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Liebesroman aus Frankreich
Ungleiche Menschen, unglückliche Affäre

Als "Balzac des 21. Jahrhunderts" in Frankreich gefeiert, kennen Serge Joncour hierzulande nur wenige. Mit "Lehn Dich an mich" erscheint nun sein Roman über eine Amour fou zweier Pariser, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Von Jürgen Deppe |
Serge Joncour
Meister der Amour fou: Serge Joncour (imago stock&people / MOLLONA Leemage)
Lehnt man zwei Fragezeichen – das erste seitenverkehrt – aneinander, dann ergibt sich daraus die Form eines Herzens. Mit etwas Phantasie. So gegensätzlich die Hauptfiguren dieses Romans auch sind, sie werden beide getrieben von Phantasien, Träumen und Wunschvorstellungen: Ludovic, der ungehobelte, grobschlächtige Bauernbursche vom Lande, ließ Saint-Sauveur, tief in der französische Provinz, vor zwei Jahren sechshundert Kilometer weit hinter sich, um in Paris heimisch zu werden. Wobei ihm das in all der Zeit nie gelungen ist, das Heimischwerden.
"In den zwei Jahren, die er nun schon in Paris lebt, ist er weder Freundschaften noch Beziehungen eingegangen, Leute trifft er so gut wie nie. Bei den Arbeitszeiten ist er unabhängig, dreimal im Monat geht er ins Büro zu den Teambesprechungen, ansonsten ist er sein eigener Chef. Alles in allem spricht er nur mit den Leuten, die er »besucht«, mit seinen Klienten, was gar nicht so wenig ist."
Der gute Böse
Ludovics Klienten sind Schuldner, arme Schlucker, sozial am Rand Stehende, die anderen Geld schulden. Sein Job ist es, diese Schulden einzutreiben.
"In solchen Fällen besinnt er sich auf die imponierende Breite seiner Schultern, ein Meter fünfundneunzig auf hundertzwei Kilo, solange er finster dreinblickt, weiß er, Eindruck zu schinden, dabei will er niemanden verängstigen, nur demonstrieren, dass er nicht der Typ ist, der sich rühren, erweichen lässt, was ihm meistens recht gut gelingt."
So trifft er auf alleinerziehende Mütter, bei denen es vorne und hinten nicht reicht, oder altersarme Großmütter, die ihren Enkeln um jeden Preis Gutes tun wollen. Dort macht er seinen Job. So gut es geht.
"Wird er jedoch nach seinem Beruf gefragt, antwortet er, er arbeite in der Rechtsberatung. Er ist ohnehin kein geschwätziger Mensch, zumal er den Parisern gegenüber große Komplexe hat. Sie lassen ihn spüren, dass er nicht von hier ist."
Schön, reizbar, mürrisch, brünette – das Spiel beginnt
Das lässt auch Aurore ihn spüren, Aurore Dessage, seine mondäne Nachbarin aus dem noblen Vorderhaus mitten in Paris, "die reizbare Schöne, die mürrische Brünette", wie Ludovic sie für sich nennt. Sie ist das Gegenteil von Ludcovic, ist seit Jahren im Verbund mit ihrem Geschäftspartner Fabian angesagte Modedesignerin, ist mit dem vor Erfolg nur so strotzenden amerikanischen Geschäftsmann Richard verheiratet, ein Mustermann par excellence. Aurore hat ein Stief- und zwei eigene Kinder mit ihm.
Alles, was die Klischeekiste so hergibt!
Die Karten sind also verteilt an Serge Joncours Spieltisch, den der süffige Titel "Lehn Dich an mich" überstrahlt: Hier die Schöne, Aurore, la belle. Da das Biest, Ludovic, la bête. Und natürlich hat sie, die schicke Pariserin, nicht viel übrig für ihren grobschlächtigen Nachbarn aus dem Hinterhaus, auch wenn er für sie die Krähen im Hof kalt macht, dieser Quasimodo vom Lande. Obwohl: "Das Bild dieses Mannes beeindruckte sie, weil es schlicht diese Festigkeit ausstrahlte, mineralisch, natürlich, ungeschliffen." Auch Ludovic hält nicht viel von der selbstverliebte Großstädterin. Obwohl: "Diese Frau stand für alles, was er an Paris hasste, für alles, was ihn abwies, alles, was er hätte fliehen müssen, und doch fühlte er sich zu ihr hingezogen. Bedingungslos hingezogen."
Ganz Paris träumt von der Liebe …
Die in Liebesromanen schon millionenfach gestellte Frage, ob sich die Beiden am Ende kriegen, stellt sich hier (wenn sie sich in diesem überschaubare schwarz-weiß-Konstrukt überhaupt je gestellt hat) schon sehr bald nicht mehr. Die ungleichen Nachbarn vis-à-vis des Innenhofs beginnen ad hoc eine Affäre:
"Kaum waren ihre Münder vereint, gab es kein Halten mehr, sie ließ seine Hände, wohin sie nur wollten, sie ließ die Zügel schießen wie damals als junges Mädchen, befreite sich von diesem allzu aufmerksamen Leben, das da drüben auf sie wartete, und im vollen Bewusstsein, den verhängnisvollen Fehler zu begehen, den unwiderruflichen Seitensprung, küsste sie diesen Mann wild und fühlte sich weit weg driften, die dumpfe Befürchtung war nur noch ein Glas Wasser, geschüttet auf ein Flammenmeer."
Ja, da poltert das Pathos, dass die Scheiben beschlagen! Aber so dick aufgetragen ist die recht dünne Geschichte: Er, der Bauerntölpel, verloren auf den Boulevards der chicen Metropole. Sie, die Modedesignerin, die wegen der Alleingänge ihres Partners Fabian ihre Geschäfte genauso den Bach runtergehen sieht wie ihre ach-so-vorbildliche Vorzeige-Ehe.
Fragezeichen, die kein Herz ergeben
Fragezeichen bei ihm, Fragezeichen bei ihr. Zusammen könnte das – wie gesagt – ein Herz ergeben, denn schließlich scheinen sie sich zu ergänzen, scheinen sie sich zu gebrauchen. Oder zu doch eher zu missbrauchen?
Zumindest bei Ludovic wachsen die Zweifel. Hat Aurore seine Kraft und Stärke, seine Unbedarftheit in Geschäftsangelegenheit, aber seine Erfahrung im Geldeintreiben nicht die ganze Zeit schamlos ausgenutzt, bis bei ihm dann tatsächlich wieder einmal der Grobian durchbricht, der Choleriker, dem alle Sicherungen durchbrennen und der sich ihretwegen in Teufels Küche bringt?
"Womöglich hatte diese Frau ihm von Anfang an ihr sanftes Gift eingeflößt, sodass er selbst das Gefühl hatte, giftig zu werden, krank, unmerklich beeinflusste sie ihn, manipulierte ihn ohne direkten Hintergedanken, unwillkürlich drifteten beide in Grenzbereiche ab, in denen sie skrupellos wurden, den Boden unter den Füßen verloren; seit sie sich kannten, taumelten sie ihrem Untergang entgegen, obwohl sie nur der natürlichen Regung der Seele folgten, ihrer beider Seelen. Diese Beziehung schadete ihnen."
Doch sie treiben ihre amour fou so weit, dass sie schließlich – im eher schlichten Metaphernsalat von Tauben und Krähen – ins Eis einbrechen.
Aurore hat sich zu entscheiden zwischen ihrem Geschäft, ihrem Ehemann und ihrem Seitensprung. Und so oft Serge Joncour in diesem Roman auch noch die haarsträubendsten und kitschigsten Klischees bemüht, hier bleibt er ganz bei dem, was landläufig das Wahrscheinlichste ist: alles kehrt nach dem kleinen Abenteuer an die Ausgangsposition zurück. Es ist, als würde Esmeralda Quasimodo zum tränenreichen Abschied noch einmal zärtlich "C’est la vie" zuhauchen.
Serge Joncour: "Lehn Dich an mich"
Aus dem Französischen übersetzt von Paul Sourzac
Secession Verlag für Literatur, Zürich. 368 Seiten, 24 Euro.