit den Klassikern.

    "Pinocchio" war für mich am einfachsten, da musste ich nur durch die Toskana fahren und habe alles gefunden. Bei den anderen Büchern musste ich mir viel anlesen. Am meisten Spaß allerdings habe ich, wenn ich etwas erfinden kann. Ich möchte vielleicht demnächst Comicstrips machen. Einige Bücher ähneln ja dem Genre schon. Wenn ich ein solches Buch fertig gezeichnet hätte, würde ich später jemanden suchen, der die Texte schreibt. Das würde mir mehr Spaß machen und gibt mir mehr Freiheit.

    Wegmann: Die zweite Kategorie sind Texte, die von meist amerikanischen Autoren verfasst wurden, zu denen Sie jedoch die Idee lieferten: "Rosa Weiss", "Ein Haus erzählt", "Das Mädchen in Rot". Warum arbeiten Sie meist mit amerikanischen Autoren, Patrick Lewis, Aaron Frisch um nur zwei zu nennen? Und ist es schwierig, für eine Idee einen Autor zu finden?

    Innocenti: Ich wähle die gar nicht aus. Ich schreibe eigentlich die Texte meiner Bücher. Mein Hauptverleger ist allerdings Amerikaner, aus Minnesota. Und er meint, dass die Bilderbücher für den amerikanischen Markt einen geringeren Wortanteil haben sollten. "Rosa Weiss" wurde allerdings zuerst von dem Engländer Ian McEwan geschrieben. Das war 1985. Und es gibt auch einen französischen Autor, Christoph Gallaz. Als das Buch in Deutschland erschien, wurde es erneut umgeschrieben.

    Es gelingt mir nicht, einen Text zu einem fertig gezeichneten Buch zu schreiben, ohne Dinge zu wiederholen, weil ich Texte wie Fußnoten benutze. Meiner Meinung ist ja in den Bildern alles gesagt. Ein ausländischer Autor aber legt eine Geschichte darüber, er findet andere Worte, die vielleicht leichter sind als meine eigenen. Die Worte unterstützen die Figuren und bringen so durch die kleinen Szenen eine Leichtigkeit. Sie sind nichts Übergestülptes.

    Wegmann: Das heißt, Sie geben Ihren Text ab und die Autoren entwickeln die Geschichte nach Ihren Bildern?

    Innocenti: Manchmal schreibe ich gar nichts. Bei "ROSA WEISS" zum Beispiel ist mir ein Bild nach dem anderen eingefallen. Ich habe ein Storyboard gemacht, ohne noch mal irgendwas zu ändern. Manchmal schreibe ich aber auch etwas zum Storyboard. Also es ist so: Ich schreibe nicht schlecht, aber zuviel. /.../ Für "Rosa Weiss" habe ich später den Text noch mal überarbeitet, weil er wirklich schlecht ins Italienische übertragen wurde, und ich hab auch Fehler entdeckt. Das gefiel mir überhaupt nicht. Leider passiert das oft.

    Wegmann: Sie haben mit Ihrem Werk viele Preise gewonnen. Unter anderem den international angesehensten Preis für Kinder- und Jugendliteratur, den Hans-Christian-Andersen-Award. Das war im Jahr 2008. Zwanzig Jahre vorher gewannen Sie den Gustav-Heinemann-Friedenspreis für dieses besonder Bilderbuch: "Rosa Weiss". Die Geschichte der kleinen Rosa, die den Beginn des Krieges und die Verfolgung der Juden in ihrem Dorf erlebt. Sie folgt dem Konvoi heimlich und sieht, dass die Juden in ein Lager gebracht werden. Von dem Tag an wird sie jeden Tag zum Zaun gehen, bewappnet mit Schulbroten, die sie den Hungernden gibt. Eines Tages ist das Lager geräumt, Soldaten erscheinen in der Ferne. Sie folgen dem Befehl, auf den Feind zu schießen. Rosa wird von den Befreiern versehentlich erschossen. Zum ersten Mal thematisiert ein Autor den Holocaust im Bilderbuch. Das war 1985/86. Wie groß war der Widerstand gegen dieses Buch?

    Innocenti: In Italien war der Widerstand besonders groß. Dafür gibt es ja psychologische Gründe. Die erste Verlegerin hatte große Schwierigkeiten mit dem Buch und hat es abgelehnt, obwohl sie der Bilderbuchillustration gegenüber sehr offen war. Ich hab irgendwann begriffen, dass man in Italien über diese Zeit nicht gerne sprechen wollte. Auch Verleger nicht. Ich will aber immer wieder daran erinnern. Man wollte allerdings nicht daran erinnert werden, dass der Faschismus in Italien erfunden wurde, und die anderen ihn nur kopierten. Die Italiener wollen das nicht wahr haben. Es ist ja kein Zufall, dass das Buch 1986, als ich dafür den Gustav-Heinemann Friedenspreis erhielt, in Italien noch nicht mal erschienen war. Es wurde hier 1991 verlegt.

    Ich habe mich nicht sehr patriotisch gefühlt, als ich als italienischer Illustrator mit meinen Bilder nach Paris und Montey, nach Berlin und Essen eingeladen wurde, aber in Italien waren meine Bücher nicht einmal pubbliziert. Ich schulde diesem Land gar nichts. Hier kassiert man nur meine Steuern, und die haben sie nicht mal verdient.

    Wegmann: Auch unter Kollegen war man nicht einer Meinung, was den Umgang mit dem Holocaust betrifft. Es gibt einen wundervollen Comicstrip – ein Dialog zwischen Maurice Sendak und Art Spiegelman. Spiegelman war der Meinung, dass man so etwas Kindern nicht zumuten sollte. Während Sendak sagt: Kinder wissen sowieso viel mehr als Erwachsene glauben.

    Innocenti: Ich habe dieses Buch gemacht, weil ich der Meinung bin, dass Kinder nach er Grundschule die moderne Geschichte kennen lernen müssen, besonders den Faschismus, die Judenverfolgung, die beiden Weltkriege. "Rosa Weiss" beginnt als milde, leichte Geschichte, aber natürlich verlangt das Buch die Begleitung durch Erwachsene, durch Lehrer oder Großeltern. Als das Buch auf den Markt kam, lebten die Großeltern ja noch, und sie konnten die Vergangenheit erklären, weil sie diese reale Welt verkörperten. Die jüngste Geschichte reicht ja ins Hier und Jetzt. Ich halte das für sehr wichtig, sich damit zu beschäftigen.

    Außerdem haben Kinder einen freieren Kopf. Sie sind bereit für diese Geschichten. Sie sind nicht von Problemen, Gedanken und Traurigkeit besetzt. Sie sind wie offene Bücher, die noch geschrieben werden. Sie sind nicht unkritisch und sie lassen sich nicht mit Informationen vollstopfen. Sie sind neugierig. Besonders in Italien besteht aber die Gefahr, mit nüchternen Informationen bombardiert zu werden: in der Schule, durch die Eltern, durch das Fernsehen. Das und vieles mehr ruiniert die Kinder. Sie werden genormt, in Strukturen gepresst. Kinder sind eigentlich die stärksten Intellektuellen der Welt. Die Möglichkeiten eines Kindes reichen von Null bis Unendlich. Irgendwann hört das aber alles auf – und endet beim Fußball oder bei Motorrädern, und das liegt an der Gesellschaft, in der sie leben.

    Wegmann: Im Jahr 2003 erscheint ein zweites Buch, das sich mit dem Holocaust beschäftigt: "Erikas Geschichte", erzählt von Ruth Vander Zee, einer amerikanischen Autorin. 1944 – das Baby Erika wird vor dem Holocaust gerettet, weil ihre Mutter sie als Bündel aus dem fahrenden Zug wirft. Eine Ich-Erzählung, die in hoher Dichte von einem Menschen erzählt, der entwurzelt, ohne Namen, ohne Geburtsdatum, sich und seinen Platz in der Welt suchen muss. Ein mühsamer Weg gepflastert mit Fragen ohne Antworten. Ihre Bilder, Roberto Innocenti, wenige Bilder, zeigen ungeschönt die Brutalität der Zeit. In braungrau Tönen der Bahnhof, die Viehtransporter, Stacheldraht, Zäune und Verbotsschilder, Menschen in Alltagskleidung, Menschen in Uniform. Nie sieht man ein Gesicht. Der Zug, Gleise, Reste von Schnee – eine Kälte ohnegleichen. Und man sieht keine Gesichter: Warum haben Sie alle Menschen von hinten oder nur bis zur Brust dargestellt?

    Innocenti: Ich war damals in der gleichen Situation wie bei "Rosa Weiss". Auch das Kind Erika ist nicht erfunden. In "Erikas Geschichte" geht es um Gefangene und um Soldaten. Es ist mir nicht gelungen, die Gefangenen zu zeichnen, weil es Abbilder der Menschen gewesen wären, die diese Tragödie tatsächlich erlebt haben. Ich wollte sie nicht benutzen. Es geht ja um Humanität. Es kam mir respektvoller vor, sie anonym zu lassen. Ein weinendes Kind zu zeichnen, das ist einfach. Das kam mir aber vor wie eine Farce. Ich wollte nicht etwas imitieren, was wirklich passiert ist. Für mich hatte das einen schlechten Beigeschmack. Der Respekt vor diesen Menschen hat mir abverlangt, keine Individuen zu zeigen, sondern Fakten. Ich wollte jede Spur von Humanität beiseite schieben und Objekte für sich sprechen lassen: Gleise, Waggons, der Kinderwagen. Das Bild vom verlassenen Kinderwagen sagt mehr als ein weinendes Kind. Was für eine Tragödie muss es für eine Mutter sein, das Kind in das Leben hineinzuwerfen. Da war es nicht nötig, weitere Umstände zu zeigen. Es geht nur um das Existenzielle.

    Wegmann: Zeichnen Sie auch gegen das Vergessen?

    Innocenti: Ja. Ich habe immer daran gedacht, wie kann ich meiner Tochter diese Sachen erzählen. Aber sicherlich geht es auch um die Erinnerung. Aber darum geht es auch in "Ein Haus erzählt" oder in "Pinocchio". Auch diese Bücher bewahren die Vergangenheit. Man kann in die Vergangenheit gehen, ins Hier und Jetzt und in die Zukunft, das ist allerdings gewagt. Etwas sichtbar machen. Zeichnen bedeutet immer etwas aufzuzeigen, Geschichten zu erzählen. Es können natürlich auch Märchen sein. Ich frage mich bei jedem Buch, was will ich daraus machen. Manchmal amüsiere ich mich oder ich muss ein wenig leiden, je nach Thema. Es ist egal, was es ist. Die Bücher versetzen mich in die jeweílige Stimmung. Möglicherweise ist es aber auch mal oberflächlich oder nur unterhaltsam, was weiß ich ...

    Wegmann: Klassische Texte wurden meist schon von Kollegen vorher illustriert. Wie erarbeiten Sie sich einen Text? Wie finden Sie Ihre eigenen Bilder?

    Innocenti: Es gibt Bücher, die würde ich nie zeichnen, weil sie sehr gut illustriert sind. Ich wüsste nicht, was ich dem hinzufügen könnte oder was ich ändern würde. "Pinocchio" ist ja auch schon hunderte Male illustriert worden, aber interessanterweise wurde die Geschichte noch nie in die Toskana verlegt. Für mich war es ein Spiel, die Bilder zu Pinocchio in der Zeit des Autors und in dessen Heimat anzusiedeln. Mir kam es absurd vor, dass noch nie jemand zuvor, auf die Idee gekommen ist. Aber letztendlich offenbart jedes Buch die Möglichkeit, alles anders zu machen. Besonders bei Märchen ist das so. Es war einmal, ist zeitlos.

    "Rotkäppchen" habe ich gemacht, um die Gefahren zu zeigen, denen Kinder heute ausgesetzt sind. Die Freiheit und das Vergnügen bestehen darin, die Form für eine Geschichte zu finden. Egal ob die Geschichte alt oder neu ist.

    Wegmann: "Pinocchio", "Das Hotel zur Sehnsucht", "Ein Haus erzählt" - immer spielen Natur und Tiere eine große Rolle. Sie leben hier in der Nähe von Florenz, auf dem Land. Wie wichtig ist Natur für Ihre Kreativität?

    Innocenti: Das hängt immer vom Inhalt ab. Ich bin nicht so sehr mit der Natur verbunden. Aber je nach Geschichte ist sie wichtig. Zum Beispiel in "Ein Haus erzählt". Anstatt wie normalerweise cinematografische Mittel zu benutzen, um die Perspektive zu ändern und um Gefühle herzustellen, habe ich einen festen Standort gewählt. Ich wollte sehen, was sich alles in einem Jahrhundert ändert. In 15 oder 16 Bildern. Es schien so einfach, dann wurde es sehr kompliziert. Die Natur erzählt aus sich heraus: Die Bäume wachsen, Häuser gehen kaputt, weil es hineinregnet, zwei Weltkriege ereignen sich. In diesem Fall resultiert die Geschichte aus dem Haus selber. Ich fand es interessant, das Jahrhundert aus der Sicht eines Hauses aus Stein erzählen zu lassen.

    Ich zeichne vor allen Dingen für mich. Wenn ich zufrieden bin, denke ich, dann sind es die anderen auch. Und die Figuren haben ihr Eigenleben, sie stecken immer in irgendeiner Situation, sind nie aus dem Zusammenhang gelöst. Letztendlich inspiriert mich das Landleben nicht. Ich lebe auch erst seit zehn Jahren hier. Vorher habe ich immer in Florenz gewohnt. Ich mochte das Leben als Städter sehr. Aber Florenz ist keine Stadt mehr. Florenz, gut, das ist jetzt eine andere Diskussion, aber es ist eine Art Disneyland, Touristenattraktion, mehr nicht. Ich war das Stadtleben gewohnt. Es gibt ja auch genug Bücher, die in der Stadt angesiedelt sind.

    Ich würde sagen, ich bin nicht festgelegt. Auch nicht, was meinen Stil betrifft. Mein erstes Buch zum Beispiel, das kennt kaum jemand, es ist nur in Italien erschienen, das hat einen sehr ausdrucksstarken Stil. So malte ich damals. Aber immer das Gleiche zu machen, hat mich irgendwann gelangweilt, deshalb hab ich mich davon distanziert. Manchmal ändere ich auch die Technik. Mal nehme ich Aquarell, dann Tempera oder Tusche. Wenn ich etwas neu entdecken kann, um so mehr Spaß bereitet es mir.

    Wegmann: In "Ein Haus erzählt" stellen Sie die Entwicklung und Veränderung des Hauses und der Natur rundherum im Laufe des letzten Jahrhunderts dar.
    Fazit: Das Haus gehört der Sonne und dem Regen, also letztlich doch wieder der Natur. Frank Lloyd Wright hat gesagt: Ich glaube an Gott, aber ich buchstabiere ihn N A T U R. Glauben Sie an Gott?

    Innocenti: Nein, das ist mir nicht gelungen bisher. Es wäre ab einem gewissen Alter eigentlich ganz praktisch, anstatt zu sterben ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Ich denke, dass ist auch der Grund, warum die Menschen an Gott glauben.
    Mir ist das nicht gelungen. Es tut mir leid!

    Wegmann: "Das Mädchen in Rot" – basierend auf dem Grimmschen Märchen Rotkäppchen, wurde von Ihnen in die städtische Umgebung und ins Hier und Jetzt verlagert. Der Wald sind die Mietwohnungs-Betonwüsten und der Konsumirrsinn der Innenstädte. Verführung und Konsum lauert an jeder Ecke, um vom Weg abzulenken. Die Mitte des Waldes, eine Shoppingmall, ist ein irrsinniger Konsumtempel. Reklametafeln, die locken wollen, überall knapp bekleidete Frauen, Sale-Angebote. Wie lange zeichnen Sie an einer solchen Doppelseite?

    Innocenti: Diese Seite hat am meisten Zeit gekostet. Ich habe das Buch mit Temperafarben gemalt, das geht schneller als Aquarellfarben. Aquarellfarben habe ich bei "Pinocchio", "Ein Haus erzählt", benutzt, das war viel komplizierter. Die Temperafarben beschleunigen den Arbeitsprozess. Außerdem hängt es natürlich vom Thema ab. Tempera ist härter und fester. "Rotkäppchen" hat mich interessiert, weil ich das Märchen in die heutige Zeit verlegen wollte. Ein Mädchen, das sich im Wald vor einem Wolf fürchtet, ist eine sehr unwahrscheinliche Angelegenheit. Vielleicht gibt es das ja noch in den Abruzzen. Aber ein Kind würde doch sagen: Das ist eine Welt, die nicht existiert. Mich hat die Frage bewegt: Ist es für ein Kind gefährlich, einen Wald zu durchqueren? Ich denke Nein! Es ist weitaus gefährlicher, durch die Straßen eines Vorortes einer Großstadt zu gehen. Viele Städte auf der Welt sind sehr gefährlich für Kinder, das liest man ja in der Zeitung.

    Der zweite Ort ist das Einkaufszentrum. Diese Mall übernimmt den Platz des Waldes. Ich habe sie auch so gemalt, in ihrer Unüberschaubarkeit. In Istanbul hat sich die Bevölkerung auf die Seite der Bäume gestellt, um sie vor dem Bau eines Einkaufszentrums zu verteidigen. Ich bin ein Teil dieser Bevölkerung. Das kommt mir fast kurios vor, dass plötzlich schon ein Aufstand der Bevölkerung gegen diese Art "Wald", diese Mall geschieht. Ich wollte mit meinem Buch zeigen, dass wir versuchen wegzuschauen, dass wir nichts sehen wollen. Wenn man aber mit dem Zug durch Italien fährt, von Norden nach Süden, dann wird man immer wieder auf solche Szenarien treffen, die ich gemalt habe. Es gibt entlang der Gleise nichts Schönes. Es sind Orte, wo Touristen nicht hingelangen, Szenerien der dekadenten Zukunft, in denen Jugendliche sich aufhalten und sich verlieren. Sie haben nichts zu tun, schreiben auf Mauern oder halten es absurderweise für eine Revolte, Züge zu verschmutzen und zu verschmieren. Es ist alles ziemlich absurd. Das Buch ist eine Art Fingerzeig. Es gibt keinen Ratschlag und keine Moral. Nur die Aussage: "Schaut euch mal um, gefällt euch das!"

    Ein Kind aus San Gimigniano oder Siena würde sagen: "In was für einer hässlichen Gegend wohnt das Rotkäppchen." Aber Kinder aus Secondigliano oder aus Tor bella Monaca, einem Vorort Roms oder aus den spanischen Vierteln in Neapel werden denken, wie schön das Rotkäppchens wohnt.

    Wegmann: Sex. Schnellebigkeit. Vereinzelung. Kapitalismuskritik und ein ironischer Blick auf Berlusconi: "I AM THE BEST" lacht er da von einem Plakat hinunter. Das alles findet man in Ihren Stadtbildern. Kann und darf Kunst politisch sein? Nimmt Sie Einfluss auf den Einzelnen und somit vielleicht auf die Politik?

    Innocenti: Ich male diese Bilder weniger um politisch Einfluss zu nehmen, vielmehr um auf etwas hinzuweisen. Schaut euch das an! Jeder hat seine eigenen Bilder. Berlusconi habe ich benutzt, weil er für mich der Inbegriff übersteigerter schamloser Zurschaustellung ist. Diese ganze Dekadenz, diese Nicht-Kultur, diese Ignoranz - und die Ignoranz ist etwas, das wie ein Fluss anschwillt, - für all das steht meiner Meinung nach in Absolutheit Berlusconi. In jeder Hinsicht, unter moralischen und unter qualitativen Aspekten zeigt er den geringsten Level an Humanität. Wer könnte das besser verkörpern? Und er ist nicht der Einzige, überall gibt es noch seine Eleven. Auf der ganzen Welt nehmen solche Menschen Einfluss.

    Wegmann: Die Werte, mit denen die Jugend heute aufwächst, sind oft vordergründig, sehr konsumorientiert. Was sind die wichtigsten Werte, die der jungen Generation vermittelt werden müssen?

    Innocenti: Ich glaube, es geht grundsätzlich nicht darum, der Jugend etwas wegzunehmen, sondern ihr auf eine andere Art etwas zu geben. Das Glück wird immer an Besitz geknüpft. Je mehr ich besitze, um so glücklicher bin ich. Nichts besitzen, macht sehr unglücklich. Aber es geht nicht um Quantität, sondern Qualität ist entscheidend für das Glück. Mir scheint, dass die Jugendlichen von heute durch den Besitz von Dingen, durch Aktivitäten, durch Aussehen und äußeren Schein versuchen, glücklich zu sein. Das ist ein Trugschluss. Sie werden so das Glück nicht finden. Ich glaube nicht, dass ein Motorradfahrer glücklicher ist, wenn er eine schnelle Maschine besitzt. Er hat vielleicht mehr Adrenalin.
    Ich erfahre Glück, in dem ich etwas herstelle, etwas erschaffe. Ich bin kein Altruist. Ich mache das vor allem für mich und dann für die Anderen. Etwas erschaffen, macht glücklich, nicht das Konsumieren. Aber das System verlangt nach Konsumenten, nicht nach Erbauern oder Kreativen.

    Wegmann: Roberto Innocenti, Sie sind ein Meister der alten Schule. Sie arbeiten mit Pinsel und Farbe. Oder haben Sie jemals am Computer gearbeitet?

    Innocenti: /.../ Ich verteufel' den Computer nicht, aber ich benutze ihn nicht zum Malen. Übrigens bin ich mir sicher, dass man für eine Illustration die gleiche Zeit benötigt. Um mit dem Computer ein gutes Bild herzustellen, braucht man genauso lange wie mit Stift oder Pinsel. Mit Stiften schafft man aber etwas Handwerkliches und das sieht man. Es ist frischer und transparenter.
    Alles in allem kann man sagen, ein Computer hat keinen eigenen Stil. Er kann alles herstellen: Tempera, Tusche, Aquarell. Er kopiert alle möglichen Stile, sogar alle traditionellen Stile. Ich mache das aber lieber selber.

    Wegmann: Und das macht glücklich?

    Innocenti: Wenn ich arbeite, bin ich immer nur wenig bei mir selber. Das Leben spielt sich zwischen zwei Büchern ab. Das ist auch etwas, was man den anderen schenkt. Außerdem macht mich das Ergebnis zufrieden. Es ist wie bei einem Schriftsteller, der auch aus sich herausschöpft und das dann nach außen kehrt. Ob ich schreibe oder male, es ist immer das gleiche: Wenn etwas aus mir heraus entsteht, dann biete ich das dar. Das ist zweifellos eine Arbeit, die mich glücklich macht.

    Roberto Innocenti, grazie tanto per l’intervista qui nella Toskana.
    Wir sprachen vor allem über: "Rosa Weiss" und "Erikas Geschichte", "Pinocchio" von Carlo Collodi, "Ein Haus erzählt" von J.Patrick Lewis "Das Mädchen in Rot" von Aaron Frisch Alle Bilder von Roberto Innocenti. Worüber wir nicht sprachen sind Roberto Innocentis Illustrationen zu den Büchern "Das Medaillon", "Die drei Leben des Michele Sparacino" und "Der verführerische Teufel" von Andrea Camilleri. Auch diese Bücher sind in Deutschland erschienen.


    Carlo Collodi/Roberto Innocenti: Pinocchio
    Roberto Innocenti/M. Pressler: Rosa Weiss
    Roberto Innocenti/J.Patrick Lewis: Ein Haus erzählt
    E.T.A Hoffmann/Roberto Innocenti: Nußknacker und Mausekönig
    R.Innocenti/J. Patrick Lewis: Das Hotel zur Sehnsucht

    Alle Bücher sind im Verlag Sauerländer erschienen.

    Roberto Innocenti/ Aaron Frisch: Das Mädchen in Rot
    Ruth vander Zee/R. Innocenti: Erikas Geschichte

    Beide Bücher im Gerstenberg Verlag

    Andrea Camilleri/R. Innocenti: Die drei Leben des Michele Sparacino, List Verlag
    Andrea Camilleri/R. Innocenti: Das Medaillon, Kindler Verlag