Andreas Main: Es ist schon etwas verwirrend. Es gibt liberale Muslime, es gibt liberale Juden, es gibt liberale Parteien – bei uns die FDP. Es gibt in Amerika die "Liberals", die sind eher sozialdemokratisch gestrickt. Und dann gibt es auch noch die liberale Theologie, eine protestantische Strömung, die ins 19. Jahrhundert und weiter zurückreicht, die nie dominierend war, aber auch nicht totzukriegen ist. Dazu hat es im Sommer eine große internationale Konferenz in München gegeben, vorangetrieben von Jörg Lauster. Er ist Professor für systematische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Aus seiner Feder stammen grandiose Bücher wie "Der ewige Protest – Reformation als Prinzip" oder "Die Verzauberung der Welt – eine Kulturgeschichte des Christentums". Herzlich willkommen, guten Morgen Herr Lauster.
Jörg Lauster: Guten Morgen Herr Main.
Main: Bevor wir inhaltlich werden, bringen Sie bitte mal Licht ins Sprachdunkel. Wie definieren Sie liberale Theologie?
Lauster: Zunächst – Sie hatten es ja schon angedeutet – muss man sagen, liberale Theologie ist ein unglücklicher Begriff. Es ist eine Fremdbezeichnung. Keiner der Väter und Mütter der liberalen Theologie im 19. Jahrhundert hat sich als liberaler Theologe bezeichnet.
Das kommt daher, dass man eine theologische Strömung im 19. Jahrhundert, die sich den Phänomenen der Moderne geöffnet hat, mit einem Namen belegen wollte, und ihre Gegner haben aus der Politik sich diesen Namen dann entlehnt und an die aufkommenden liberalen Parteien angelehnt diesen Namen dann auf die Theologie übertragen. Bis heute sind wir mit diesem Begriff nicht so glücklich, denn es hat eigentlich nichts mit dem politischen Liberalismus unserer Tage zu tun.
"Sensorium für kulturelle Phänomene"
Main: Oft wird ja auch von Kulturprotestantismus gesprochen. Auch ein Etikett, das sich nicht leicht erschließt. Kulturprotestantismus, wie erklären Sie uns diesen Begriff?
Lauster: Kulturprotestantismus gibt es auch in einer sehr breiten Verwendung. Wir sollten eine engere und eine weitere unterscheiden. Eng – damit ist gemeint ein Phänomen, eine Erscheinung des deutschen Protestantismus, etwa im Deutschen Kaiserreich, in der Vertreter des Protestantismus – der Berühmteste ist Adolf von Harnack – tief hineingewirkt haben in die Kultur und das öffentliche Leben.
In einem weiteren Sinne natürlich daran angelehnt spricht man von Kulturprotestantismus dann, wenn es darum geht, dass man ein Gespür, ein Sensorium dafür entwickelt, dass kulturelle Phänomene durchaus auch eine religiöse Bedeutung haben könnten.
"Wir finden kein besseres Wort"
Main: Also, es wäre verdienstvoll, wenn wir im Laufe dieses Gesprächs ein neues Wort fänden für das, was die Herren Schleiermacher, Harnack, Tillich und Troeltsch und Co. im vergangenen Jahrtausend entwickelt haben. Kann uns das gelingen?
Lauster: Wenn uns das gelänge, dann würden wir beide einen Preis gewinnen. Ich glaube, alle Menschen, die sich an liberaler Theologie und Kulturprotestantismus interessieren, daran arbeiten, suchen seit Jahrzehnten nach einem besseren Wort, aber wir finden keins.
Main: Die genannten kulturprotestantischen Herren sind selbst für Theologen heutzutage nicht leicht lesbar. Sie hingegen schreiben bewundernswert klar, wenn ich das so sagen darf. Gehe ich zu weit, wenn ich sage: Sie wollen kulturprotestantisches Denken, Sie wollen liberale Theologie in unsere Sprache, in unsere Welt des 21. Jahrhunderts übersetzen?
Lauster: Die Frage muss ich doppelt beantworten oder in zweifacher Richtung. Zunächst haben wir als Wissenschaftler in Deutschland auch einen öffentlichen Auftrag, und wir sind durchweg staatlich finanziert aus Steuergeldern. Und ich denke, wir haben eine Verpflichtung, so gut es in unserer Kraft und Macht steht, die Ergebnisse unserer Forschungen, unserer Arbeiten auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, so gut das eben geht. Das geht sicher nicht in jeder Disziplin, aber in der Theologie sollten wir uns sehr darum bemühen.
Das ist der eine Teil, der mit liberaler Theologie gar nichts zu tun hat, sondern mit einem bestimmten Verständnis dessen, was wir in der akademischen Theologie leisten sollen. Das gälte dann auch für alle Strömungen.
Natürlich ist es dann – und das ist der zweite Teil meiner Antwort – eine besondere Herausforderung liberaler Theologie, sich allgemeinverständlich auszudrücken, denn wir möchten uns ja von unserem Anliegen her gerade der Kultur, dem Zeitgeist, dem, was die Menschen bewegt und umtreibt, öffnen, und das schließt ein, dass die Menschen, mit denen wir ins Gespräch kommen möchten, uns auch verstehen.
"Keine vollständige Auskunft über den Grund unseres Daseins"
Main: So, warum ist liberale Theologie aus Ihrer Sicht heute wichtig?
Lauster: Liberale Theologie verbindet das europäische Erbe der Aufklärung in der Romantik zu einer Form von Religion, die einerseits Gewissheit begründet, aber andererseits auch damit rechnet, dass andere Strömungen auch ihr Recht und ihre Wahrheit haben können. Ich will damit sagen, dass wir in der Religion es mit etwas zu tun haben – wir nennen es in unserer christlichen Tradition Gott – was größer ist als unsere Begriffe, unsere Vorstellungen, was mehr ist, als wir mit unseren menschlichen Möglichkeiten ausdrücken können.
Wir können über den Grund unseres Daseins nicht vollständig Auskunft geben. Wir können es immer nur ahnungshaft ausdrücken. Dann drücken wir diese Dinge in einer Tradition aus, in der wir aufgewachsen sind, aus der wir herkommen. Aber wir müssen damit rechnen, dass es auch andere Formen gibt, dieses Geheimnis unseres Lebens zur Sprache zu bringen und auszudrücken.
Main: Sie haben Ihrem Opus Magnum den Titel gegeben "Verzauberung der Welt". Sie gehen – wenn ich das richtig verstehe – davon aus, dass Religion immer da ist, auch, wenn eine Gesellschaft säkular ist und sich Menschen von Kirchen, Synagogen oder Moscheen abwenden. Unterstellt liberale Theologie damit nicht letztlich, dass alle religiös sind?
Lauster: In der so zugespitzten Frage geht es mir dann doch zu weit. Ich würde nicht sagen, dass alle Menschen religiös sind, aber ich würde sagen, es gibt einen sehr breiten Mittelbereich von Menschen, wo wir nicht so ganz genau wissen, was die sind oder wo diese Menschen selber nicht so genau wissen, was sie sind. Und ehrlich gesagt, warum sollten sie das auch?
Für dieses Argument sprechen die Zahlen. Wir haben in Deutschland immer noch in etwa 23 oder 24 Millionen Kirchenmitglieder beider Konfessionen, also 23 Millionen Protestanten, 23 Millionen Katholiken – plus/minus. Davon sehen wir in der Kirche, in den Amtshandlungen der Kirchen etwa eine bis zwei Millionen. Die Frage: Was ist mit den anderen 20 Millionen? Die sind ja noch irgendwie in der Kirche, aber wir sehen sie nie. Das ist eine Form von Religiosität, die mich interessiert.
"Meine Frau untersagt mir, mich als Theologe zu outen"
Main: Aber ist es nicht vereinnahmend? Wie soll ein Konfessionsfreier mit Ihrer Unterstellung leben?
Lauster: Moment, die Konfessionsfreien, die Sie ansprechen, die sind ja schon außerhalb dieser 20 Millionen. Das sind die, die ausgetreten sind, auch keine Kirchensteuer mehr bezahlen.
Main: Die lassen Sie in Ruhe?
Lauster: Die lasse ich überwiegend in Ruhe. Wenn jemand zu mir sagt – und das gibt es – er hat mit dem allem nichts am Hut und kann damit nichts anfangen, dann ist das sein gutes Recht. Das ist eine europäische Errungenschaft seit Friedrich dem Großen: "jeder nach seiner Fasson". Ich erlebe aber übrigens gerade in diesem Bereich der Konfessionslosen, wenn ich mich bei irgendwelchen Einladungen, Abendessen in meinem Beruf oute, ist der Abend meistens gelaufen.
Mir ist es inzwischen von meiner Frau untersagt, mich als Theologe zu outen, weil man von einer Flut von Fragen überrannt wird. Die Leute haben ein immenses Interesse an den großen Fragen. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Das gilt schon auch für Konfessionslose.
Noch mehr interessieren mich die Menschen, die sich selber noch irgendwie der Kirche zugehörig fühlen, aber mit den klassischen Amtshandlungen, auch mit den Dogmen und den Moralvorstellungen der Kirche, nichts anfangen können.
"Liberale Theologie ist Verrat"
Main: Da höre ich einen leicht kirchenkritischen Unterton bei Ihnen raus. Es gibt viele Theologen, die die Nase rümpfen, wenn sie das Wort "liberale Theologie" hören. Wie ist der Widerstand auf dieser Seite aus Ihrer Sicht motiviert?
Lauster: Es gibt seit dem 19. Jahrhundert, seit dem Aufkommen, seit unserer großen Lichtgestalt Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, der im November seinen 250. Geburtstag feiern würde, den wir dementsprechend auch ehren – seit Schleiermacher gibt es immer denselben Vorwurf: Liberale Theologie ist Ausverkauf, ist Verrat, Verlust der eigentlichen Kernbotschaft des Christentums, weil liberale Theologen natürlich immer versuchen – und Theologinnen – die Botschaft des Christentums zu übersetzen in eine andere, in eine moderne Sprache.
Wir können beispielsweise – um zu einer Kernlehre des Christentums zu kommen – wenig anfangen mit den Begriffen wie "Sühne" und "Opfer". Das klingt mir alles viel zu blutrünstig. Das ist spätantikes Denken, das uns heute nichts mehr sagt. Also übersetzen wir diese Begriffe in etwas anderes. Wir wollen sagen, dass es ein Geheimnis des Lebens gibt, in dem wir immer sozusagen mit allem, was Leben entfaltet, anderes Leben zerstören. Wenn wir solche neueren Formulierungen bringen, sagen klassische Theologen immer, wir würden das Christentum beenden.
Main: Ein entscheidender Punkt ist auch das Verhältnis der liberalen Theologie zur Kirche. Wenn ich das richtig verstehe: Liberale Theologie sieht in der Kirche nicht den zentralen Weg zum Heil. Kann man das so zusammenfassen oder ist das schlicht und platt formuliert?
Lauster: Das ist nicht schlicht und platt formuliert, sondern ein kleines bisschen zu spitz. Große liberale Theologen waren immer Männer der Kirche. Schleiermacher war Pfarrer in Berlin neben seiner Professur. Adolf von Harnack war ein großer Vertreter des Protestantismus des Kaiserreichs. Es ist nicht der Weg der liberalen Theologie, gegen die Kirche zu opponieren.
Liberale Theologinnen und Theologen wissen, es gäbe keine Religion ohne eine wie auch immer geartete institutionelle Verankerung. Wir brauchen eine Institution. Und die Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert hat uns gelehrt: Ohne Institution gibt es auch keine stabile und lebendige Religion. Aber dafür möchten wir den Blick schärfen. Eine Religion geht niemals auf in der Institution, sie ist immer auch noch mehr als diese Institution. Darauf insistieren wir.
"Lutherfixierung unterläuft dem ewigen Protest"
Main: In Ihrem kleinen Büchlein "Der ewige Protest – Reformation als Prinzip" plädieren Sie dafür, die Bezeichnung "lutherisch" aus dem Namen Ihrer Kirche zu streichen – was ja auch zeigt, dass Sie die Kirche schon auch interessant finden. Die Begründung ist: "Lutherfixierung unterläuft den ewigen Protest." Oder warum?
Lauster: Ist übrigens ein Vorschlag, für den ich sehr heftig gescholten worden bin aus dem Kreis der lutherischen Theologinnen und Theologen. Das habe ich mir auch erhofft.
Main: Deswegen spreche ich ihn ja auch an.
Lauster: Das habe ich mir erhofft, dass ich dafür kritisiert werde. Ich finde, dass der Name einer Kirche, die sich auf Gott als den Grund unseres Daseins beruft, per se vollkommen unverträglich ist mit dem Namen eines Menschen.
Luther ist eine große Gestalt in der Geschichte des Christentums, aber wir sollten keine Personen verehren. Und meines Wissens ist die lutherische Kirche eine der ganz wenigen christlichen Konfessionen, die überhaupt so einen Personenbezug im Namen hat. Darüber sollten wir nachdenken, ob das wirklich nötig ist. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist: Der Protestantismus hat sich in Europa erfreulich in den letzten 40 Jahren so entwickelt, dass wir auch darüber nachdenken sollten, diese Konfessionsunterschiede, die aus einem dogmatisch zerstrittenen 16. Jahrhundert kommen, ob wir die nicht im 21. Jahrhundert getrost aufgeben können.
"Alle schlafen, einer spricht"
Main: Keine Personenverehrung – in welche Richtung müssten sich Kirchen aus Ihrer Sicht heute reformieren, wenn Reformation nie aufhört?
Lauster: Also, auch da muss man eine ehrliche Antwort geben. Liberale Theologie hat nicht die Patentrezepte, und wir sind auch nicht die Besserwisser, die sagen, so läuft es. Wir können hier nur sagen, wir würden einen bestimmten Vorschlag machen. Und der Vorschlag sieht wie folgt aus: mehr hineingehen in den Personenkontakt zu den Menschen.
Wir haben in Deutschland hervorragend ausgebildete Pfarrerinnen und Pfarrer. Wir haben meiner Meinung nach doch einen immer noch großen Kreis von Menschen, die für die Fragen des Daseins ein Interesse haben, und diese beiden Gruppen muss man zusammenbringen. In Kasualgesprächen, also wenn Pfarrerin, Pfarrer Menschen zu Taufen, Beerdigungen, Hochzeiten besuchen, gibt es wunderbare Gelegenheiten. Da müssen wir neugieriger werden und auch erfinderischer werden, wie wir dieses Interesse befriedigen können, das da in den Menschen besteht.
Das läuft mit der klassischen Form des Gottesdienstes – alle schlafen, einer spricht – einfach nicht mehr in der Art und Weise, wie das allein zeitgemäß sein sollte. Vorsicht, ich sage nicht, Gottesdienste abschaffen, um Himmels willen, aber sich darüber hinaus ausdenken, wie wir mehr mit den Menschen in einen persönlichen Kontakt, in ein persönliches Gespräch kommen können.
Main: Sie kritisieren darüber hinaus wortwörtlich, "Anzeichen für ein Hinüberdriften ins Seichte und Banale sind im deutschen Protestantismus gegenwärtig nicht zu übersehen. Der moralisch erhobene Zeigefinger steht aber in einem eklatanten Widerspruch zur religiösen Freiheit des Individuums im Protestantismus." Also: Zu viel Belehrung, zu viele Ausflüge ins Klerikale?
Lauster: Klerikalismus ist eigentlich jetzt nicht das, was man dem Protestantismus vorwerfen kann. Es sind zwei Strömungen, die ich sehr kritisch beäuge. Ist auf der einen Seite die starke Politisierung. Wir bekommen von Kirchenoberen vorgeschrieben, wie wir politisch zu wählen haben, dass wir "Veggie Days" und lauter so Dinge einzuhalten haben.
Das ist nicht Aufgabe der Kirche, wie sie sich politisch orientieren, wie sie ihr Alltagleben gestalten. Das schaffen die Menschen auch ohne uns. Das ist die eine Seite.
Und das andere ist: Man versucht natürlich, um Menschen zu gewinnen, alle möglichen Mittel. Und dann gibt es eine bestimmte Strömung, die auf Wellness, Yoga und all dieses Zeugs aufspringt. Das sind ja wunderbare Sachen, aber auch das ist nicht Aufgabe der Kirche. Wir sind nicht zuständig für Wellness, sondern für die großen Fragen des Daseins.
"Barth heute noch nachzubeten, ist ein großes Unglück"
Main: Wenn Sie so gegen die Politisierung polemisieren, dann stellen Sie sich aus meiner Sicht auch letzten Endes gegen die "Barth-Schule", also jenen Theologen, Karl Barth, dessen Todestag sich im Dezember zum 50. Mal jährt. Ist das so? Sind Sie "Anti-Barth"?
Lauster: "Anti-Barth" klingt gleich sehr streng. Zu Barth würde ich sagen, er war eine hervorragende historische Gestalt im 20. Jahrhundert. Er hat in der Auseinandersetzung mit den Nazis zur rechten Zeit das Richtige gesagt. Er hat viele Pfarrer darin unterstützt, in ihrem Kampf oder in ihrem leisen und hoffentlich manchmal auch lauterem Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Aber wir können nicht 70 Jahre später einfach so tun, als wäre in den letzten zwei Generationen nichts passiert. An Barth in 1940 und 1950 festzuhalten, war ein großes Glück für die Kirche. Ihn heute immer noch einfach nachzubeten, ist ein großes Unglück. Die Zeiten haben sich gewandelt. Wir müssen neue Wege gehen.
Main: Neue Wege – wo sehen Sie denn konkret die Kräfte der Erneuerung?
Lauster: Kräfte der Erneuerung gibt es überall, um den großen Johannes XXIII. zu zitieren: "Überall dort, wo Menschen guten Willens sind, dort erneuert sich die Kirche auch." Es gibt viele Ansätze. Beispielsweise in den letzten 30 Jahren ist die Kirchenmusik zu so etwas geworden wie einem zweiten Instrument des Gemeindeaufbaus.
Ich sehe viel Anstrengung, viel Mühe, auch auf Seiten der Pfarrerinnen und Pfarrer. Darin sollten wir sie unterstützen. Was wir wiederum weniger unterstützen sollten, ist immer dieses Kreisen um institutionelle Fragen. Strukturdebatten. Das zieht einfach viel zu viel Energie ab. Wir sollten in der Kirche schlicht und ergreifend unsere Arbeit machen. Und ob wir in 100 Jahren noch dieselbe Kirche sind wie jetzt, das liegt ohnehin nicht in unserer Hand.
"Wir sind neugierige Wesen"
Main: Jetzt reden wir mal nicht weiter über die Kirche. Was könnte aus Ihrer Sicht das Zeitgenössische sein, das Relevante, was das Christentum modernen Gesellschaften zu bieten hat – über Kirche hinaus?
Lauster: Wenn wir uns mal anschauen, von was eigentlich unsere Gesellschaften innerlich leben, dann stellen wir fest, da gibt es ja doch so etwas wie verborgene Ideen. Wir haben den Traum, solidarisch miteinander umzugehen. Wir erziehen unsere Kinder, dass sie Anerkennung und Respekt als Umgangsgrößen praktizieren. Wir pflegen Authentizität als Ideal. Das ist ja doch alles, das sind innere Vorstellungen, Ideen, die sehr stark verbreitet sind.
Und wenn ich nur die drei nehme – Solidarität, Anerkennung und Authentizität –, dann sind das säkulare Begriffe. Zu all diesen dreien hat aber das Christentum grandiose Angebote zu machen, wie wir die inhaltlich besetzen können. Das ist einmal die Vorstellung der Nächstenliebe. Das ist bei der Anerkennung die Gnade. Und das ist bei der Authentizität die Erlösung.
Da müssten wir viel mehr miteinander ins Gespräch kommen. Ich sage nicht, dass wir für alles die ultimative Antwort haben. Aber das Christentum ist reich an Ideen, die sich sehr eng mit den Fragen berühren, die die Menschen heute umtreibt.
Main: Reich an Ideen – das möchte ich aufgreifen. Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Sie die Grenzen zwischen Nicht-Religiösen, zwischen Christen, Muslimen, Juden und anderen auch ein bisschen zum Fließen bringen wollen.
Lauster: Ich denke, das sollten wir. Es ist an der Zeit, mit – noch einmal dieses große Wort von Johannes XXIII. – mit allen Menschen guten Willens zu reden. Es gibt Juden, es gibt Muslime, die ihre Religion in einer Art und Weise so leben und praktizieren wollen, dass sie zwar einerseits ihnen innerlich und privat Gewissheit verleiht, aber andererseits auch die Sozialverträglichkeit unseres Daseins erhöht.
Und mit diesen Menschen sollten wir automatisch ins Gespräch kommen, zumal es doch einfach auch - wir sind ja neugierige Wesen als Menschen. Wir wollen doch wissen, wie andere denken. Wie stellt sich ein Muslim vor, was nach seinem Tod passiert? Das sind doch spannende Fragen, und da gibt es einen großen Nachholbedarf an Gesprächen – zumindest mit den Menschen, mit den Juden und Muslimen und Angehörigen anderer Religionen, die mit uns reden wollen.
"Das absolute Gegenteil von religiösem Fundamentalismus"
Main: An welchen Punkten schlagen Sie Pflöcke ein, um sich abzugrenzen von bestimmten aufgeheizten Religionsdebatten?
Lauster: Natürlich ist die Grenze immer dort ganz klar, wo eine Religion fundamentalistisch wird, wo sie von sich behauptet, die alleinige und widerspruchslose und keinen anderen Einspruch duldende Wahrheit zu sein.
Das gibt es übrigens im Christentum auch. Das gibt es natürlich auch im Judentum und im Islam. Und mit jemandem, der nicht offen ist für ein Gespräch, der sagt "nur das, was ich sage, ist wahr", mit solchen Menschen ist es sehr schwer zu reden.
Main: Aber liberale Theologie ist per se antifundamentalistisch – so lese ich das zumindest.
Lauster: Die liberale Theologie ist quasi in ihrer Definition das absolute Gegenteil zu allen Formen eines religiösen Fundamentalismus.
"Da ist noch mehr als wir begreifen können"
Main: Wenn ich Theologie in Ihrem Sinne treiben wollte, egal, welcher Konfession ich bin, welche Brille muss ich aufsetzen, inwiefern muss ich meine Haltung verändern?
Lauster: Liberale Theologie lebt als erstes und zunächst von einer großen religiösen Einsicht, dass der Grund unseres Daseins und das Geheimnis des Lebens mehr ist, als wir Menschen jemals erfassen und sagen können. Und, wenn man bereit ist, das anzuerkennen, dann relativiert sich damit automatisch auch die eigene Position.
Wir können und müssen an unserer eigenen Position festhalten. Von ihr kommen wir, aus ihr leben wir. Aber wir sollten uns offene Augen bewahren für das, was andere Menschen sagen.
Main: Offen für Geheimnisse, wenn ich das so zusammenfassen würde, wo entdecke ich die?
Lauster: Die entdecken Sie vom Frühstück bis zum Ins-Bett-gehen minütlich. Es reicht, die Augen offenzuhalten für Phänomene des Zusammenlebens. Es ist ja nicht so, dass Menschen nur immer gewaltsam übereinander herfallen. Es gibt viele, viele Zeichen im alltäglichen Zusammenleben, in denen etwas durchschimmert, wo Menschen sich von einer sehr, sehr großzügigen, freundlichen Seite zeigen.
Es gibt diese Phänomene der Natur. Gerade hier in München fährt die halbe Stadt am Wochenende hinaus in die Berge. Was suchen die da? Es ist ja nicht nur Erholung, Freizeit, Sport. Es geht ja auch um innere Erlebnisse, die die Natur uns bereitet.
Und schließlich gibt es eine Reihe von kulturellen Phänomenen, wo wir immerfort – wo in uns etwas zum Klingen gebracht wird: wenn wir Musik hören, wenn wir Bilder anschauen, wo wir auf etwas stoßen, was uns die Augen öffnet. Da ist noch mehr, als wir begreifen können.
"Nicht jedes Eichhörnchen ist eine Gottesbegegnung"
Main: Und da das hier keine Verkündigungssendung ist, frage ich Sie: Welche Einwände gegen die liberale Theologie müssen und sollten Sie als liberaler Theologe selbstkritisch bedenken?
Lauster: Uns wird, um es sehr salopp zu sagen, am meisten eine bestimmte inhaltliche Weite vorgeworfen. Ich kann es noch deutlicher sagen – eine Schwammigkeit. Dieser Vorwurf sieht etwas Richtiges. Wenn man sagt, das Geheimnis des Lebens ist mehr als wir mit Worten ausdrücken können, dann bleibt das irgendwie diffus und daran müssen wir arbeiten.
Auch Ihre Frage, wo kann man konkret diese Erfahrungen machen, daran müssen wir weiterarbeiten, das präziser zu fassen. Nicht alles, nicht jedes Eichhörnchen und jedes Kinderlächeln ist gleich eine Gottesbegegnung. Das ist das, woran wir noch viel zu tun haben: konkreter, präziser zu werden in dem, wo wir meinen, das Geheimnis des Lebens aufspüren zu können.
Main: Jörg Lauster, evangelischer Theologieprofessor in München. Zwei seiner Bücher, die ich gelesen habe beziehungsweise gerade lese, möchte ich nochmals mit Titel nennen: "Der ewige Protest – Reformation als Prinzip" – 140 Seiten für 12 Euro, erschienen im Verlag Claudius. Und "Die Verzauberung der Welt – eine Kulturgeschichte des Christentums" – 34 Euro bei C.H. Beck. Die Zahl der Seiten ist deutlich höher, habe ich nicht in Erinnerung. Sie, Herr Lauster?
Lauster: Irgendwas über 700, glaube ich.
Main: Jörg Lauster, danke für Ihr Nachdenken über die Zukunft des Christentums, danke für das Gespräch.
Lauster: Vielen Dank, Herr Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.