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Migration, Flucht und Asyl

In der gegenwärtigen Flüchtlingssituation sprechen viele Politiker von der größten Herausforderung seit der deutschen Einheit, manche sogar von der schwierigsten Situation für Deutschland und Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Tatsächlich stellen sich tausend Fragen zu Asyl und Karl-Heinz Meier-Braun versucht in seinem Buch die 101 wichtigsten Fragen zu beantworten.

Von Peter Carstens |
    Eine junge Frau mit Kopftuch, die Klägerin, läuft am 24.09.2014 in Erfurt (Thüringen) am Behördenschild mit der Aufschrift "Bundesarbeitsgericht" vorbei.
    Manches Kapitel über Kopftuchverbot, Ausländerkriminalität und Integrationserfolge hätte allerdings etwas mehr Kritik und Skepsis berücksichtigen können. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Wussten Sie eigentlich, dass Goethe türkische Vorfahren hatte? Ein Urururgroßvater unseres Nationaldichters soll Sadok Selim gewesen sein. Der ehemals osmanische, also türkische Hauptmann soll als Gefangener des Deutschritterordens nach Schwaben gelangt sein. Dort heiratete er ein Mädchen namens Rebekka und integrierte sich prächtig. Vielleicht passt diese Geschichte über Goethes Migrationshintergrund zu schön ins Weltbild einer romantischen Willkommenskultur.
    Aber Karl-Heinz Meier-Braun hat sie dennoch gleich zu Anfang seines Buchs verwendet. Er will damit beschreiben, dass in unserem Land sehr viele eine Wanderungsgeschichte haben und Deutschland es schon an vielen Wegmarken seiner Vergangenheit mit Migration, Flucht und Asyl zu tun hatte:
    "16,5 Millionen Menschen haben hier einen Migrationshintergrund, was einem Bevölkerungsanteil von 20,5 Prozent entspricht. Würde man die deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland Schutz fanden, hinzurechnen, so würde sich dieser Anteil mehr als verdoppeln, und das Land bestünde zur Hälfte aus Migranten. Deutschland ist inzwischen zu einem der größten Einwanderungsländer der Welt geworden, was viele Fragen aufwirft"
    Schreibt Meier-Braun und macht sich dann die Mühe, einhundertundeine Frage zu beantworten. Herausgekommen ist dabei ein kleines, kluges Lexikon, das nicht nur über manche drängende Asylfrage der Gegenwart Auskunft gibt, sondern den Blick weitet. Denn der Autor erklärt in kurzen und übersichtlichen Beiträgen nicht bloß, was ein Bleiberecht ist, oder was das geheimnisvolle "Dublin-Verfahren" eigentlich bedeutet. Er zeichnet auch nach, wie Deutschland von einem Gastarbeiter-Gastgeber zum weltweit beliebtesten Asyl-Land wurde, und dass das sehr lange gedauert hat: So erinnert er daran, dass beispielsweise das bayerische Innenministerium in den Achtzigerjahren meinte,
    "dass durch den dauerhaften Verbleib von Ausländern massive Umweltschutzinteressen berührt würden. Der Ausschuss für Arbeitsmarktfragen der Bundesanstalt für Arbeit begründete seine Vorbehalte gegenüber dem Anstieg der Ausländerbeschäftigung ebenfalls damit, dass die Schaffung von Lebensraum für die hier verbleibenden ausländischen Arbeitnehmer bedeuten würde, den Lebensraum der übrigen in der Bundesrepublik lebenden Menschen zu begrenzen".
    Deutschland als beliebtestes Einwanderungsland
    Solche verbalen Anlehnungen ans Dritte Reich wirken heute befremdlich, aber angeblich hat immerhin auch Bundeskanzler Helmut Kohl noch 1982 überlegt, die Hälfte der hier lebenden Türken zurückzuschicken. Dazu kam es nicht, stattdessen gingen etwas 3,5 Millionen DDR-Übersiedler von Ost- nach Westdeutschland, hunderttausende Spätaussiedler und Russlanddeutsche kamen in den neunziger Jahren, dazu etwa eine halbe Millionen Asylbewerber und dann die Kriegsflüchtlinge der Balkankriege der neunziger Jahre.
    Wer an solche Umstände erinnert, relativiert die gegenwärtigen Probleme, mögen sie auch groß sein. Der Autor des Büchleins "Einwanderung und Asyl" will sie nicht verniedlichen, aber die Diskussion versachlichen. Seine 101 Fragen und Antworten hat er sortiert und unter Überschriften zusammengefasst wie "Statistik" oder "Geschichtliches" oder "Recht und Aufenthalt". Man kann die einzelnen Abschnitte je nachdem lesen, wie einem selbst eine Frage in der aktuellen Diskussion begegnet – etwa wenn man wissen will, was eigentlich das Wort "Frontex" bedeutet. Man kann sich aber auch rasch eine Fakten- und Hintergrundbasis schaffen, um bei der täglichen Zeitungslektüre den Durchblick zu behalten oder in Diskussionen über die aktuelle Lage zu bestehen – und wer führt sie gerade nicht. Wussten Sie schon, wie hoch das Taschengeld für Asylbewerber ist und wie viele Frauen in Deutschland ein Burka tragen?
    Die Wahrheit nicht gepachtet
    Manches Kapitel über Kopftuchverbot, Ausländerkriminalität und Integrationserfolge hätte allerdings etwas mehr Kritik und Skepsis berücksichtigen können. So redet der Autor die vergleichsweise hohe Zahl von ausländischen Tatverdächtigen in der Kriminalitätsstatistik klein, indem er hervorhebt, dass dabei ja auch Touristen und Angehörige von US-Streitkräften in Deutschland berücksichtigt würden. Das ist doch etwas zu gut gemeint. Dass Parallelgesellschaften entstanden seien, mancherorts auch Gettoisierung drohe, will der Autor so nicht hinnehmen. Es könne sein, schreibt er, dass Integration Zeit braucht. Aus der Einwanderungsgeschichte der Deutschen nach Amerika könne man.
    "ablesen, dass man zunächst einmal gerne unter Landsleuten bleibt, die einem Sicherheit geben und in der Fremde weiterhelfen. Deshalb sollten solche Siedlungsgebiete nicht gleich als Gettos abgetan werden. Sie können ein Sprungbrett in die Mehrheitsgesellschaft sein."
    Können, müssen aber nicht, wie inzwischen manche Viertel in deutschen Großstädten zeigen. So reizt Meier-Braun an einigen Stellen zum Widerspruch. Aber das ist ja kein Nachteil für ein zwar lexikalisch angelegtes Büchlein, das aber die Wahrheit nicht gepachtet haben will. Es bietet Antworten zu immerhin 101 Fragen und somit eine gute Grundlage für alle, die sich an den gegenwärtigen Diskussionen über Asyl, Islam und Integration beteiligen wollen.
    Karl-Heinz Meier-Braun. Die 101 wichtigsten Fragen. Einwanderung und Asyl. Verlag C.H.Beck, München, 160 Seiten, 10,95 Euro.