"Los, mach ein Bild von mir!" Die Kinder sind immer als erste da. Sie rennen mir barfuß entgegen, kreisen mich ein, versuchen, das Mikrofon anzufassen. Das Schlimmste aber ist: Sie lachen - mitten im Flüchtlingslager! Sie strahlen mich geradezu an mit ihren verdreckten, ausgezehrten Kriegskinder-Gesichtern, aus denen sich nicht ablesen lässt, ob sie acht Jahre alt sind oder 13 und was sie alles mitgemacht haben. "How are you?" Ich mache dann gelegentlich ein paar Aufnahmen, damit sich die Kinder etwas beruhigen. Das Lachen scheint nicht zu den düsteren Krisenberichten zu passen. Es ist zu hell. Und doch ist es da, immer wieder. Es zeugt von Widerstandskraft in Zeiten des Krieges, von unbändigem Lebenswillen, der nicht bereit ist, sich der Trostlosigkeit des Lagerlebens zu beugen.
Irgendwann kommen immer ein paar ältere Männer und scheuchen die Kinder davon.
"Syriens Kinder sind unbeschreiblichem Horror ausgesetzt. Sie werden von den Kriegsparteien verschleppt, gefoltert, missbraucht, getötet."
So stand es in einem der letzten Berichte der Vereinten Nationen über den Krieg. Mindestens 100.000 Syrer seien bislang ums Leben gekommen. Das war Anfang Januar. Ende Januar haben die Vereinten Nationen aufgehört, Statistiken zu führen. Die Lage im Kriegsgebiet sei so unüberschaubar geworden, hieß es, dass es keine verlässlichen Daten mehr gebe. Die Opferzahlen werden jetzt nur noch geschätzt: auf 120.000 Tote und neun Millionen Flüchtlinge.
"Wollt ihr Tee", fragt Mohammed. Man muss sich bücken, um in seine Behausung zu kriechen. Wie will er hier Tee zubereiten? Es ist eng und zugig in diesem Unterschlupf aus Plastikplanen und Brettern. Die Familie sitzt mir im Halbdunkel gegenüber: rechts Mohammed, links seine Frau und die sechs Kinder. Vergangene Nacht hat es wieder gefroren, der Boden, auf dem die Flüchtlinge schliefen, war hart wie Stein. Jetzt weicht er auf und verwandelt sich langsam in schwarzbraune Matsche. Kalte Windböen fahren in die Ritzen der Zeltplanen, blähen sie auf. Für ein paar Sekunden fällt Tageslicht herein. "Es wäre besser, wir wären tot", sagt Mohammed. "Dann müssten wir dieses Leben hier nicht mehr ertragen." In der Ecke liegt etwas Brennholz. Aber das ist für die kommende Nacht, wenn die Eiseskälte wieder in die Bekaa-Ebene einfällt. Diese Familie hat nichts mehr von dem, was man üblicherweise "Besitz" nennt: Stuhl oder Tisch, Wäsche, Geschirr. Der Bürgerkrieg raubte ihnen noch die gewöhnlichsten Dinge. Mehr als sechseinhalb Millionen Syrer ziehen als Vertriebene durch ihr verwüstetes Land, zweieinhalb Millionen Flüchtlinge hat es in die Nachbarstaaten verschlagen. Zwei UN-Sondervermittler wurden in den vergangenen drei Jahren verbraucht, zwei Friedenskonferenzen organisiert. Aber niemand scheint diesen Krieg beenden zu können. Niemand scheint ihn beenden zu wollen.
Assad ist keineswegs isoliert
Das Flüchtlingslager in der Bekaa, einer kargen Hochebene, liegt nur drei Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, am Rand der zweispurigen Schnellstraße. Unter normalen Umständen fährt man von hier aus in einer Stunde nach Damaskus, in zwei Stunden nach Aleppo. Aber in Syrien hat das vierte Kriegsjahr begonnen und das Regime ist weit davon entfernt vor den Aufständischen zu kapitulieren. Im ganzen Land sind die Truppen des syrischen Machthabers in die Offensive gegangen. Sie haben mithilfe Irans und der libanesischen Hisbollah-Miliz wichtige Geländegewinne gemacht. Assad ist keineswegs isoliert. Unbehindert fließt der Verkehr vom Libanon über die syrische Grenze. Jeden Tag winden sich Lastwagenkonvois von der Mittelmeerküste aus über die Berge, kurven in Serpentinen hinab in die Bekaa-Ebene, um auf der anderen Seite die Gebirgskette des Antilibanon zu überqueren. Das Assad-Regime wird von hier aus mit Waren, Waffen und auch mit Kämpfern versorgt.
"Ich sage unseren Feinden: Wenn ihr 100 gegen uns in die Schlacht schickt, schicken wir 200 nach Syrien. Wenn ihr 1000 schickt, schicken wir 2000. Und wenn ihr 5000 schickt, dann werden wir 10.000 in den Kampf gegen euch schicken."
Scheich Hassan Nasrallah, der Führer der libanesischen Hisbollah - der Partei Gottes. Bei seinen Auftritten erklärt er ein ums andere Mal, es sei die Pflicht der Schiiten, gemeinsam mit Assad einen Heiligen Krieg gegen die radikalen Sunniten zu führen. Für Assad ist die Allianz mit Nasrallah ein Zweckbündnis. Zwar gehört der syrische Diktator der schiitisch beeinflussten Minderheit der Alawiten an. Doch das Bündnis mit der Hisbollah hat nichts mit religiöser Verwandtschaft zu tun. Nasrallah ist ein schiitischer Ideologe, Assad ein säkularer Diktator. Das Einzige, was die beiden auf Gedeih und Verderb aneinanderbindet, ist gegenseitige Abhängigkeit. Seit Jahrzehnten garantiert Syrien den ungestörten Transit iranischer Waffen in die Hochburgen der Hisbollah. Damit sichert die Schiitenmiliz im fragilen Libanon ihre dominierende Stellung. Fällt Assad, ist auch die Hisbollah bedroht.
Die Hisbollah hat einen eigenen Kanal im libanesischen Fernsehen, auf dem sie in Endlosschleifen ihre Kriegs- und Heldengesänge verbreitet. Fünf, vielleicht 6000 Hisbollah-Milizionäre kämpfen derzeit in Syrien, in Damaskus, in Homs, in den Kalamun-Bergen. Syriens Machthaber, sagt der libanesische Politikwissenschaftler Rami Khouri, könnte sich gar keinen besseren Verbündeten wünschen:
"Die Hisbollah ist die erfolgreichste und einflussreichste Bewegung in der ganzen arabischen Welt. Es gibt hier nichts, das sich mit ihr vergleichen ließe. In der ganzen arabischen Welt gibt es keine Bewegung, die so stark ist wie sie. Die Hisbollah ist diszipliniert, sie denkt strategisch, sie hat durch ihre Kriege mit Israel enorme militärische Erfahrung gesammelt. Keine arabische Armee war im Kampf je so erfolgreich wie sie. Ihre Schlagkraft ist gewaltig. Mit diesem Gegner haben es nun die Aufständischen in Syrien zu tun. Und die Hisbollah wird weiterhin in Syrien kämpfen."
"Wir führen in Syrien einen Volkskrieg"
Der Weg ins Hisbollah-Gebiet führt durch die Bekaa-Ebene nach Norden. Es geht durch flaches Hochland, vorbei an brachliegenden Feldern. Links und rechts erheben sich verwitterte Hügel und dahinter die Gipfel des Libanon und des Antilibanon. Schneebedeckt liegen sich die Gebirgszüge gegenüber. Überall in dieser Gegend sind Checkpoints, Straßensperren, Bewaffnete, die den Verkehr kontrollieren.
Die Stadt Hermel am nördlichen Ende der Ebene ist eine Hochburg der Schiitenmiliz. Sie liegt nur ein paar Kilometer von den syrischen Kalamun-Bergen entfernt, in denen auch sunnitische Rebellen ihre Vorposten haben. Das hier ist kein Grenzgebiet mehr. Es ist eine Front des syrischen Bürgerkrieges. Und Hermel ist eine Frontstadt. Das letzte Mal wurden wir heute Morgen beschossen, sagen Einwohner. Sechsmal schlugen Raketen hier ein. Mitten auf der Hauptstraße. Gott sei Dank waren nur wenige Leute unterwegs. Es hat nur vier Verletzte gegeben. Immer wieder wird das libanesische Hermel von Syrien aus unter Beschuss genommen, immer wieder gibt es auch Tote. Die sunnitischen Rebellen rächen sich auf diese Weise dafür, dass sich die Hisbollah an der Seite Assads in den Bürgerkrieg eingemischt hat. Schiitische Geistliche wie Scheich Hassan Mathloum würden freilich nie von Einmischung reden:
"Wir führen in Syrien einen Volkskrieg. Der Aufstand gegen Dr. Baschar al-Assad ist ja auch ein Krieg gegen uns Schiiten. Die sunnitischen Rebellen liefern den Beweis dafür. Sie sagen: Wenn wir Assad besiegt haben, nehmen wir uns die Schiiten im Libanon vor. Sie greifen uns jetzt schon an, das habt ihr ja gesehen. Ich habe einen Sohn, der bei der Hisbollah kämpft. Er war auch schon in Syrien. Ich werde ihn nicht daran hindern, zurückzugehen. Ich bin zwar sein Vater und sorge mich um ihn. Aber natürlich lasse ich ihn in den Dschihad ziehen. Unser Dschihad ist der wahre Dschihad."
Der syrische Bürgerkrieg hat den alten, fast schon vergessen geglaubten Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten neu entfacht, den Hass, die Rivalität: Hisbollah gegen Al-Kaida-Milizionäre, schiitische gegen sunnitische Extremisten. Dieser innerhalb des Islams geführte Dschihad hat schon viele junge Frauen zu Witwen gemacht. Frauen wie Fatima, die mit ihrer Schwester und ihrer Mutter ein Haus am Stadtrand bewohnt. Sie trägt ein sechs Monate altes Kind am Körper und ein Medaillon mit einem Foto, das sie unter ihrem schwarzen Schleier hervorkramt, um es zu küssen. Das ist Ahmed, sagt sie, mein Mann. Ahmed ist bei Straßenkämpfen in Damaskus gefallen:
"Alle haben ihn geliebt. Er war ein guter Mensch. Sanft, einfühlsam, geduldig und gut zu Kindern. Wie soll ich hinnehmen, dass er nicht mehr bei mir ist?"
Syrischer Bürgerkrieg hat längst die Nachbarstaaten erfasst
Ein Hisbollah-Funktionär brachte mich in Fatimas Haus. Nun sitzt er schweigend in einer Ecke und kontrolliert das Gespräch mit den Augen. Ahmed sei ein guter Vater gewesen, sagt Fatima wieder und auch ein tüchtiger Automechaniker, der seine Familie versorgte. Mit einem Mal weiß sie nicht weiter und ringt mit den Händen um Fassung. Dann fängt sie sich wieder. Sie sei stolz auf seinen Märtyrertod, muss sie jetzt sagen. Sie sagt es. Der Hisbollah-Funktionär scheint zufrieden zu sein. Fatima:
"Als die Leute von der Hisbollah kamen und sagten, dein Mann ist in Syrien, im Heiligen Krieg gefallen, war ich erst verzweifelt. Ich konnte das nicht akzeptieren. Aber als sie ihn da brachten, als ich ihn dann noch mal sehen konnte, da ging es mir wieder besser. Ich wusste ja, er hat uns nicht verlassen."
Es ist, als fräße sich der syrische Bürgerkrieg von den Rändern her mit bösartiger Zähigkeit in den Libanon. Während immer mehr Flüchtlinge in die Bekaa-Ebene ziehen, schickt die Hisbollah immer mehr Kämpfer nach Syrien, was wiederum Angriffe der Aufständischen auf den Libanon provoziert.
Der syrische Bürgerkrieg hat längst die Nachbarstaaten erfasst und in tiefe Krisen gestürzt: Irak, Libanon, Jordanien, Türkei. Überall in den grenznahen Regionen lagern Hunderttausende syrische Flüchtlinge ohne Aussicht auf baldige Rückkehr. Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, spricht inzwischen von der größten humanitären Katastrophe seit dem Völkermord in Ruanda. Dr. Kamal Mohanna von der Hilfsorganisation Amel sieht das genauso. Seine Aufgabe besteht darin, die Flüchtlingshilfe für sämtliche Nichtregierungsorganisationen im Libanon zu koordinieren. Er scheitert daran. Er muss daran scheitern, denn diese Aufgabe ist für niemanden lösbar. Dr. Kamal hat hinter seinem riesigen, überladenen Schreibtisch längst den Überblick über die Lage verloren.
Der Mann wirkt entnervt und erschöpft. Zu viele Anrufe, auch zu viele Besucher, die Zahlen und Fakten von ihm verlangen. Dr. Kamal reißt sich zusammen:
"Wir haben zurzeit etwa eineinhalb Millionen Flüchtlinge im Libanon. Das ist so, als müsste Deutschland oder Frankreich 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Frankreich stürzt schon in die Krise, wenn 10.000 Roma aus Rumänien ins Land kommen. Die werden dann ausgewiesen. Die internationale Gemeinschaft tut nicht, was sie tun müsste. Wir brauchen unbedingt mehr Unterstützung. Wir sind völlig überfordert."
Dr. Kamal Mohanna kritzelt auf einem kleinen Zettel herum. Er scheint mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Auf lokaler Ebene islamistische Pionierarbeit leisten
Es gibt kein Zurück mehr. Und mit jedem Monat, der vergeht, drängen mehr Flüchtlinge über die Grenzen. Gewalt und Terror sind nach drei Jahren allgewärtig. In den größeren syrischen Städten liefern sich Rebellen und Regierungstruppen einen verlustreichen Abnutzungskrieg. Im syrischen Norden hingegen herrscht islamistische Anarchie. Die sogenannte Isis-Miliz hatte im Sommer 2013 der gemäßigten Freien Syrischen Armee die Kontrolle über das Rebellengebiet rund um Aleppo entrissen. Die kampferfahrenen Milizionäre kamen aus dem Irak und gaben sich anfangs noch als Wohltäter aus. Dann holten sie ihre Waffen hervor und setzten in nordsyrischen Dörfern und Städten sogenannte Emire ein. Die sollen nun auf lokaler Ebene islamistische Pionierarbeit leisten, um später einmal im Irak, in Syrien und im Libanon ein grenzübergreifendes sunnitisches Kalifat auszurufen. Das ist die große Vision der Radikalen. Assad oder die Dschihadisten.
Weil das heute die einzige Alternative zu sein scheint, hat der Westen längst Abschied von allen Plänen genommen, die das Regime in Damaskus unter Druck setzen könnten: militärische Schutzzonen, Flugverbotszonen. Die Risiken, heißt es, seien nicht kalkulierbar. Lieber verweist man im Westen auf die Diplomatie. Zwei Friedenskonferenzen hat es nun schon gegeben: Genf 1 und Genf 2. Sie haben nicht das Geringste bewirkt. "Waffenstillstand, wir brauchen einen Waffenstillstand. Sofort", sagt der syrische Arzt Dr. Ammar Zacharia. Er arbeitet ein einem Kriegslazarett in Aleppo und besucht gelegentlich seine Familie, die als Flüchtlinge jenseits der syrischen Grenze in Sicherheit sind:
"Die Menschen in Syrien sterben. Beide Seiten müssen sich zu einem Waffenstillstand verpflichten. Die Leute krepieren. Ich bitte jeden darum - sogar Baschar al-Assad. Wir haben inzwischen ein Heer von Kriegskrüppeln, von Behinderten, die durch Syrien ziehen. Niemand hilft. Wir sehen nur hilflose Diplomatie. Es muss endlich aufhören."
Die Politikwissenschaftlerin Barbara Walters, Professorin an der University of California in San Diego, hat sich intensiv mit der zerstörerischen Dynamik von Bürgerkriegen beschäftigt. Es interessierte sie weniger, wie sie begannen. Sie wollte wissen, wie sie zu Ende gehen. In den vergangenen 70 Jahren, so Walters, endeten 40 Prozent der Bürgerkriege mit dem militärischen Sieg der Regierungsarmee, 35 Prozent mit dem der Rebellen. Nur 15 % wurden durch Verhandlungen beigelegt. Das funktionierte aber nur, wenn eine dritte Partei dazu bereit war, den ausgehandelten Waffenstillstand zu garantieren. Wer wäre dazu in Syrien bereit? Die UNO, die NATO, die USA, Europa, Deutschland? Niemand, sagt der libanesische Politikwissenschaftler Rami Khouri:
"Diese Region bedeutet dem Westen nicht viel. Er lässt die Syrer eben sterben. Ja, doch. Es ist eine Tragödie. Aber so etwas passiert leider. Ob Syrien auseinanderfällt oder nicht, ist da nicht so entscheidend. Hauptsache, Israels Sicherheit ist garantiert und das Öl fließt. Das ist unsere Schlussfolgerung."
Bislang haben es nur 45.000 syrische Flüchtlinge bis nach Europa geschafft. Die restlichen 2.450.000 bleiben Jordanien, Libanon und der Türkei überlassen.