In seinem ganzen Leben war er gerade zehn Mal im Kino. Er ist sich auch nicht sicher, ob es sich beim Film überhaupt um eine Kunstform handelt. Dabei stockt die eigene Kunstproduktion momentan erheblich. Der englische Schriftsteller, der die Mitte des Lebens überschritten und seine Frau verloren hat, der ein Haus in der Nähe Londons bewohnt und seinen monotonen, insulären Alltag von einer Haushälterin versorgen läßt, hat vier Romane mit mäßigem Erfolg geschrieben und ist zum Essayistischen zurückgekehrt. Gerade liest er die Fahnen seines Buches "Die Bewohnbarmachung der Leere" und beschmunzelt seine Fehlleistung, die Namen der beiden französischen Philosophen Bachelard und Bataille verwechselt zu haben. Da wird sein Leben von einem Erdbeben erfaßt.
Ihn erwischt die Leidenschaft zu einem jungen Mann und ihn erwischt, was er am meisten verachtet: das Banale und die Kulturwelt des Banalen. Denn der junge Mann ist ein Darsteller in einem Teenie-Film der dümmsten Sorte, in den der Schriftsteller durch Zufall hineingeriet, als er sich vor einem Regenguß rettete. Und all das, was seine kindliche, aber existentielle Leidenschaft ihn ab nun zu tun zwingt, ist ebenfalls von der dümmsten Sorte. Er fährt nach London, um an Kiosken unerkannt stapelweise Teenie-Zeitschriften zu kaufen. Er schneidet die Bildchen seines Schwarms Ronnie Bostock aus, klebt sie in ein Poesiealbum und frißt die Bildkommentare wie die zehn Gebote in sich hinein. Er wird dem Leser bei all dem, bei diesem Abdriften seiner Identität, nicht automatisch sympathischer. Aber er wird auf furchtbare Weise menschlich.
Mit der Darstellung der Klimax, der zwanghaften inneren Logik dieser Selbstentwürdigung ist Gilbert Adair in dem kleinen Roman "Liebestod auf Long Island" ein erzählerisches Meisterstück gelungen. Mit dem ganzen Buch eine spannende und produktive Adaption von Thomas Manns "Tod in Venedig". Die deutsche Vorlage verhält sich zum englischen Remake wie das Brustporträt zur extremen Nahaufnahe. Wir erkennen Gustav Aschenbach exakt wieder. Was er fühlte, was ihn hinter Tadzio hertrieb, deckt sich mit dem Psychogramm des Jahrzehnte jüngeren Engländers.
Aber wir sehen ihn gleichsam aus der Poren- und Neurosennähe, die den Mythos der platonischen Männerpassion entzaubert und die Todesästhetik erhellt. Souverän ist der Roman vor allem in der Lenkung der narrativen Linie, die teilweise mit den Episoden in Thomas Manns Erzählung ganz parallel läuft, teilweise von ihr abweicht. Den geckenhaften Frisörbesuch kurz vor dem Finale hat Gilbert Adair beibehalten, ebenso das echauffierende Gerenne auf den Spuren des Geliebten und seines Schattens. Der Lido ist bei Adair sinnigerweise Long Island, denn der besessene Schriftsteller überquert tatsächlich den Atlantik, um Ronnie Bostock, den er nur als Zelluloid- und Zeiltungsbild kennt, endlich mit Händen greifen zu können. Beibehalten hat Adair auch die Ambivalenz zwischen homosexuellem Coming-Out und einmaliger fixer Idee.
Die gravierenden Unterschiede liegen in der Verlagerung der ganzen Vernarrtheit in die zweite Wirklichkeit und dem wilden Bestreben des Vernarrten, sie durch erste Wirklichkeit zu ersetzen. Wobei sich die Art, wie der englische Schriftsteller Ronnie Bostock verfolgt, von den Nachstellungen eines paranoiden Fans, diesem Geschöpf des Medienlebens nur wenig unterscheidet. Gilbert Adair zeigt, daß die Projektion auf das Bild Ronnie Bostock und die Jagd auf das Objekt Ronnie Bostock nur vordergründig der Liebe dienen. Insgeheim handelt es sich um Strategien eines symbolischen Mordes. Als Person ist Ronnie Bostock schon längst erledigt, als der englische Schrifsteller ihn persönlich trifft. Deshalb kann die Erzählung ihn am Ende auch, anders als Tadzio, am Leben lassen.