Ursula von der Leyen strebt eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin an. Und nachdem die Europäische Volkspartei (EVP) um CDU und CSU bei den EU-Parlamentswahlen mit Abstand stärkste Kraft geworden ist, stehen die Chancen für sie nicht schlecht.
Entschieden ist die Vergabe der EU-Spitzenposten aber noch nicht. Auch nicht nach einem informellen Treffen der EU-Staats-und Regierungschefs rund eine Woche nach der EU-Parlamentswahl. Bei dem sechsstündigen Treffen am 17. Juni 2024 wurden neue Ansprüche auf Posten erhoben, etwa auf den des EU-Ratspräsidenten. Daneben ist das Amt des europäischen Außenbeauftragten zu besetzen. Die Posten sollen ausgewogen verteilt werden: nach Parteizugehörigkeit, regionaler Herkunft und Geschlecht. Vor allem die hohen Wahlverluste der Liberalen und der Rechtsruck im EU-Parlament tragen aber dazu bei, dass heftig um die die Besetzung der Spitzenposten gerungen werden könnte.
Nun dürfte beim regulären EU-Gipfel am 27. und 28. Juni weiter um die Personalien gerungen werden. Vor endgültigen Beschlüssen muss das EU-Parlament über die Vorschläge abstimmen.
EU-Kommissionspräsidentin: Wird Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit vorgeschlagen?
Von der Leyen benötigt im Europäischen Rat – also dem Gremium der Staats- und Regierungschefs – eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 15 Ländern, die für 65 Prozent der europäischen Bevölkerung stehen. 13 Staats- und Regierungschefs gehören ihrer Parteienfamilie, der EVP, an. Sie werden mit großer Sicherheit für sie stimmen. Damit muss von der Leyen noch mindestens drei weitere Chefs von großen Mitgliedsstaaten von sich überzeugen.
Bundeskanzler Olaf Scholz von den Sozialdemokraten hat seine Zustimmung bereits anklingen lassen: Nach dem Sieg der Konservativen bei der Europawahl spreche "alles dafür", dass "es eine zweite Amtszeit geben kann von Ursula von der Leyen", sagte Scholz gegenüber dem Sender Welt TV. Er erwartete, dass die Frage auf EU-Ebene schnell entschieden werde.
Allerdings hänge die Unterstützung von der Leyens durch ihn und die Sozialdemokraten im EU-Parlament davon ab, dass die CDU-Politikerin nicht mit ultrarechten Parteien wie den italienischen Fratelli d'Italia von Regierungschefin Giorgia Meloni Allianzen schmiede.
Es sei wichtig, dass die künftige Kommissionspräsidentin sich im Europäischen Parlament auf die traditionellen demokratischen Parteien stützen könne. Konkret nannte Scholz dabei die Christdemokraten, die Sozialdemokraten und die Liberalen. Das könne nach dem Wahlergebnis in Europa funktionieren.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hält sich nach wie vor offen, ob er die Kandidatur von Ursula von der Leyen unterstützt. Allerdings gilt er seit der Wahlniederlage seiner liberalen Partei bei den EU-Parlamentswahlen als geschwächt. Ungarns Premier Viktor Orbán, den die „Süddeutsche Zeitung“ als „von der Leyens härtesten offenen Feind“ tituliert, kann die Nominierung nicht blockieren.
Verhandlungen mit extrem rechter Partei nicht ausgeschlossen
Die Zustimmung im Europäischen Rat ist von der Leyen also relativ sicher. Danach steht dann die offizielle Wahl im Europäischen Parlament an. Hier braucht sie eine absolute Mehrheit. Zwar ist die EVP-Fraktion um CDU und CSU mit 186 von 720 Sitzen die mit Abstand größte Fraktion. Aber auch hier ist von der Leyen auf Unterstützung anderer Parteienfamilien angewiesen.
Dabei möchte die CDU-Politikerin zuerst mit den Fraktionen der Sozialdemokraten und Liberalen (Renew) Gespräche führen. Aber auch Verhandlungen mit der extrem rechten Partei von Regierungschefin Giorgia Meloni hat von Leyen nicht ausgeschlossen. Denn es ist keinesfalls sicher, ob alle Abgeordneten der Sozialdemokraten und Liberalen (Renew) für die Amtsinhaberin stimmen werden. Von einem klaren Nein gegenüber ultrarechten Parteien machen aber vor allem die Sozialdemokraten ihre Unterstützung von der Leyens abhängig.
Warum erhob die EVP Anspruch auf das Amt des EU-Ratspräsidenten?
Bis zum informellen Treffen am 17. Juni galt: Der Posten des EU-Ratspräsidenten wird mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Sozialdemokraten besetzt werden. Denn sie sind die zweitstärkste Gruppe im Europaparlament.
Doch beim Sondergipfel formulierte die Europäische Volkspartei (EVP) nach eigener Aussage Anspruch auf den Posten, zumindest für einen Teil der Amtszeit. Begründet wurde das mit der gewachsenen Stärke der Christdemokraten und Konservativen bei der EU-Wahl. Weiteres Argument: Seit der letzten Postenvergabe 2019 sei die Zahl der Staats-und Regierungschefs, die der EVP angehören, gewachsen - auf 12 der 27 Mitglieder des Europäischen Rates. Die Sozialdemokraten lehnten den EVP-Vorschlag ab.
Zuvor galt der frühere portugiesische Regierungschef António Costa als aussichtsreichster Kandidat. Er war im November 2023 wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetreten. Die weist der 62-Jährige allerdings zurück.
Wer wird als neue europäische Außenbeauftragte ins Spiel gebracht?
Bei der Vergabe dieses Amts könnte es doch noch kompliziert werden. Normalerweise könnten die Liberalen als drittstärkste Kraft im EU-Parlament auf den Posten Anspruch erheben.
Gute Chancen hätte hier die estnische Regierungschefin Kaja Kallas. Auch, weil die Liberalen-Politikerin die einzige Osteuropäerin ist, die beim bisherigen Personalpaket für einen EU-Spitzenposten im Gespräch ist. Allerdings wollte Kallas auch Nato-Generalsekretärin werden und ihre sehr harte Anti-Russland-Rhetorik gilt nicht als unumstritten.
Hinzu kommt: Nach den hohen Wahlverlusten liegen die Liberalen fast gleichauf mit der rechtsnationalistischen EKR-Fraktion, die ordentlich zulegen konnte und von der Partei der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, der Fratelli d’Italia, dominiert wird.
Es wird also davon ausgegangen, dass Meloni einen wichtigen Posten für Italien anstreben wird: Vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs verwies die Regierungschefin auf den Rechtsruck bei der Europawahl. "Was mich interessiert, ist, dass Italiens Rolle anerkannt wird", sagte sie.
lkn