Peter Sawicki: Es wirkt immer noch nach, das Ergebnis der Parlamentswahlen in Großbritannien vom Donnerstag. Der Erdrutschsieg der Tories ist für viele eine Zeitenwende. Dass das Königreich Anfang kommenden Jahres jetzt wirklich aus der EU austritt, bezweifelt niemand mehr ernsthaft, aber vor allem wie die Zukunft des Vereinigten Königreiches selbst aussieht, das scheint alles andere als klar zu sein. Die schottische Nationalpartei will schon bald über ein neues Unabhängigkeitsreferendum sprechen. Parallel müssen sich die unterlegenen Parteien neu sortieren. Dazu gehören die Liberaldemokraten, die den Brexit lange abgelehnt haben, und mit Irina von Wiese, einer Noch-EU-Parlamentarierin der Liberaldemokraten können wir jetzt sprechen. Schönen guten Morgen, Frau von Wiese!
Irina von Wiese: Ja, guten Morgen!
"Ich sehe jetzt dem Ende des Vereinigten Königreichs entgegen"
Sawicki: Das Ganze war ja ein deutlicher Sieg für Boris Johnson, Ihre Partei ist aber angetreten, um den Brexit noch zu verhindern. Müssen Sie sich eingestehen, dass Sie da eine Illusion verfolgt haben?
von Wiese: Ja, es war natürlich ein schlechtes Ergebnis für die Liberaldemokraten, aber vor allem ein katastrophales Ergebnis für Großbritannien, für Europa und die Welt als solches. Ich sehe jetzt dem Ende des Vereinigten Königreichs entgegen, ich glaube, es wird jetzt definitiv auseinanderbrechen, und natürlich eine Schwächung der Europäischen Union in einer Zeit, in der wir Putin, Xi und Trump haben, die mehr Einfluss in Europa gewinnen wollen. Wir sind natürlich sehr unglücklich über das Ergebnis – ein Ergebnis, das übrigens in einem Verhältniswahlrecht nie passiert wäre. Was jetzt weiter passiert: Wir kämpfen natürlich weiter für Europa, dafür, dass Großbritannien so nahe wie möglich an der Europäischen Union bleibt und irgendwann dann auch als Ganzes wieder eintreten wird und für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreiches.
Sawicki: Gut, das sind jetzt einige Punkte, die wir mal nacheinander durchgehen können, aber bleiben wir mal kurz bei den Ursachen für den Wahlausgang. Diese Mehrheit für Boris Johnson, diese ja deutliche Mehrheit – Sie haben das Wahlrecht zwar angesprochen, aber die Partei hat ja trotzdem eine deutliche Mehrheit bekommen, und Johnson hat ja den Brexit-Abschluss versprochen. Müssen Sie zum Beispiel als Liberaldemokraten - noch einmal - sich da nicht eingestehen, dass Sie da die Stimmung im Land völlig falsch eingeschätzt haben?
von Wiese: Nein, wir wissen, dass wenn wir eine Chance gehabt hätten auf ein zweites Referendum, was wir jetzt voraussichtlich nicht mehr bekommen, wenn wir eine solche Chance gehabt hätten, dann hätten wir ein zweites Referendum gewonnen, das heißt, es wäre dann im Sinne eines Verbleibs in der EU ausgegangen. Diese Chance hat das britische Volk nie bekommen, denn wir müssen ja auch dazu bedenken, dass in einem Verhältniswahlrecht die Mehrheit der Bürger sich für proeuropäische Parteien ausgesprochen hätten und dann auch proeuropäische Parteien gewonnen hätten. Das heißt, es nicht so, dass jetzt mehr als 50 Prozent der britischen Bevölkerung für einen Austritt gestimmt haben in dieser Wahl. Aber mit einem Mehrheitswahlrecht war es natürlich oft so, dass gerade die kleineren Parteien, insbesondere die zentralen Parteien wie die Liberaldemokraten, einfach zwischen zwei zunehmend extremen Positionen zerrieben wurden. Da hieß es dann, "vote LibDem, get Corbin" oder "vote LibDem, get Boris", je nachdem, wen man ansprechen wollte, und wir sind einfach in der Mitte hängen geblieben.
"Wir hätten als vereinigte Remain-Kraft gewonnen"
Sawicki: Und warum hat man das dann aber nicht geschafft, sich dann beispielsweise als große vereinigte Kraft zwischen den anderen Parteien dann gegen die Tories und dann gegen den Brexit zu stellen?
von Wiese: Das ist eine hervorragende Frage und eine Frage, die wir uns natürlich auch immer wieder stellen. Ich halte das für ein ganz, ganz, ganz großes Versäumnis, einen großen Fehler. Dazu muss man sagen, dass wir es versucht haben. Wir haben sowohl mit den Grünen, die ja keine große Kraft sind in Großbritannien, aber auch mit der Plaid Cymru und mit Labour zusammenarbeiten wollen. Die beiden kleineren haben zugesagt, Labour hat sich leider immer dagegen ausgesprochen, wollte in keinem einzigen Wahlkreis zurücktreten. Es hat nicht geklappt, ich finde es sehr, sehr schade, denn wir hätten als vereinigte Remain-Kraft gewonnen.
Sawicki: Gut, dann schauen wir jetzt nach vorne. Sie haben schon angedeutet, dass Sie einen Zerfall des Vereinigten Königreiches befürchten. Das setzt aber natürlich voraus, wenn man jetzt zum Beispiel auf Schottland schaut, dass Boris Johnson da einem Referendum überhaupt erst zustimmt über die Unabhängigkeit Schottlands. Warum sollte er das tun, er hat das ja jetzt schon abgelehnt?
von Wiese: Er hat es abgelehnt, aber ich glaube, dass wir in Schottland weiterhin eine Verstärkung der nationalistischen Tendenzen sehen werden, das heißt, die SNP wird gerade durch die Verweigerung der Johnson-Regierung immer weiter zur Unabhängigkeit getrieben. Und natürlich noch Irland dürfen wir nicht vergessen, denn der Deal, den Johnson sich da vorstellt mit der Europäischen Union, der zieht eine klare Grenze zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens. Und dann sehe ich persönlich Nordirland als Erstes das Vereinigte Königreich verlassen, und Schottland wird dem nachfolgen und irgendwann dann sicher auch Wales, denn Wales ist – das muss man dazusagen – auch sehr durch Brexit betroffen.
Sawicki: Aber ist das einfach ohne Weiteres auch rechtlich umsetzbar?
von Wiese: Rechtlich umsetzbar wissen wir leider noch gar nicht – was wird aus dem Deal, was wird aus diesem Abkommen –, denn wir müssen bedenken, dass ja die Einzelheiten im Rahmen der Handelsverträge im nächsten Jahr ausgehandelt werden, wenn sie dann überhaupt ausgehandelt werden. Das heißt, wie es rechtlich weitergeht, weiß noch keiner, wie es mit Brexit weitergeht, weiß auch noch keiner, und das wird natürlich auch dann Konsequenzen haben für die separatistischen Tendenzen in Nordirland und in Schottland.
Deal mit der EU: "Das schafft der nicht"
Sawicki: Was glauben Sie, wie es mit dem Brexit weitergehen kann, wenn dann erst mal der formale Austritt Ende Januar vollzogen ist?
von Wiese: Dann hat Boris Johnson theoretisch nur noch elf Monate Zeit, umfassende, komplexe Handelsabkommen mit der EU abzuschließen. Das schafft der nicht, das wissen wir aus eigener Erfahrung im Europaparlament, das hat uns auch Michel Barnier ganz klar gesagt.
Sawicki: Man könnte die Frist ja verlängern.
von Wiese: Er müsste die Frist wieder verlängern, das hat er gesagt, wollte er nicht machen, aber wir wissen ja von Boris Johnson, dass für ihn Fristen immer genau solche Halbwahrheiten sind wie die anderen Versprechungen, die er gemacht hat. Also, ich denke, es wird dann eine weitere Fristverlängerung geben müssen. Ansonsten sehen wir Ende 2020 dem gleichen Austritt ohne Deal, einem katastrophalen No-Deal-Brexit entgegen, dem wir ja schon zweimal entgegengesehen haben.
"Drohung, dann doch noch ohne Deal auszusteigen"
Sawicki: Und trotzdem könnte das ja natürlich dann sein, dass man das entsprechend so argumentiert, dass man jetzt im Sinne aller die Frist verlängert, was auch vielleicht den inneren Frieden befördern könnte.
von Wiese: That much for getting Brexit done – das war wieder natürlich eine ganz große Lüge, "Get Brexit done", es ist ganz im Gegenteil dazu. Jetzt wird es immer weitergehen mit Brexit, mit schmerzhaften Verhandlungen und mit der Drohung, dann doch noch ohne Deal auszusteigen. Wir wissen, dass das ganz klare dauerhafte negative Konsequenzen haben wird für die britische Wirtschaft, aber auch für den Rest Europas, deshalb: Das weiterhin als Drohgebärde im Hintergrund zu haben, ist natürlich vollkommen verantwortungslos.
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