Archiv


Licht auf den Freudschen Familienkosmos

Knapp 300 Briefe haben Sigmund und seine Tochter Anna Freud gewechselt. Sie zeugen von einem tiefen Einvernehmen, das gewiss auch daraus resultiert, dass Anna die Autorität ihres Vaters niemals in Frage stellte. Ingeborg Meyer-Palmedo hat den Briefwechsel aus dem Jahren 1904 bis 1938 herausgegeben.

Von Christoph Bartmann | 06.09.2006
    "Lieber Papa!", schreibt die 14-jährige Anna Freud im September 1913 an ihren Vater, der gerade auf Italienreise ist. "Morgen ist dein Hochzeitstag; ist das nicht eine Ausrede, um Dir besonders viele Grüße und Küsse zu schicken?" Das ist der vorherrschende Ton in den vielen Briefen, die Anna Freud in drei Jahrzehnten an Sigmund Freud geschrieben hat; es ist der Ton einer überschwänglichen Zuneigung, einer unablässigen Werbung um Nähe, Liebe und Aufmerksamkeit.

    Knapp 300 Briefe haben Sigmund und Anna Freud gewechselt, den letzten davon schreibt Sigmund Freud im August 1938, als er schon von Wien nach London emigriert ist, an seine bei einem psychoanalytischen Kongress in Paris weilende Tochter. In den Jahren davor ist die Korrespondenz fast zum Erliegen gekommen, nicht weil sich die Briefschreiber voneinander entfernt hätten, sondern weil sie sich nun fast ständig nahe sind. Der vorliegende Briefwechsel ist in seinen unterschiedlichen Zeitintervallen wie ein Logbuch, das räumliche Ferne und Nähe verzeichnet. Man schreibt sich vor allem aus den Ferien und von sonstigen Reisen, Anna erzählt von ihren Studien- und Arbeitsaufenthalten, aber in der Regel ist man sich räumlich nahe. Dies gilt vor allem für die Jahre ab 1920, als Anna Freud sich entschieden hat, dem an Krebs erkrankten Vater als Pflegerin zur Seite zu stehen und zugleich seiner Wissenschaft zu dienen - zunächst als seine Assistentin und Mitarbeiterin und später selbst als Psychoanalytikerin.

    Die Briefe, die Ingeborg Meyer-Palmedo in langjähriger Arbeit ediert und mit minutiösen Anmerkungen versehen hat, werfen ein Licht auf den Freudschen Familienkosmos ebenso wie auf die frühen Jahre der Psychoanalyse, die man sich selbst als eine Familienangelegenheit vorzustellen hat. Freud, dessen erster Brief an die neunjährige Tochter bereits den ebenso zärtlichen wie fürsorglichen Affekt ahnen lässt, mit dem er Annas Lebensweg verfolgen wird, Freud ist ein pater familias, der trotz seines ungeheuren Arbeitspensums die Belange seines Clans niemals aus den Augen verliert und ihn mit sanfter Hand dirigiert. Zugleich hat er sich in seinen psychoanalytischen Schülern und Anhängern einen weiteren Familienverband geschaffen, den er deutlich autoritärer, mit Ausschlüssen und Abstrafungen auf der einen, mit Auszeichnungen und Verbundenheitsriten auf der anderen Seite in seinem Sinne organisiert. Nicht selten berühren sich die beiden Familienwelten, etwa als Freud Grund zu der Annahme zu haben glaubt, sein englischer Mitstreiter Ernest Jones habe ein Auge auf Anna geworfen und gedenke sie zu ehelichen. "Von unserer Seite", schreibt Freud 1914 der bei Jones zu Besuch weilenden Tochter mit, "kommt unser Wunsch in Betracht, dass Du Dich nicht in so jungen Jahren binden oder verheiraten sollst, ehe Du etwas mehr gesehen, gelernt, erlebt und an Menschen erfahren hast. ( ... ) In dieser Hinsicht ist Dr. Jones, der den 35 nicht ferne sein kann und bald eine Frau braucht, auch sehr ungeeignet." Davon allerdings brauchte Anna gar nicht überzeugt zu werden, denn sie hat schon vorher - und dies nicht zu ihres Vaters voller Freude - erklärt, dass sie sich aus der Ehe ohnehin nichts mache.

    Es gibt kaum offene Konflikte, sondern ein tief gehendes Einvernehmen in diesen Briefen, das gewiss auch daraus resultiert, dass Anna die Autorität ihres Vaters niemals in Frage stellt. Und da der Vater ihr nicht nur als leiblicher Vater, sondern als Gründervater der Psychoanalyse begegnet, hat die Anerkennung seiner Autorität Folgen nicht nur für ihr privates Dasein. Nach einer Ausbildung und einigen Berufsjahren als Lehrerin wendet sich Anna Freud der Psychoanalyse zu, lernt die Lieblingsschüler ihres Vaters - etwa Lou Andreas-Salomé, Ferenczi, Abraham und andere - kennen und absolviert 1918 eine Analyse bei ihrem Vater. Hat die Korrespondenz der Beiden als ein Austausch über die Alltäglichkeiten im Leben einer bürgerlichen Familie begonnen - Ferienreisen, Naturerlebnisse, Geld- und Wohnungsfragen, Familienfeste und Trauerfälle und was der Schreibanlässe in einer weitverzweigten Sippe mehr sind - , so tritt in der Folge immer stärker die Sache der Psychoanalyse in den Vordergrund. Schon früh gibt Sigmund Freud das Besondere an Annas Naturell zu denken, ihr offenkundiges Desinteresse am vorgezeichneten Lebensweg einer bürgerlichen Tochter, ihr, wie es dem Vater scheint, Rückzug von den "Zerstreuungen Deines Alters" und ihre Neigung, in allen Dingen des Lebens ein "leidenschaftliches Übermaß" an den Tag zu legen, was häufige Enttäuschungen und ein Gefühl des Ungenügens mit sich bringt. In Anna, dem jüngsten und eigenwilligsten seiner sechs Kinder, sieht Freud das Schicksal der Psychoanalyse (beide kamen, wie er sagt, im selben Jahr, 1895, "zur Welt") re-inkarniert, nur mit glücklicherem Ausgang: "An Dir sehe ich jetzt", schreibt er ihr zum Geburtstag, "wie alt ich bin, denn Du bist so alt wie die Psychoanalyse. Beide haben mir Sorgen gemacht, aber im Grunde erwarte ich doch mehr Freude von Dir als von ihr."

    Anna Freud hat ihrem Vater wohl tatsächlich mehr Freude als Sorgen bereitet, sie hat den väterlichen Familienbetrieb namens Psychoanalyse erst dienend, dann zunehmend eigenständig mitverwaltet, mitorganisiert, und sie ist nach Freuds Tod zu seiner Stellvertreterin auf Erden geworden. Dass sie sich die Kinderanalyse zum wissenschaftlichen Arbeitsfeld gewählt hat und mit ihm dann eigenen Ruhm erwarb, mag mit dieser familiären Disposition zusammenhängen. Weit davon entfernt in ein Konkurrenzverhältnis zu treten, entscheidet sie sich für ein vom Vater vorbereitetes, aber noch nicht gänzlich erschlossenes Feld der Analyse; und zugleich spiegelt sich in ihrer Kinder-Psychoanalyse die eigene lebenslange Prägung durch einen übergroßen Vater oder, anders gesagt, die eigene lebenslange Kindschaft. Es ist ein beeindruckendes Zeugnis produktiver Familienbande, ja produktiver Abhängigkeit, das wir mit diesem Briefwechsel, dem in den nächsten Jahren weitere Teile der Freudschen Familienkorrespondenz folgen werden, in die Hand bekommen.