Libanon
Dauerblockade mit fatalen Folgen

Im zweiten Jahr nach der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut steckt der Libanon in der schlimmsten Krise seiner Geschichte. Wer sind die Akteure im Land und warum scheint Veränderung beinahe unmöglich?

Von Felix Wellisch | 15.12.2021
    Proteste in Libanon
    Demonstranten protestieren gegen die Wirtschaft- und Versorgungskrise des Landes (picture alliance/dpa)
    Es knirscht in allen Bereichen: Die Wirtschafts-, Finanz- und Versorgungskrisen haben dazu geführt, dass vier von fünf Libanesen unter die Armutsgrenze gerutscht sind. Selbst in Krankenhäusern fiel zwischenzeitlich der Strom aus, weil kein Treibstoff für die Generatoren mehr vorhanden war. Viele junge und gebildete Menschen sind längst ausgewandert. 
    Die Corona-Pandemie verschärft die Lage weiter. Die politische Führung und die Institutionen aber reagieren nicht und scheinen das Land lieber zu einem "Failed State" werden zu lassen, anstatt von ihren festgefahrenen Positionen abzurücken. Warum fällt im Libanon der Wandel so schwer und wer ist dafür verantwortlich?


    Die Regierung

    Erst seit September hat der Libanon nach mehr als einem Jahr ohne politische Führung wieder eine Regierung. Reformen und eine Abkehr von der Klientelpolitik ist von Ministerpräsident Nadschib Mikati jedoch kaum zu erwarten: Der Milliardär gehört der politischen Elite des Landes an und war bereits zweimal Regierungschef (2005 und 2011). 
    Nadschib Mikati
    Nadschib Mikati - schon mehrfach Regierungschef (AFP)
    Das Land ist gut 30 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs (1975 - 1990) tief gespalten. Die Politik wird von den immer gleichen Familien und Persönlichkeiten dominiert und ein striktes Proporzsystem zementiert die bestehenden Verhältnisse. Demnach muss der Staatspräsident des Landes immer ein maronitischer Christ, der Regierungschef sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident schiitischer Muslim sein. Diese Regelung hat vor Jahrzehnten zwar ein Ende der Gewalt zwischen den religiösen Milizen im Libanon ermöglicht. Heute aber führt sie oft dazu, dass politische Reformen scheitern und Funktionsträger vor allem die Interessen ihrer jeweiligen Klientel im Auge haben.
    Darin liegt laut dem Nahost-Experten Michael Lüders das größte innenpolitische Problem des Landes: "Wir haben es hier mit einem Feudalstaat zu tun, in dem verschiedene religiöse und ethnische Anführer einander gegenüberstehen, sich die Butter auf dem Brot gegenseitig nicht gönnen und in der Regel nicht wirklich willens und bereit sind, Kompromisse zu schließen."
    Interview mit dem Nahost-Experten Michael Lüders ein Jahr nach der Explosion von Beirut (4.8.2021)
    Auch die neue Regierung droht bereits wieder zu scheitern. Offenbar sorgt die Aufarbeitung der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 für Streit. Damals waren fast 3.000 Tonnen unsachgemäß gelagertes Ammoniumnitrat explodiert, wobei rund 220 Menschen getötet und etwa 300.000 obdachlos wurden. Zerbricht das Bündnis, würde dem Land erneut eine langwierige Führungskrise drohen: Vor Mikati waren bereits zwei Politiker an der Aufgabe gescheitert, eine stabile Regierung zu bilden. 
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Die Hintergründe der Explosion im Hafen von Beirut sind noch nicht aufgearbeitet (imago images / Hans Lucas)
    Die Folgen wären fatal, schätzt der Finanzexperte der libanesischen Byblos-Bank, Nassib Ghobril: "Wir brauchen eine Regierung, die lokal und international glaubwürdig ist, die einen umfassenden Reformplan für die Wirtschaft und für öffentliche Kassen entwirft." Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds stehen bereit, sie sollen aber nur ausgegeben werden, wenn das Land politische Reformen einleitet. Auch Deutschland will Hilfen in Höhe von mehreren Hundert Millionen Euro beisteuern. In Berlin fürchtet man jedoch, dass das Geld ohne grundlegende Veränderungen in den Taschen korrupter Politiker verschwindet. Im Frühjahr 2022 sollen die Libanesen ein neues Parlament wählen.

    Die Hisbollah

    Die Hisbollah ist der wichtigste politische Akteur im Libanon und wird mitunter auch als "Staat im Staate" beschrieben. Ihr Anführer Hassan Nasrallah bezifferte die Zahl der bewaffneten Kämpfer der Bewegung in einer Ansprache im Oktober auf 100.000. Die libanesische Armee verfügt über lediglich 85.000 Soldaten. Die 1982 mit Unterstützung des Iran entstandene Bewegung gliedert sich in einen politischen und einen bewaffneten militärischen Flügel. Sie genießt vor allem unter der schiitischen Bevölkerung in Beirut und im Südlibanon Rückhalt, auch wegen ihres Netzes an sozialen Einrichtungen. Die Bewegung hat enge Verbindungen zum Iran und gilt Kritikern als verlängerter Arm Teherans. Laut dem American Jewish Committee erhielt die Hisbollah im Jahr 2017 rund 700 Millionen US-Dollar aus dem Iran. 
    Pro-iranische Hisbollah-Kämpfer halten während des Trauerzuges von fünf ihrer Kollegen, die bei Zusammenstößen mit der türkischen Armee in der syrischen Provinz Idlib getötet wurden, Fahnen in der Hand.
    Hisbollah-Kämpfer im Libanon - bis zu 100.000 Kämpfer (picture alliance / Marwan Naamani)
    Rami Churi von der Amerikanischen Universität in Beirut sieht die Gruppe als eine der erfolgreichsten Bewegungen in der arabischen Welt: "Es ist der Hisbollah gelungen, aus den Schiiten, die im Libanon früher immer nur ausgenutzt und diskriminiert wurden, die stärkste Kraft des Landes zu machen. Die Hisbollah ist diszipliniert, sie denkt strategisch, sie ist effizient. Keine arabische Armee war in den Kriegen gegen Israel so schlagkräftig wie die Hisbollah." Die Miliz verfügt zudem über einen Vorrat von schätzungsweise 100.000 Raketen. 
    100.000 Kämpfer unter Waffen - Hisbollah droht Gegnern im Libanon
    Viele Libanesen sehen die Hisbollah jedoch kritisch, auch wegen ihres Engagements im Syrienkrieg. Zudem verlor die Bewegung viel Ansehen wegen des Attentats auf den damaligen Regierungschef Rafik Hariri im Jahr 2005, das sie zusammen mit dem syrischen Geheimdienst verübt haben soll. Dass Nasrallah in seiner Ansprache vor einem neuen Bürgerkrieg gewarnt hat, ist Churi zufolge auch als Ansage an die übrigen Fraktionen im Libanon zu verstehen, die Vormachtstellung der Hisbollah anzuerkennen.

    Die Forces Libanaises

    Grund für die Ansprache Nasrallahs waren tödliche Feuergefechte zwischen Kämpfern von christlichen und muslimischen Milizen in Beirut am 14. Oktober - ein Ereignis, das schmerzhafte Erinnerungen an den Bürgerkrieg wachrief. Grund für die Auseinandersetzung war auch hier die Aufarbeitung der Explosion im vergangenen Jahr: Hunderte Anhänger der Hisbollah und der ebenfalls schiitischen Amal-Bewegung protestierten gegen einen christlichen Richter, weil bei den Ermittlungen auch Spuren verfolgt wurden, die zur Hisbollah führen könnten. Die Demonstranten wurden aus dem nahe gelegenen christlichen Viertel Remane unter Feuer genommen und schossen prompt zurück. Sieben Menschen wurden getötet.
    Der Hisbollah-Führer Hassan Nassrallah spricht auf einer Versammlung anlässlich des "Al-Quds-International-Day" in Beirut/Libanon am 02.08.2013.
    Der Hisbollah-Führer Hassan Nassrallah (picture alliance / dpa / EPA-File)
    In Remane sind traditionell die christlichen "Libanesischen Kräfte" oder Forces Lebanaises stark vertreten. Die ehemalige Miliz wurde nach dem Bürgerkrieg zu einer politischen Partei, unterhält aber weiterhin einen bewaffneten Arm in Beirut und im Norden des Landes. Ihr Anführer Samir Geagea versicherte nach dem Gefecht umgehend, seine Leute hätten nichts mit der Gewalt zu tun gehabt. 
    Dennoch richtete Hisbollah-Chef Nasrallah seine Worte im Oktober direkt an die christliche Bewegung: "Die eigentliche Absicht der Forces Libanaises besteht darin, uns in einen Bürgerkrieg hineinzuziehen", erklärte er. Sie seien "die größte Gefahr für den Frieden im Land". Doch gerade der gestiegene Machtanspruch der Hisbollah bereitet vielen libanesischen Christen Sorge. Die jüngsten Drohgebärden machen deutlich, dass der Libanon noch immer ein Pulverfass ist.

    Die Flüchtlinge 

    Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt die Zahl der aus Syrien geflohenen Menschen im Libanon auf rund 1,5 Millionen, bei einer Gesamtbevölkerung von knapp sieben Millionen. Zudem sind beim UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) fast eine halbe Million palästinensischer Flüchtlinge registriert. 
    Frauen sitzen am 10.11.2015 im Libanon in der Bekaa Ebene in einem Flüchtlingslager vor ihren Behausungen. Die zumeist syrischen Flüchtlinge aus der Region
    Die Behausungen in den Flüchtlingslagern sind häufig dürftig (picture-alliance/ dpa / Thomas Rassloff)
    Von der Wirtschaftskrise sind diese Gruppen besonders stark betroffen. Neun von zehn syrischen Flüchtlingsfamilien leben unterhalb der Armutsgrenze. Verbunden mit der hohen Arbeitslosigkeit und fehlenden Perspektiven steigt so die Gefahr von sozialen Spannungen. 

    Die Lage der Wirtschaft 

    Der Libanon steckte bereits vor der gewaltigen Explosion am 4. August 2020 in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Die Auswirkungen auf alle Lebensbereiche sind dramatisch: Die jährliche Inflationsrate liegt bei über 100 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland lag sie 2020 bei 0,5 Prozent. 
    Laut der UN leben 78 Prozent der Bevölkerung heute unterhalb der Armutsgrenze. Zunehmend kann oft nicht einmal die Grundversorgung mehr garantiert werden. Tägliche Stromausfälle sind für den Großteil der Menschen die Regel. Viele Menschen können sich ihre Medikamente nicht mehr leisten. 
    Die Folgen sind fatal. Der WHO zufolge haben seit Oktober 2019 fast 40 Prozent der Ärztinnen und Ärzte und 30 Prozent des Pflegepersonals das Land verlassen. Laut Umfragen wollen mindestens drei Viertel der jungen Libanesen auswandern. Viele Geschäfte mussten schließen, internationale Marken haben ihre Filialen aufgelöst. Die Wirtschaft ist massiv von Importen und ausländischen Hilfen abhängig, die Regierung kann wegen der Finanzkrise und schwindender Devisenreserven jedoch zahlreiche Subventionen nicht mehr finanzieren. 

    Die Explosion und die Aufklärung

    Der noch immer weitgehend zerstörte Hafen von Beirut ist zu einem Wahrzeichen der Unfähigkeit des politischen Systems geworden, den Herausforderungen zu begegnen. Auch eineinhalb Jahre nach dem Unglück wurde kein Politiker zur Verantwortung gezogen. 
    Vor der Kulisse des zerstörten Beiruts hält ein Demonstrant eine libanesische Flagge.
    Protest am 4. August, dem Jahrestag der Explosion im Hafen von Beirut (imago / ZUMA Wire / Marwan Bou Haidar)
    Der zuständige Richter Tarek Bitar ist mittlerweile im ganzen Land bekannt geworden, weil er es mit seinem kleinen Team mit einer Vielzahl politischer Gegenspieler aufgenommen hat. Der 47-Jährige ließ sich bisher nicht beirren und erließ sogar Haftbefehle gegen ehemalige Minister, die nicht zum richterlichen Verhör erschienen waren. Auch der ehemalige Ministerpräsident Hassan Diab sollte vernommen werden, hat sich aber bisher dem Verhör entziehen können. Bitars Erfolgsaussichten sind jedoch unklar: Politiker verschiedener Parteien und Religionsgruppen arbeiten an seiner Absetzung. Zwar sitzen im Zusammenhang mit der Explosion knapp 20 Menschen in Untersuchungshaft. Es ist jedoch weiter ungeklärt, wer Schuld an der Katastrophe ist.
    Melhem Chalaf, der Präsident der Anwaltskammer von Beirut beklagt die gezielte Behinderung der Aufarbeitung: "Gesetze werden auf besondere Weise ausgelegt, man versucht, der Justiz Befugnisse zu entziehen und das Verfahren zu stören. Wer tut so etwas? Das sind all jene, gegen die ermittelt wird. Jede Person, die vorgeladen werden soll, versucht die Sache zu verhindern." 
    Die Aufarbeitung der Katastrophe könnte aber entscheidend für die Zukunft des Landes sein, sagt Chalaf: "Wir gehen dieser Sache mit aller Ernsthaftigkeit nach, weil die Zukunft des Libanon mit diesem Fall zusammenhängt. Entweder Gerechtigkeit oder Zerfall; entweder Gerechtigkeit oder Willkür; entweder Gerechtigkeit oder - Gott bewahre - die Rache!"