Außerdem sei das Abkommen auch inhaltlich unvollständig, meinte Lacher. Der Streit um die konkurrierenden Parlamente von Tripolis und Tobruk sei nicht geklärt worden - somit könne es sein, dass eine neu gebildete Einheitsregierung keine Legislative habe. Ein Großteil des Abkommens könne so nicht umgesetzt werden. Lacher kritisierte außerdem, dass nicht klar sei, wer die Vereinbarung am Mittwoch überhaupt unterschreiben werde: "Die Mehrheit der Abgeordneten in Tripolis lehnt es mittlerweile ab, in Tobruk ist die Zustimmung noch fragwürdig," so Lacher. Außerdem bestehe die Gefahr, dass eine auf Grundlage des Abkommens gebildete Einheitsregierung keine Zustimmung in der Bevölkerung finde. Das bereite den Nährboden für Terrorgruppen wie den IS.
Dabei sei der erhöhte Druck, gegen den IS vorzugehen, der Grund dafür, dass das Abkommen so schnell auf den Weg gebracht wurde, meint Lacher. Nach den Anschlägen von Paris habe sich der internationale Zeitrahmen geändert. Lacher betonte, dass die Vereinbarung viel mehr Zeit gebraucht hätte.
Das Interview in voller Länge:
Doris Simon: Jahrzehntelang war der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi die politische Verkörperung des bizarr schillernden Schurken. Sein Regime war brutal und repressiv. Als Gaddafi dann im Arabischen Frühling und mithilfe von Luftangriffen unter anderem der Franzosen und der Briten gestürzt wurde, da atmeten viele Menschen auf, in Libyen, aber auch im Rest der Welt. Das war 2011. Seither aber ist leider nichts besser geworden in Libyen. Der Staat ist zerfallen, es gibt zwei Regierungen, zwei Parlamente, rivalisierende regionale Milizen - ideale Bedingungen für die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates. Die hat sich in der Stadt Sirt festgesetzt und von da streckt sie ihre Fühler nach ganz Nordwestafrika aus. Und diese internationale Angst vor der Terrormiliz, die sorgt jetzt auch für verstärkten Druck auf die verfeindeten Parteien in Libyen. Sie sollen am Mittwoch einen Friedensplan unterzeichnen und eine Einheitsregierung bilden. Das Ganze wurde gestern noch mal von der internationalen Konferenz in Rom bestätigt. - Am Telefon ist jetzt Wolfram Lacher, der Libyen-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen.
Wolfram Lacher: Guten Morgen!
Simon: Herr Lacher, die libyschen Parteienmilizen sind tief verfeindet. Was ist diese Vereinbarung für einen Friedensplan und für eine libysche Einheitsregierung denn tatsächlich wert?
Lacher: Die Konferenz, die in Rom gestern stattgefunden hat, die zeigt vor allem, dass man von internationaler Seite entschlossen ist, dieses libysche Abkommen jetzt durchzupeitschen, egal wie unvollständig es ist und wie schmal die Unterstützung ist, die es genießt. Man will jetzt unbedingt endlich die Bildung einer Einheitsregierung, die dann international anerkannt wird. Aber wer da am Mittwoch das Abkommen unterschreibt und wer nicht, ist noch gar nicht klar. Es besteht die Gefahr, dass hier auf internationalen Druck hin in aller Eile ein Abkommen geschlossen wird, das nicht umgesetzt werden wird, und eine Regierung gebildet wird, die weitgehend machtlos sein wird.
"Die Regierung hat voraussichtlich gar keine Legislative"
Simon: Ich habe es ja eingangs angedeutet: Es gibt eine Unzahl von kleinen Mächten in Libyen, Milizen, Autonomiebewegung, einzelne Personen wie dieser General Haftar. Gibt es da eigentlich wirklich einen Plan, wie man die mit einbezieht? Denn wenn man die nicht mit an Bord hat, dann bringt das doch nichts.
Lacher: Das Abkommen ist im Grunde ein Abkommen zwischen moderaten Kräften, an dem aber viele der mächtigsten Akteure gar nicht beteiligt waren, insbesondere viele der bewaffneten Gruppen. Man hat zwar gewählte politische Vertreter an den Verhandlungstisch gebracht, aber die haben oftmals sehr wenig Einfluss auf die tatsächlichen Akteure, auf die bewaffneten Gruppen. Das Abkommen sollte jetzt eigentlich einen Kompromiss zwischen den zwei Parlamenten darstellen, die sich um den Status der rechtmäßigen Legislative streiten, das im Juni 2014 gewählte Parlament in Tobruk, sein 2012 gewählter Vorgänger in Tripolis. Jetzt ist es aber so, dass mittlerweile die Mehrheit der Abgeordneten in Tripolis das Abkommen ablehnt, und ob es in Tobruk noch eine Mehrheit für das Abkommen gibt, ist momentan fragwürdig. Das wird sich erst am Mittwoch zeigen. Das heißt, die Regierung hat voraussichtlich gar keine Legislative, auf die sie sich stützen könnte. Das heißt, der Großteil des Machtteilungsabkommens könnte somit gar nicht umgesetzt werden.
Simon: Was, Herr Lacher, bringt denn dann die ganze Operation?
Lacher: Es liegt natürlich jetzt vor allem an dem gestiegenen Druck von internationaler Seite, dass dieses Abkommen durchgesetzt, durchgepeitscht werden soll, und da liegen die Ursachen natürlich an dem gestiegenen Druck, gegen den IS vorzugehen, eben auch in Libyen. Hier hat man insbesondere seit den Anschlägen in Paris gespürt, dass sich der internationale Zeitrahmen in Bezug auf Libyen plötzlich geändert hat, dass die Geduld ausgeht, was diesen Verhandlungsprozess angeht. Das heißt, es geht jetzt wohl auch darum, eine Regierung zu bilden, die dann womöglich eine Einladung für ein internationales Vorgehen gegen den IS ausstellen soll.
Simon: Aber genau da muss man ja auf Libyen schauen. Das ist ein Land, was traditionell immer ganz viel Misstrauen hat gegen Einmischung von außen. Wenn es jetzt diesen internationalen Druck, den Sie schildern, gibt, der Westen die neue Regierung mit Blick auf den sogenannten IS stützt, beschädigt das nicht eher so eine ganz wackelige Regierung und den Friedensplan?
Lacher: Ja! Es besteht hier in der Tat die Gefahr, dass man die Bildung einer Regierung vornimmt, die dann legitim vor allem in den Augen westlicher und anderer Regierungen sein wird, in den Augen der libyschen Bevölkerung aber weitaus weniger. Wenn das so kommen sollte, dann würde man damit natürlich die Konflikte in Libyen nicht lösen und damit würde man mit Sicherheit auch keine Fortschritte im Kampf gegen den IS machen. Über ein Jahr lang war es das internationale Mantra in Libyen, dass der IS nur wirksam bekämpft werden kann, wenn die Libyer sich einigen, und seit etwa einem Monat hat man dieses Ziel anscheinend über Bord geworfen und möchte jetzt nur noch eine Einigung dem Augenschein nach. Die Gefahr, dass diese Strategie nicht nur scheitert, sondern die Lage in Libyen noch verschlimmert, ist groß.
"Wenn sie nicht in Tripolis sitzt, ist die Regierung machtlos"
Simon: Herr Lacher, Sie sind Wissenschaftler, nicht Politiker. Sie müssen nicht entscheiden. Aber sehen Sie denn eine Lösung oder irgendeine Variante, die besser ist als das, was gerade gemacht wird?
Lacher: Ja. Im Oktober hat der Vorgänger vom jetzigen UN-Gesandten Martin Kobler, nämlich Bernardino León, Vorschläge für die Zusammensetzung einer Regierung gemacht, das heißt auch die personelle Zusammensetzung. Die VN hat seitdem auf diesen Vorschlägen bestanden, hat gesagt, die werden nicht wieder neu ausgehandelt, obwohl diese Vorschläge in Libyen - und zwar von allen Lagern - sehr, sehr kontrovers aufgenommen wurden. Man hatte anscheinend Angst, dass, wenn jetzt neu verhandelt wird, das Ganze wieder zu lange dauert. Das ist das eine. Man hätte den Verhandlungen mehr Zeit geben müssen. Das andere ist: Man müsste die bewaffneten Gruppen auch in den Prozess einbinden, denn es ist momentan die große Frage, ob die Regierung überhaupt in Tripolis irgendwann ihre Amtsgeschäfte aufnehmen kann. Bisher gab es keine Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen, die Tripolis kontrollieren und die in Sicherheitsarrangements eingebunden werden müssten, damit die Regierung in Tripolis arbeiten kann. Wenn sie nicht in Tripolis sitzt, ist die Regierung machtlos.
Simon: Die Analyse von Wolfram Lacher, dem Libyen-Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Lacher, vielen Dank dafür.
Lacher: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.