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Liebestragödien, Heldentaten, Ehre und Rache

Mit insgesamt 64 Isländersagas und Erzählungen hat der S. Fischer Verlag ein Übersetzungs-Mammutwerk herausgebracht. Präsentiert wurde das Ganze im Rahmen eines viertägigen Literaturfests auf Schloss Corvey, veranstaltet vom Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe.

Von Jessica Sturmberg |
    Es gibt Projekte, die brauchen einen Anlass, damit sie umgesetzt werden. Die besondere Aufmerksamkeit, die regelmäßig dem Gastland der Frankfurter Buchmesse gebührt, ist insofern ein Glücksfall, als dass sie ein Übersetzungswerk sondergleichen ermöglicht hat: Insgesamt 64 Isländersagas und Erzählungen, zusammengefasst in vier Bänden, begleitet von einem Kommentarband erscheinen in diesen Tagen im S.Fischer-Verlag. Auf rund 3400 Seiten werden mittelalterliche Geschichten über blutrünstige Familienfehden, schicksalhafte Liebestragödien, Heldentaten, Ehre und Rache erzählt.

    Als Bühne für die Auftaktpräsentation wählte der Verlag ein großes viertägiges Literaturfest mit prominenter Besetzung, unter anderem Andrea Sawatzki, Matthias Habich, Fritzi Haberlandt, auf Schloss Corvey in Ostwestfalen-Lippe.

    Wie schafft es eine Gesellschaft, 300 Jahre ohne König, ohne religiöses Oberhaupt und ohne Exekutive auszukommen? Und trotzdem ein mehr oder weniger funktionierendes Gemeinwesen zu organisieren?

    Das haben sich die Einwohner Islands offenbar gefragt, ihnen genau das nicht mehr gelang, als sie auf das Ende ihrer Unabhängigkeit zusteuerten und sich ab 1262 dem norwegischen König unterwarfen. In dieser Zeit wurden die Isländersagas aufgeschrieben.

    "Das Hauptinteresse dieser Texte besteht darin, zu erzählen, dass dieses gesellschaftliche Arrangement, was sich da entwickelte nach der Besiedlung Islands, diese gesellschaftlichen Strukturen, dass die zwar fragil waren und immer bedroht, aber dass man es doch in dieser Vergangenheit, auf die man zurückschaut, immer geschafft hat."

    Julia Zernack, Professorin für Skandinavistik an der Goethe-Universität Frankfurt und Mitherausgeberin der umfangreichen deutschen Übersetzung der Isländersagas hat vor zwei Jahren die Mammutaufgabe angenommen, diese literarische Perle für den deutschen Markt zugänglich zu machen. Es ist Literatur, die sich gut lesen lässt. Trotz der 1000-jährigen Distanz.

    "Das ist schon sehr deutlich, dass die Isländersagas eine ganz ungewöhnliche Erscheinung sind, zu ihrer Zeit. Es gibt im Mittelalter zu dieser Zeit keine Prosa. Das, was man nicht ganz zutreffend den Realismus der Sagas bezeichnet, das ist ganz ungewöhnlich für diese Zeit. Also von daher sind sie einfach ein so eigenes, eigenständiges, singuläres Phänomen, dass sie schon damit die Weltliteratur bereichern."

    Die namenlosen Autoren haben nicht nur eine Sprache gewählt, die sehr unmittelbar wirkt, und ein Gefühl der Nähe zum Stoff herstellt, sie bedienen sich auch geschickter Stilmittel, um ihre Leser bei der Stange zu halten. Etwa Träume, deren Deutung die weitere Handlung vorwegnehmen:

    "Ich träumte, ich wäre zu Hause auf Borg und stand draußen am Haupttor. Da blickte ich nach oben über die Dächer und sah auf dem Dachfirst einen wunderschönen Schwan sitzen, der gehörte mir und er war mir sehr kostbar. Darauf sah ich einen mächtigen Adler von den Bergen herab fliegen, er flog auf uns zu, ließ sich neben dem Schwan nieder und begann freundlich auf ihn einzuschwatzen. Plötzlich sah ich noch einen Vogel aus südlicher Richtung heran fliegen, er flog hierher nach Borg. Ließ sich auf dem Dach, dicht neben dem Schwan nieder und versuchte ihn für sich zu gewinnen. Der Vogel, der zuerst heran geflogen war, schien sehr aufgebracht darüber, dass der andere hinzugekommen war und bald lieferten sie sich einen erbitterten Kampf."

    Hier ist es der Kampf um die schöne Helga in der Gunnlaugs Saga, der die beiden Rivalen in den Tod treibt. Die Hauptprotagonisten wie Gunnlaugur gab es tatsächlich, auch den Ort, an dem er der attraktiven Helga verfiel, Hof Borg oder seine Geburtsstätte, Gilsbakki. Man kann sie heute ebenso besichtigen wie die Stätten der anderen Sagas und die Handlungen an den Originalschauplätzen nachvollziehen. Nur die Geschichten selbst sind Fiktion. Es gab zwar mündliche Erzählungen, doch mussten die Dichter 300 Jahre später eine eigene Vorstellung davon entwickeln, wie es gewesen sein könnte.

    Wäre Island nicht so lange ein isolierter Ort hoch im Norden mit einer armen Bauerngesellschaft gewesen, womöglich wäre diese Erzählkunst in kulturellen Ballungs-Zentren weiterentwickelt worden. Stattdessen blickt man heute auf sie wie auf einen Schatz, der über Jahrhunderte hinweg schlichtweg gehütet wurde. Ihren Helden fühlen sich die Isländer so verbunden als spräche man von nahen Verwandten. Zahlreiche Saga-Ausgaben sind in den vergangenen Jahrzehnten erschienen, die erste isländische Gesamtausgabe gab unter anderem Örnólfur Thorsson 1985 heraus.

    "Viel von der Erzählmethode in den Sagas finden wir heute wieder in den modernen Romanen. Zum Beispiel wie Personen beschrieben werden, die Erzählperspektive, das Personeninventar, der Sprachstil, die Ironie. Das sind alles klassische Merkmale, deswegen sind viele gegenwärtige Autoren und nicht nur isländische davon so fasziniert und lassen sich entsprechend von ihnen beeinflussen. Einige verarbeiten den Stoff auch direkt. Das bekannteste Beispiel ist der Roman "Gerpla" auf deutsch "Die glücklichen Krieger" von Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness, die eine satirische Auseinandersetzung mit der Saga von den Schwurbrüdern ist."

    Auch in Deutschland mögen die Isländersagas nun den einen oder anderen inspirieren. Mit dem vorliegenden umfassenden Übersetzungswerk ist die Möglichkeit geschaffen.