Jeden Abend kommt es in Beirut zu Spontan-Protesten: Zu Hunderten ziehen Menschen durch Straßen. Einige schlagen mit Löffeln auf Tassen und Töpfe. Andere stürmen einen Yachthafen. Wieder andere besetzen ein Hotel, von dem sie wissen, dass es einem reichen Politiker gehört. Dazu skandieren sie immer "Thawra"; "Revolution"…
Eine Revolution wäre es tatsächlich, wenn die Protestierenden ihr Ziel erreichten: Sie fordern ein Ende der Korruption und wollen, dass die gesamte Landesführung abdankt. Kabinettschef Saad el-Hariri ist den ersten Schritt gegangen und hat formal seinen Rücktritt eingereicht. Aber die Protestierenden wollen mehr: Sie wollen, dass auch der Staatspräsident und die Abgeordneten gehen – sowie der Parlamentspräsident: Nabih Berri. Berri ist - mehr oder weniger - seit 30 Jahren im Amt und gilt als besonders korrupt; immer wieder beschimpfen ihn die Demonstranten als "Dieb"…
Kampf gegen Korruption
Die grünen Flaggen der Amal-Bewegung wehen entlang der Straße, die nach Tibnien führt. Das verschlafene Städtchen liegt im Südlibanon, in den Hügeln unweit der Grenze zu Israel. Tibnien ist eine Hochburg der Amal-Bewegung; und der Heimatort von Nabih Berri. Dass Demonstranten Berri in Beirut als Dieb beschimpfen, findet Mohammed Idur, Mitglied der Gemeindeverwaltung von Tibnien, falsch!
"Wir sind dagegen, dass Parlamentspräsident Berri so beleidigt wird. Das ist inakzeptabel. Für uns ist Berri eine Art Sicherheitsventil – für dieses Land und die ganze Region."
Abdel Amir Wazn, ebenfalls Mitglied im Gemeinderat von Tibnien, gibt zu, dass es im Libanon Korruption gibt. Und die Forderung nach dem Kampf gegen die Korruption sei auch berechtigt.
"Sogar die Regierung und die Herrschenden sagen, dass es Korruption gibt. Und dass sie jetzt in Projekten dagegen vorgehen wollen. Aber das braucht Zeit. Das kann man nicht innerhalb von 24 Stunden erledigen."
Die Menschen in Tibinien wüssten das – so der Mann weiter. Deshalb habe es hier nur einmal eine Demonstration gegen Libanons Führung und damit auch gegen Berri gegeben. Einmal! Das war am ersten Tag der landesweiten Proteste, Ende Oktober. Danach sei es in Tibinien ruhig geblieben…
"Hier in Tibnien gibt’s nichts. Alles ist ganz normal, alles ist gut! Wir sind hier in einer Region des Widerstandes. Des Widerstandes in jeder Hinsicht."
Iranische Front gegen Israel
"Widerstand" – damit sind im Libanon die Gruppen gemeint, die sich als Frontkraft gegen Israel sehen; Gruppen, die dabei Partner des Iran sind, wie Nabih Berris Amal-Bewegung und auch die Hisbollah. Proteste gegen diese beiden Gruppen oder gar ein Sturz der gesamten libanesischen Führung könnten die "Achse des Widerstandes" schwächen - sagen Kommentatoren. Straßenumfragen dazu oder überhaupt zu den Protesten im Libanon an die Bevölkerung von Tibnien? – Dazu sagen die örtlichen Mitarbeiter des Geheimdienstes "nein"; sagen, dafür sei eine besondere Genehmigung nötig.
Anders ist es in Nabatiyye, im Südlibanon, wo vor allem Schiiten wohnen. Die Schiiten machen den größten Teil der Anhängerschaft von Hisbollah und Amal-Bewegung aus – und doch kommt es auch in Nabatiyye zu Demonstrationen. Hazm ist jeden Tag dabei…
"Es geht nicht um den Sturz der Herrschenden. Wir wollen unsere Rechte: Strom, Wasser, Gesundheitsfürsorge. Und weniger Arbeitslosigkeit. Und wir wollen, dass die Verantwortlichen die veruntreuten Staatsgelder zurückzahlen. Wir fordern das von den Politikern nicht vom Widerstand."
Dass auch die Hisbollah und die Amal-Bewegung Teil der politischen Macht im Libanon sind, wischt Hazm beiseite.
"Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Widerstand und der korrupten Macht."
Kompliziertes Machtgefüge
Im Südlibanon, dort wo die Hisbollah und die Amal-Bewegung besonders stark sind, teilen viele Demonstranten Hazms Position. Und die ist anders als die der Protestierenden in Beirut, wo das Gros auch einen Systemwechsel will. Im Libanon gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Deren politische Führungen teilen sich nach einem strengen Proporzsystem die Macht; keiner soll zu kurz kommen. So muss der Staatspräsident ein maronitischer Christ sein, der Regierungschef ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Und jede dieser Führungen bevorzugt ihre Klientel, was zur jetzt beklagten Korruption und Vetternwirtschaft geführt hat: Schiiten helfen Schiiten; Sunniten Sunniten; Maroniten stehen zu Maroniten – auch an der Wahlurne. Anders als viele Demonstranten im Südlibanon wollen Protestierende in Beirut dieses System ändern. Das heißt, dass das Protestlager im Libanon gespalten ist: In jene, die meinen das System komplett verändern zu können, und in jene, die gegen Korruption sind, aber an politisch-religiöse Patronage glauben. Und trotzdem sei der "Widerstand", seien die Hisbollah und Nabih Berris Amal-Bewegung unter Druck – meint Hilal Khashan, Politikwissenschaftler an der renommierten Amerikanischen Universität Beirut.
"Die Hisbollah hat große Sorge wegen der Protestbewegung. Neben anderen Orten hat es auch den Süden getroffen. Nabatiyye zum Beispiel. Die Hisbollah sorgt sich, weil immer mehr Schiiten in der Protestbewegung sind, und viele von ihnen sagen 'wir lieben (Hisbollah Generalsekretär) Hassan Nasrallah, und wir lieben den Widerstand, aber wir sind arm und gebrochen, und wir wollen, dass er etwas für uns macht.' Ja, die Hisbollah hat Sorge wegen der Protestbewegung. Aber die Hisbollah und die Amal-Bewegung haben die Protestierenden beim Aufstand in die Mangel genommen."
So fuhren an einem Abend Hisbollah- und Amal-Anhänger am Rande von Beirut groß auf - mit Motorrollern, eine Drohgebärde.
Hisbollah und Amal unter Druck
An einem anderen Tag brannten sie in Beirut ein Protestcamp nieder. Sollten die Hisbollah, die Amal-Bewegung oder andere Gruppierungen ihre Machtpositionen im Libanon allerdings bedroht sehen, könnten sie massiv auftreten. Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah, der ähnlich wie Parlamentspräsident Nabih Berri von Protestlern in Beirut beschimpft wurde, äußerte sich mittlerweile in mehreren Fernsehansprachen. Auch mit einer Warnung.
"Die Hisbollah kann auch leicht die Demonstrations-Karte spielen (und auf die Straße gehen). Wir hoffen, dass wir sie nie ziehen müssen, denn wenn die Zeit dafür käme, würdet Ihr uns alle auf der Straße sehen, uns überall finden. In voller Stärke."
Solche Worte - und andere Drohgebärden - schrecken die Protestierenden in Beirut wenig. Auf markige Worte reagieren sie mit Trotz. So forderte der Staatspräsident, Michel Aoun sie gerade erst dazu auf, die Demonstrationen einzustellen. Weil sie mit ihren Aktionen dem Libanon schadeten. Aouns Auftritt war für viele Menschen in Beirut eine Provokation; auch weil er als Verbündeter von Hisbollah und Amal-Bewegung gilt. Die Demonstrierenden errichteten neue Barrikaden und weiteten ihre Proteste noch einmal weiter aus. In vielen Straßen und auf verschiedenen Plätzen Beiruts wurde der Ruf nach Revolution nur noch lauter…