Krieg, Krisen und Katastrophen: Der Libanon hat in seiner Geschichte viel gesehen. Doch das, was am 4. August 2020 zwischen 18.00 und 18.07 Ortszeit passierte, übertraf alles, was sich die Bevölkerung je hätte vorstellen können.
Erst kam ein lauter Knall, dann eine weitere verheerende Explosion: 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, seit 2013 ungesichert im Hafen von Beirut gelagert, explodierten und machten Teile der Beiruter Innenstadt dem Erdboden gleich. Über 220 Menschen wurden getötet, Tausende verletzt und über 300.000 Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf.
Die Explosion gilt als eine der größten nicht-nuklearen Katastrophen der Zeit - sie war auch noch im 250 Kilometer entfernten Zypern zu spüren. Die Bilder der gigantischen pilzförmigen Wolke gingen um die Welt.
Ein durch Schweißarbeiten entstandenes Feuer in einer Hafenhalle, in der Feuerwerkskörper lagerten, soll zu einer Explosion geführt haben, die wiederum das daneben gelagerte Ammoniumnitrat zur Explosion brachte. Doch was wirklich am Hafen passierte und wer für sechs Jahre Lagerung von gefährlichem Ammoniumnitrat inmitten der Stadt und wer für die Katastrophe vom 4. August 2020 verantwortlich ist, ist bis heute nicht vollends aufgeklärt worden.
Wie ist es um die Aufklärung der Explosion bestellt?
Die Regierung war über die Lagerung des Ammoniumnitrats informiert. Sicherheitsexperten hatten den damaligen libanesischen Präsidenten Michel Aoun und den damaligen Ministerpräsidenten Hassan Diab noch im Juli darüber informiert, wie gefährlich dies ist und welch verheerende Folgen eine Explosion hätte. Mutmaßlich sollen auch weitere Politiker informiert gewesen sein. Trotzdem wurden die hochexplosiven Chemikalien nicht beseitigt.
Seit drei Jahren kämpfen nun Überlebende und Angehörige der Opfer mit Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen aus dem In- und Ausland für eine lückenlose Aufklärung des Falls und für Gerechtigkeit. Doch der Kampf ist nicht immer leicht, denn die herrschende politische Klasse hat es bis heute geschafft, sich der Verantwortung zu entziehen.
Politischer Druck und rechtliche Hürden haben die Ermittlungen zur Ursache der Explosion schon lange ins Stocken gebracht. „Die politische Elite mischt sich in die Ermittlungen ein und blockiert“, sagt Diana Menhem, Geschäftsführerin der libanesischen Organisation Kulluna Irada, die sich für politische Reformen im Land stark macht.
Eigentlich hatte die Politik damals angekündigt, innerhalb einer Woche aufklären zu wollen, wer für die Explosion verantwortlich ist. Als der erste Richter Fadi Sawan ranghohe Politiker wie den ehemaligen Ministerpräsidenten Hassan Diab vorladen wollte, wurde Sawan von der Politik abgesetzt und Richter Tarek Bitar wurde 2021 eingesetzt.
Gleich zu Beginn seiner Ermittlungen machte Richter Bitar keinen Hehl daraus, alle ungeschriebenen roten Linien der Politik im Libanon ignorieren zu wollen. Und daher gibt es jedes Mal, wenn Tarek Bitar hohe Politiker oder Beamte vorladen will, einen Sturm der Entrüstung, denn: Die Vorladeliste des Richters ist lang und liest sich wie ein Who-is-Who der Mächtigen des Landes. Die wiederum überziehen Bitar mit Rechtsbeschwerden und ihre Anhänger, allen voran die der schiitischen Hisbollah, gehen auf die Straße und verunglimpfen ihn.
Im Oktober 2021 löste die Debatte um seine Arbeit in Beirut sogar gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gegnern Bitars und seinen Anhängern aus. „Bitar wird deshalb so angegangen, weil er eben nicht davor zurückscheut, hochrangige Politiker vorzuladen und auch anzuklagen“, so Diana Menhem. Und das in einem Land, das eine lange Geschichte der Straflosigkeit vorzuweisen hat.
Generalstaatsanwalt Ghassan Oweidat ging Anfang 2023 sogar so weit, Richter Bitar eine Reisesperre aufzuerlegen.
Gerechtigkeit im Ausland
Der Fall liegt also, wie fast die ganze Zeit in den vergangenen drei Jahren, auf Eis. Deshalb suchen die Opferfamilien und Überlebenden der Explosion auch nach anderen Wegen, um Gerechtigkeit zu erlangen. Vor allem über internationale Kanäle, sagt Melhem.
Im Februar 2023 entschied ein britisches Gericht zugunsten von drei Familien, deren Angehörige Opfer der Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020 geworden waren.
Die Zivilklage richtete sich gegen Savaro Limited, ein Chemiehandelsunternehmen in Großbritannien, das Eigentümer der 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat war. „Das Urteil, das einen Schritt in Richtung Gerechtigkeit für einige Familien der Opfer darstellt, steht in krassem Gegensatz zu den innerstaatlichen Verfahren im Libanon, wo die strafrechtlichen Ermittlungen zu der Explosion durch zügellose politische Einmischung zum Stillstand gebracht wurden“, heißt es in einem Statement der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Die Schweizer Stiftung Accountability Now und einige Angehörige der Opfer haben zudem in Texas eine Klage gegen den US-amerikanisch-norwegischen Geophysikkonzern TGS eingereicht. Ihm gehört das Unternehmen, das das Schiff mit dem Ammoniumnitrat im Jahr 2012 gechartert haben soll. Außerdem setzen sich die Angehörigen, verschiedene libanesische, aber auch internationale Organisationen gemeinsam mit libanesischen Parlamentariern für eine internationale Untersuchungskommission ein.
Wie ist die wirtschaftliche Lage im Libanon?
Viele Libanesen haben sich schon lange vom Staat abgewendet. Denn bereits vor der Explosion steckte das kleine Land am Mittelmeer in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seiner Geschichte. Sie wird auf die jahrzehntelange Korruption und den Klientelismus in Politik und Wirtschaft zurückgeführt. Drei Viertel der mehr als sechs Millionen Menschen im Land leben nach Angaben der Vereinten Nationen und von Human Rights Watch mittlerweile in Armut.
Die Währung hat seit 2019 mehr als 90 Prozent ihres Werts verloren und die Preise sind explodiert. Früher war die libanesische Lira an den Dollar gekoppelt, viele Menschen haben noch Konten in Dollar, aber weil die Dollarreserven ausgehen, kommen sie nur sehr begrenzt an ihre Ersparnisse. Viele Menschen haben daher fast alles verloren, wofür sie gearbeitet haben. Auch betroffen sind die syrischen und palästinensischen Geflüchteten, die im Libanon leben.
Weil Länder wie der Libanon aber derzeit nicht im Fokus der Weltöffentlichkeit stünden, bekämen sie auch weniger finanzielle Hilfe, so Holger Wagner von der Johanniter-Auslandshilfe im Deutschlandfunk Kultur. „Die Camps brauchen eine solide Basis in Sachen Gesundheitsversorgung. Sie brauchen auch Wasser, Nahrung und Behausungen, um sicherzustellen, dass die Grundrechte der Menschen gewahrt werden. Und für Kinder ist ganz besonders wichtig, dass Schule stattfinden kann.“
Der wirtschaftliche Kollaps des Staates Libanon gehört nach Einschätzung der Weltbank zu den schlimmsten Finanzkrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie warnt außerdem davor, dass fast die Hälfte der krisengeschüttelten libanesischen Wirtschaft inzwischen auf Bargeld basiert, da das Vertrauen in die Banken gesunken ist, was das Geldwäsche-Risiko erhöht und die Hoffnungen auf eine Erholung zunichte macht.
Ohne die harten Dollars der ausgewanderten Libanesen wäre die Wirtschaft schon kollabiert. Mit der sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich drohe bereits die nächste Eskalation, glauben viele Libanesen.
Doch anstatt sich für Reformen zur Verbesserung der Lage im Land stark zu machen, hetzt ein Teil der politischen Elite gegen syrische Geflüchtete und macht sie für den wirtschaftlichen Kollaps des Landes verantwortlich.
Seit vielen Monaten leben Syrer im Libanon in Angst vor Abschiebungen. Libanesische Behörden haben in den letzten Jahren regelmäßig Syrer abgeschoben – unter Berufung darauf, dass Syrer, die nach April 2019 ohne legale Genehmigung eingereist sind, zwangsweise zurückgeführt werden können. Vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise im Libanon gehen libanesische Behörden härter denn je gegen syrische Geflüchtete vor.
Beschwerlicher Alltag im Libanon
Die massive Wirtschaftskrise prägt den Alltag im Libanon – es gibt nur wenige Stunden am Tag Strom. Die Menschen müssen sich für viel Geld Strom von Firmen kaufen, die Generatoren zur Verfügung stellen. Sauberes Wasser ist Mangelware und auch Medikamente fehlen in vielen Apotheken. Der Libanon ist zudem auch auf den Import von Weizen angewiesen, auch aus der Ukraine. Dass Russland das Getreideabkommen mit der Ukraine aufgekündigt hat, könnte große Auswirkungen auf die Versorgung im Land haben.
Diese ganzen Unsicherheiten führen dazu, dass unzählige Menschen auswandern – teilweise mit fatalen Folgen für das Land. Im Jahr 2021 schätzte die Weltgesundheitsorganisation, dass fast 40 Prozent der libanesischen Ärzte ausgewandert waren, und 2022 berichteten libanesische Ärzteverbände, dass fast ein Drittel der verbleibenden Ärzte eine Auswanderung planen.
Die Bevölkerung macht die korrupte politische Elite für die Lage verantwortlich. Und seit dem planmäßigen Ende der Amtszeit von Präsident Michel Aoun Ende Oktober 2022 ist der Libanon ohne Staatsoberhaupt. Die geschäftsführende Regierung ist nur eingeschränkt handlungsfähig.
Diana Hodali