In Bengasi scheint es, als wolle die Revolution nicht aufhören. An der Hafenpromenade, auf dem großen Platz vor dem alten Gerichtsgebäude, versammeln sich Hunderte, schwenken Bilder Omar Mokhtars, des Kämpfers gegen die italienischen Kolonialherren, und fordern die Autonomie Ostlibyens.
Der Ostlibyer Aly el Kothany kann diesen Wunsch nachvollziehen.
"Libyen war früher ein Bundesland. Wir haben drei Bundesländer, wir haben Cyrenaika, Osten, Tripolitanien, wo Tripolis ist, Misrata. Und im Süden Fezzan. Aber dieses System wurde abgeschafft und zentralistisch in Tripolis ... damit Gaddafi alles kontrolliert."
Der weißhaarige Brillenträger hat jahrzehntelang als Arzt in Bayern praktiziert. Vor ein paar Monaten ernannte der Übergangsrat ihn zu seinem Vertreter in Berlin. Für Botschafter Kothany liegt der Vergleich mit Deutschland nahe. Der von Gaddafi erzwungene Zentralismus, so meint er, gleiche dem künstlichen Zentralismus der DDR.
"Das Erste, denke ich: Die Leute kommen wieder auf dieses alte System, dass drei Bundesländer, dass wenigstens jeder in seinem Bundesland alles regeln kann und irgendwie die Macht geteilt ist."
Das klingt nach einem historisch gewachsenen Föderalismus wie in Deutschland oder in den USA. Doch als im März 2012 eine Versammlung ostlibyscher Stammesführer und Milizenchefs die Autonomie erklärte und Ahmed al Subair al Senussi zum Repräsentanten wählte, einen Verwandten des letzten libyschen Königs Idris, da brachen in Bengasi Straßenkämpfe aus. Es gab einen Toten und viele Verletzte. Noch immer stehen sich die Anhänger und die Gegner der Autonomie auf Bengasis Straßen gegenüber.
Der provisorische Regierungsrat ist in der Frage tief gespalten. Scheich Nabil Sadi, ein junger Geistlicher, der dem Regierungsrat nahe steht, pocht in seinen Predigten auf die Werte Einheit und Gemeinsamkeit. Im Gespräch nach der Predigt lässt Scheich Nabil Sadi wenig Zweifel daran, wie er es mit Föderalismus und Autonomie hält. Und handelt bei dieser Gelegenheit gleich die Frage des Pluralismus mit ab:
"Wir sind ein Land. Ein einziger Stamm, ein Volk. Und wir sind allesamt Muslime, deshalb ist das Scharia-Recht das für uns angemessene Recht."
Salwa Boughaigis, im Übergangsrat Vertreterin der Stadt Bengasi und Revolutionärin der ersten Stunde, pocht hingegen auf ein strikt säkulares System.
"An aller erster Stelle muss die Gewaltenteilung stehen. Vor Gaddafi orientierten sich die libyschen Gesetze am französischen Modell. Zu diesem Modell sollten wir zurück."
Einheitsstaat, Autonomie, Rechtssystem, egal, worüber sich die Mitglieder des Übergangsrats die Köpfe heiß reden – wer durch Bengasi Richtung Stadtrand fährt, den beschleicht das Gefühl, bei all dem handele es sich um eine akademische Diskussion. Junge Männer in Uniformteilen stehen überall herum, Gewehre in der Hand. Ihre Fahrzeuge tragen die Logos unterschiedlicher Milizen. Die Führer solcher Kampfgruppen sind es, die de facto ganze Regionen kontrollieren. Sie bestimmen über Recht, Gesetz und Politik.
Zwischen zwei Wohnvierteln stoppen Milizionäre unser Auto. Gaddafi-Anhänger trieben sich hier irgendwo herum, so rechtfertigen sie ihre Kontrolle. In ihr Hauptquartier mitkommen? Kein Problem, entgegen sie und fahren uns zu einer ehemaligen Polizeistation voraus. Hinter Mauern stehen auf einem Innenhof die Pickup-Wagen der Miliz. In einem heruntergekommenen Bungalow-Gebäude befinden sich Büros und Gefängniszellen. Der Milizenchef sitzt an seinem Schreibtisch und verhört gerade einen Schwarzafrikaner.
"Ich bin 19 Jahre", sagt der Gefangene und stamme aus der Stadt Sabha im Süden. "Ich bin Libyer und habe einfach im Norden Arbeit gesucht." "Wo ist dein Pass?", will der Milizenchef wissen: "Wo ist dein libyscher Ausweis?" Den kann der Mann nicht vorweisen. Er gehöre zu den Tuareg und sei Nomade. Nomaden hätten keine Pässe. Der Milizenkommandeur glaubt ihm das nicht. Er beschuldigt ihn, sich unter einer falschen Identität hier eingeschlichen zu haben. In Wirklichkeit sei er Gaddafi-Söldner, hergekommen, um Unfrieden zu säen.
Gewaltenteilung, französisches Rechtsmodell. Was Salwa Boughaigis, die Vertreterin der Stadt Bengasi, zum Prinzip erhebt, ist hier so viel wert wie der Kehricht, der hier überall auf dem Boden liegt. In ihrem im Februar 2012 erschienenen Bericht prangert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schwere Untaten der Milizen an: willkürliche Verhaftungen, Behandlungen mit Elektroschocks, Folter mit Todesfolge. Hier jedenfalls bleibt dem Gefangenen keine Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren.
Im Zentrum von Bengasi führt Botschafter Aly el Kothany durch das Geheimgefängnis, das sich unter der Katiba befindet, Gaddafis ausgebrannter Stadtresidenz. Seit die Revolutionäre sie in den ersten Tagen des Aufstands entdeckt haben, steht sie offen – als eine Art Museum der Menschenrechtsverletzungen, meint el Kothany:
"Das ist eine Rampe abwärts, die geht ins Gefängnis hinein, das ist alles dunkel, muss man vorsichtig gehen, das geht immer tiefer acht bis zehn Meter unter der Erde, jetzt spielen Kinder hier, die kommen mit ihren Eltern, um das zu besichtigen. Manche sind entsetzt, die anderen finden das unglaubhaft."
Es ist kalt hier, modrig und stockfinster. Unmöglich, die Dimensionen mit der Taschenlampe auszuleuchten. Der Lichtkegel verliert sich. Man kann nur ahnen, dass dieser Hohlraum unter der Erde Tausende Quadratmeter weit reichen muss. Eine begehbare Gruft, groß wie ein Fußballfeld, nichts als ein perfekt asphaltierter, durch Betonsäulen abgestützter Raum.
Hier ließ Gaddafi seine Gegner auf Nimmerwiedersehen verschwinden, zur Folter abholen und erneut einkerkern – Symbol einer im Wortsinn schwarzen Vergangenheit. Doch was hier Museum ist, ist anderswo Alltag. Während die Einen befreit wurden, fängt für die Anderen das Martyrium erst an, nur wenige Meter von hier entfernt.
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Der weißhaarige Brillenträger hat jahrzehntelang als Arzt in Bayern praktiziert. Vor ein paar Monaten ernannte der Übergangsrat ihn zu seinem Vertreter in Berlin. Für Botschafter Kothany liegt der Vergleich mit Deutschland nahe. Der von Gaddafi erzwungene Zentralismus, so meint er, gleiche dem künstlichen Zentralismus der DDR.
"Das Erste, denke ich: Die Leute kommen wieder auf dieses alte System, dass drei Bundesländer, dass wenigstens jeder in seinem Bundesland alles regeln kann und irgendwie die Macht geteilt ist."
Das klingt nach einem historisch gewachsenen Föderalismus wie in Deutschland oder in den USA. Doch als im März 2012 eine Versammlung ostlibyscher Stammesführer und Milizenchefs die Autonomie erklärte und Ahmed al Subair al Senussi zum Repräsentanten wählte, einen Verwandten des letzten libyschen Königs Idris, da brachen in Bengasi Straßenkämpfe aus. Es gab einen Toten und viele Verletzte. Noch immer stehen sich die Anhänger und die Gegner der Autonomie auf Bengasis Straßen gegenüber.
Der provisorische Regierungsrat ist in der Frage tief gespalten. Scheich Nabil Sadi, ein junger Geistlicher, der dem Regierungsrat nahe steht, pocht in seinen Predigten auf die Werte Einheit und Gemeinsamkeit. Im Gespräch nach der Predigt lässt Scheich Nabil Sadi wenig Zweifel daran, wie er es mit Föderalismus und Autonomie hält. Und handelt bei dieser Gelegenheit gleich die Frage des Pluralismus mit ab:
"Wir sind ein Land. Ein einziger Stamm, ein Volk. Und wir sind allesamt Muslime, deshalb ist das Scharia-Recht das für uns angemessene Recht."
Salwa Boughaigis, im Übergangsrat Vertreterin der Stadt Bengasi und Revolutionärin der ersten Stunde, pocht hingegen auf ein strikt säkulares System.
"An aller erster Stelle muss die Gewaltenteilung stehen. Vor Gaddafi orientierten sich die libyschen Gesetze am französischen Modell. Zu diesem Modell sollten wir zurück."
Einheitsstaat, Autonomie, Rechtssystem, egal, worüber sich die Mitglieder des Übergangsrats die Köpfe heiß reden – wer durch Bengasi Richtung Stadtrand fährt, den beschleicht das Gefühl, bei all dem handele es sich um eine akademische Diskussion. Junge Männer in Uniformteilen stehen überall herum, Gewehre in der Hand. Ihre Fahrzeuge tragen die Logos unterschiedlicher Milizen. Die Führer solcher Kampfgruppen sind es, die de facto ganze Regionen kontrollieren. Sie bestimmen über Recht, Gesetz und Politik.
Zwischen zwei Wohnvierteln stoppen Milizionäre unser Auto. Gaddafi-Anhänger trieben sich hier irgendwo herum, so rechtfertigen sie ihre Kontrolle. In ihr Hauptquartier mitkommen? Kein Problem, entgegen sie und fahren uns zu einer ehemaligen Polizeistation voraus. Hinter Mauern stehen auf einem Innenhof die Pickup-Wagen der Miliz. In einem heruntergekommenen Bungalow-Gebäude befinden sich Büros und Gefängniszellen. Der Milizenchef sitzt an seinem Schreibtisch und verhört gerade einen Schwarzafrikaner.
"Ich bin 19 Jahre", sagt der Gefangene und stamme aus der Stadt Sabha im Süden. "Ich bin Libyer und habe einfach im Norden Arbeit gesucht." "Wo ist dein Pass?", will der Milizenchef wissen: "Wo ist dein libyscher Ausweis?" Den kann der Mann nicht vorweisen. Er gehöre zu den Tuareg und sei Nomade. Nomaden hätten keine Pässe. Der Milizenkommandeur glaubt ihm das nicht. Er beschuldigt ihn, sich unter einer falschen Identität hier eingeschlichen zu haben. In Wirklichkeit sei er Gaddafi-Söldner, hergekommen, um Unfrieden zu säen.
Gewaltenteilung, französisches Rechtsmodell. Was Salwa Boughaigis, die Vertreterin der Stadt Bengasi, zum Prinzip erhebt, ist hier so viel wert wie der Kehricht, der hier überall auf dem Boden liegt. In ihrem im Februar 2012 erschienenen Bericht prangert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schwere Untaten der Milizen an: willkürliche Verhaftungen, Behandlungen mit Elektroschocks, Folter mit Todesfolge. Hier jedenfalls bleibt dem Gefangenen keine Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren.
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Es ist kalt hier, modrig und stockfinster. Unmöglich, die Dimensionen mit der Taschenlampe auszuleuchten. Der Lichtkegel verliert sich. Man kann nur ahnen, dass dieser Hohlraum unter der Erde Tausende Quadratmeter weit reichen muss. Eine begehbare Gruft, groß wie ein Fußballfeld, nichts als ein perfekt asphaltierter, durch Betonsäulen abgestützter Raum.
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