Etwa vierzig Männer und ein paar Frauen drängen sich in dem Großraumbüro einer Bank in der libyschen Küstenstadt Misrata. Sie wirken angestrengt und etwas gehetzt, einige auch verängstigt. Manche sind an diesem Morgen schon 240 Kilometer weit gefahren, nur um etwas Geld abzuholen. Andere sind schon am Vortag gekommen und haben bei Verwandten übernachtet. Sie alle wohnen in Sirte, der Hochburg der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Libyen.
Weil sie nur montags Geld abheben dürfen, ist der Andrang heute so groß. Trotzdem warten sie geduldig in einem Büro im ersten Stock der Commercial National Bank. Ali Ismail Sveheli leitet die Filiale in Misrata.
IS nennt Bankgeschäfte "unislamisch"
"Wir hatten 40 Angestellte in unserer Filiale in Sirte. Aber seit drei Monaten müssen sie alle zu Hause bleiben, der so genannte Islamische Staat hat allen befohlen, ihre Filialen zu schließen, weil das Bankgeschäft angeblich unislamisch ist. Unsere Kundinnen und Kunden müssen hierher nach Misrata kommen, um Geld abzuheben. Auch aus den Städten Zliten und Al Khums und aus dem Süden Libyens kommen die Leute zu uns, weil wir unsere Filialen dort aus Sicherheitsgründen immer wieder schließen müssen. Da wir jetzt so viel mehr Kunden haben, mussten wir die Beträge begrenzen. Sonst hätten wir innerhalb weniger Tage kein Geld mehr, noch nicht einmal für unsere normalen Kunden aus Misrata."
Über die Situation in Sirte wollen viele der Wartenden nicht sprechen, aus Angst vor Strafen der Terrormiliz. Ein Kunde ist nach kurzem Zögern dann doch bereit zum Gespräch. Aber nur, wenn sein Name nicht genannt wird.
"Am meisten macht uns unsere Angst vor den Milizionären zu schaffen. Andererseits funktionieren einige Dinge im Alltag ganz normal, zum Beispiel sind die Schulen noch offen."
Milizionäre verordnen Bart und Rauchverbot
Der Bankkunde kommt auf seinen Bart zu sprechen: Den hat er sich wachsen lassen, weil die Milizionäre das verlangen. Außerdem reicht seine Hose nur bis zu den Knöcheln – auch das eine Vorschrift radikaler Islamisten. Er befolge sie notgedrungen, sagt der Kunde, um nicht bestraft zu werden. An jedem der vielen Kontrollposten in der Stadt habe er Angst – immer frage er sich, ob er vielleicht doch etwas falsch gemacht habe. Die Milizionäre des so genannten Islamischen Staates, erzählt er weiter, bestrafen jeden Verstoß gegen ihre Regeln drakonisch.
"Nachts gilt eine Ausgangssperre. Das Rauchen ist auch verboten. Und wenn ein Ladenbesitzer sein Geschäft nicht während der täglichen Gebetszeiten schließt und zum Beten in die Moschee geht, machen die Islamisten seinen Laden für immer dicht."
Mehrere Menschen öffentlich hingerichtet
Strafen werden öffentlich vollstreckt, erzählt der Kunde aus Sirte. Die Islamisten haben, so berichtet er, auch schon mehrere Menschen öffentlich hingerichtet. Erst in der Vorwoche sei einer Frau mit einer Axt der Kopf gespalten worden. Anschließend habe man sie mit Kugeln durchsiebt, weil sie angeblich eine Hexe war. Ehe ihm das Gespräch doch zu heikel wird, ergänzt der Kunde noch, dass er für die libysche Küstenwache gearbeitet hat, bis der so genannte Islamische Staat die Stadt Sirte übernahm. Immerhin hat er mit seiner Frau und seinen Eltern noch immer genug Geld zum Leben: In der Filiale in Misrata hebt er das Gehalt seines Vaters ab, eines Lehrers.
Geheimdienst: IS weitet sich ständig aus
Verbarrikadiert hinter hohen Mauern und Stacheldraht, liegt der Sitz des militärischen Geheimdienstes von Misrata. Er ging aus dem Dienst des gestürzten Diktators Gaddafi hervor und behauptet von sich, er sei in den politischen Machtkämpfen des Landes neutral. Tatsächlich steht er aber wohl den Revolutionsbrigaden in der Hauptstadt Tripolis nahe. Ismael al Shukri leitet den militärischen Geheimdienst von Misrata.
"Ich halte die jetzige Situation für sehr gefährlich, weil der IS sich ständig weiter ausbreitet. Die libyschen Konfliktparteien müssen den Islamischen Staat so schnell wie möglich gemeinsam bekämpfen."
Shukri schätzt die Stärke der Islamisten auf bis zu 2000 Kämpfer. Andere halten auch 3000 IS-Mitglieder in Libyen für möglich. Dabei haben viele offenbar keine religiösen Motive. Meint jedenfalls Geheimdienstchef Shukri.
Gaddafi-Anhänger jetzt beim IS
"Etliche Anhänger des gestürzten Diktators Gaddafi haben sich dem IS angeschlossen. Und zwar nach dem Prinzip: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Sie kämpfen an der Seite der Islamisten gegen die Gegner des ehemaligen Regimes. In den Reihen der Terrormiliz fühlen sie am sichersten."
Von verschiedenen libyschen Quellen ist außerdem zu hören, dass der so genannte Islamische Staat auch Migranten und Flüchtlinge rekrutiert. Sei es unter Androhung von Gewalt, sei es mit dem Versprechen eines Soldes. Angeblich zahlt der IS monatlich 2000 libysche Dinar, etwa 600 Euro. Damit wäre die Terrormiliz für Flüchtlinge und Migranten in Libyen einer der lukrativsten Arbeitgeber. Ismael al Shukri bestätigt diese Information. Und warnt eindringlich davor, der Terrormiliz Erdölquellen zu überlassen.
"Sie wäre dort durch Luftschläge leicht zu besiegen. Normalerweise zieht sich der IS in Städte oder unwegsames Gelände zurück und meidet offene Flächen."
"Ich lebe in ständiger Angst"
Die Bevölkerung beobachtet das alles mit Sorge. Das gilt erst recht für die Kunden aus Sirte, die in der Bankfiliale in Misrata warten. Ein Mann mittleren Alters kommt auf das Mikro zu, er möchte gerne etwas sagen.
"Ich lebe in ständiger Angst. Um mich und um meine Familie. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass sie jemanden von uns entführen, um Lösegeld zu erpressen."
Er arbeitet beim staatlichen Elektrizitätswerk von Sirte, es liefere immer noch Strom. Womöglich ist er nur deshalb sicher, weil die Terrormiliz die Stromversorgung nicht unterbrechen will. Andererseits ist er vielleicht besonders gefährdet, weil er auf der Gehaltsliste der Regierung steht. So schwankt er ständig zwischen Todesangst und Gelassenheit – ein Zustand, der ihn auf Dauer zermürbt. So wie ihm geht es wohl vielen Menschen in Sirte und anderen libyschen Städten.