Nachdem 29 Millionen Impfdosen von Astrazeneca in einem Werk in Italien gefunden wurden, ist der Impfstoffhersteller wieder dem Vorwurf ausgesetzt, seinen Lieferzusagen an die EU nicht nachzukommen. Astrazeneca verteidigt sich: 16 Millionen Dosen seien für die EU vorgesehen, man warte auf die Freigabe der Qualitätskontrolle. Die EU-Kommission hat kurz nach dem Fund die Exportkontrollen für Corona-Impfstoffe verschärft, die Anfang Februar in Kraft getreten waren. Sogar ein Exportstopp ist jetzt im Gespräch.
Exportkontrollen müssten die "absolute Ausnahme" bleiben, sagte der Europaparlamentsabgeordnete Andreas Glück (FDP) im Deutschlandfunk. Deutschland und die EU profitierten von der globalisisierten Welt mit komplexen Lieferketten, das gelte auch für den Gesundsbereiche. "Da ist ein Exportkontrollmechanismus das pure Gift", sagte Glück.
Diese Exportkontrollen für Impfstoffe gelten in der EU:
- Um in Länder außerhalb der EU exportieren zu dürfen, müssen Impfstoffhersteller eine Exportbewilligung beantragen. Dabei wird geprüft, ob die Lieferung ins EU-Ausland die Erfüllung der EU-Kaufverträge gefährden könnte.
- Die EU-Kommission hat inzwischen zudem beschlossen, dass bei Lieferungen auch die Verhältnismäßigkeit geprüft werden soll. Demnach sollen Lieferungen dann untersagt werden, wenn im Zielland beispielsweise schon viel mehr Personen geimpft sind.
- Auch die Gegenseitigkeit soll geprüft werden: Führt das Zielland selbst Impfstoffe oder Vorprodukte aus? In Länder, die da restriktiv vorgehen, sollen Lieferungen unterbunden werden.
Er könne den Streit zwischen Astazeneca und der EU aber nicht abschließend bewerten, sagte Glück, denn auch er als Mitglied im Gesundheitsausschuss des Europaparlaments, bekomme nur teilweise Einblick in die Vertragsunterlagen, entscheidende Passagen seien geschwärzt. "Es ist traurig, dass wir als Abgeordnete unserer Kontrollfunktion nicht nachkommen können", sagte Glück.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Jasper Barenberg: Herr Glück, sprechen wir kurz über die Angelegenheit mit den 29 Millionen Dosen Impfstoff von Astrazeneca. Ist diese Angelegenheit mit der Erklärung des Herstellers jetzt vom Tisch und erledigt?
Andreas Glück: Zunächst mal: Vom Tisch und erledigt, das kann man jetzt so nicht sagen. Da muss man mit Sicherheit noch ganz genau hingucken. Ich glaube einfach, dass gerade die Situation doch ziemlich gespannt ist. Alles läuft ein bisschen heiß und da muss man jetzt einfach in Ruhe noch mal wirklich hingucken, muss gucken, wofür waren diese Dosen bestimmt, und dann kann man das weitere Vorgehen entscheiden.
Barenberg: Das Unternehmen sagt ja, wenn wir über die 29 Millionen Dosen reden, dann sind 16 Millionen Dosen für die Europäische Union gedacht – da wartet man noch auf die Qualitätskontrolle – und 13 Millionen für die Covax-Initiative, die dafür sorgen soll, dass auch im globalen Süden dringend benötigte Impfstoffe ankommen. Das reicht Ihnen erst mal nicht?
Glück: Da muss man einfach noch mal genauer hingucken. Wie gesagt, für mich ist es völlig in Ordnung, wenn da auch Dosen für die Covax-Initiative dabei sind. Da ist die Europäische Union ja auch der stärkste Unterstützer der Covax-Initiative. Von daher: Wenn das so verifiziert werden kann, dann ist das so und dann halte ich das auch für eine schlüssige Argumentation.
"Mangelnde Transparenz, mit der die Kommission hier vorgegangen ist"
Barenberg: Aus der Europäischen Union, aus der Kommission gibt es ja immer wieder den Vorwurf, dass Astrazeneca Ausflüchte bietet und durchaus undurchsichtige Angaben darüber, wenn es um die Frage geht, warum die Europäische Union denn nun weniger Impfstoff bekommt als verabredet. Wie vertrauenswürdig ist denn das Unternehmen für Sie?
Glück: Na ja, das ist eigentlich sehr, sehr traurig, dass wir als Abgeordnete hier unserer eigentlichen Kontrollfunktion gar nicht nachkommen können. Wir haben nur teilweise Einblick in die Vertragsunterlagen. Auch für uns sind große Teile der Verträge geschwärzt. Deswegen fällt es uns ein bisschen schwer zu sagen, wer hat denn eigentlich recht. Die Kommission auf der einen Seite, die sagt, Astrazeneca liefert nicht , oder Astrazeneca, die von vornherein sagen, wir haben eigentlich nur solche Best-Case-Szenarien aufgestellt, wieviel wir euch liefern können. Das ist auch für uns als Abgeordnete sehr, sehr schwer zu sagen und ich kritisiere hier an der Stelle noch mal ganz, ganz deutlich die mangelnde Transparenz, mit der die Kommission hier vorgegangen ist.
Barenberg: Da reicht es auch nicht, dass zumindest einige dieser Verträge jetzt in Teilen zumindest öffentlich zugänglich sind oder für Sie zugänglich sind?
Glück: Ich sage jetzt mal, das ist ein bisschen weiße Salbe auf die Wunde, dass man sagt, die meisten Teile der Verträge sind ja mittlerweile öffentlich. Aber es bringt nichts, wenn die entscheidenden Passagen dementsprechend geschwärzt sind und das auch für uns als Abgeordnete geschwärzt ist.
"Export-Kontrollmechanismus ist das pure Gift und muss die absolute Ausnahme bleiben"
Barenberg: Bei all dieser Ungewissheit und dieser Verwirrung und den offenen Fragen, ist vor diesem Hintergrund denn vertretbar und geradezu geboten möglicherweise, dass es eine Exportkontrolle und dass es auch eine Verschärfung dieser Regeln gibt?
Glück: Sagen wir mal so: Wir leben in einer globalisierten Welt mit komplexen Lieferketten und davon profitieren wir auch alle. Als Arzt sage ich das auch insbesondere jetzt für den Gesundheitsbereich. Da ist natürlich ein Export-Kontrollmechanismus das pure Gift und es muss die absolute Ausnahme bleiben.
Vor allen Dingen sehe ich auch ein bisschen die Befürchtung. Ich kann das nachvollziehen, dass gegenüber den Unternehmen, den Impfstoffherstellern mit harten Bandagen gekämpft wird. Aber es kann auch ganz schnell zur Spirale werden, nämlich spätestens dann, wenn unsere Impfstoffhersteller auf Zutaten, wenn Sie so wollen, auf Grundstoffe der Pharmaindustrie aus Drittstaaten angewiesen sind und dann möglicherweise wieder von deren Seite aus Exportkontrollen dastehen.
Ich glaube, das was am besten helfen würde ist, wenn wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen, mit UK, mit den Vereinigten Staaten, und einfach mal das Problem grundlegend noch mal besprechen, weil letztlich haben wir alle ein Interesse daran, dass auch der Warenaustausch weltweit erhalten bleibt. Und das bietet sich übrigens an, weil Biden ist ja angekündigt für den Gipfel, den wir jetzt hier in Brüssel haben.
Barenberg: Natürlich geht es viel um Großbritannien und wir wissen alle, dass aus zwei Fabriken in Großbritannien zehn Millionen Dosen des Impfstoffes ins Land gegangen sind, aber keine einzige an die EU. Was also tun?
Glück: Wissen Sie, das Problem ist doch, dass nicht die EU, sondern dass die Kommission sehr, sehr zögerlich war bei der Beschaffung von Impfstoffen. Offensichtlich hat man da ein bisschen getrödelt, was die Vertragsabschlüsse anging. Wenn man jetzt sich nicht weiter zu helfen weiß und andere schneller unterschrieben haben und die vorrangige Belieferung auch schon vertraglich festgeschrieben haben, und jetzt kommt die EU zu spät und droht mit Export-Kontrollmechanismen oder zieht die womöglich sogar durch, dann ist das so, als ob man einen Fehler durch einen weiteren Fehler beheben wollte, und das funktioniert in den meisten Fällen nicht.
Barenberg: Es geht aus Ihrer Sicht darum, oder der Fall wäre dann, dass man die eigenen Fehler, die in der Europäischen Union gemacht wurden, jetzt ein bisschen kaschieren will durch die strengeren Regeln?
Glück: Ja, genau! Das ist das Risiko, das ich dabei sehe.
"Testung eine sehr gute Alternative zur Impfung für Menschen ohne Impfangebot"
Barenberg: Was ist mit dem Impfpass und was ist mit der Verteilung der Impfstoffe in der Union? Da gibt es ja auch Streit, insbesondere mit Österreich. Österreichs Kanzler fordert da einen neuen Verteilmechanismus. Ist es Zeit für auch etwas mehr Solidarität innerhalb der Europäischen Union?
Glück: Zunächst mal bezüglich des von Ihnen angesprochenen Impfpasses – das heißt ja eigentlich Zertifikat –, da gibt es erst mal nicht diesen großen Streit. Das soll ein unterstützendes Instrument sein für auch den Reiseverkehr, wo man nicht nur die Impfung festhalten möchte, sondern man möchte auch Tests festhalten. Übrigens, was für mich wichtig ist, dass es nicht nur PCR-Tests sind, sondern auch Schnelltests sind. Und man möchte natürlich auch Infektionen festhalten für jeden, der Antikörper entwickelt hat. Hier kann das ein unterstützendes Instrument sein, zumal ich zwar als Arzt ein großer Freund der Impfung bin, aber natürlich auch einer liberalen Partei angehöre und deswegen jegliche Impfpflicht in diesem Bereich ablehne. Da bietet dann das Thema Testung eine sehr gute Alternative zur Impfung für die Menschen, die bisher noch kein Impfangebot hatten oder die es aus irgendwelchen Gründen auch nicht wahrnehmen können. Da ist man sich eigentlich mehr oder weniger einig, was das Green Certificate angeht.
Was den Verteilmechanismus auf europäischer Ebene angeht: Zunächst mal halte ich das jetzige Verteilsystem für erst mal gar nicht so schlecht. Das Problem ist aber nur, egal was für ein Verteilsystem Sie haben, Sie brauchen auch Impfstoff, den Sie verteilen können. Wenn es da bisher zu wenig gibt, dann wird auch ein neues Verteilsystem an dem Problem nichts lösen können.
Barenberg: Insgesamt, Herr Glück, die Bundesregierung steht gerade heftig in der Kritik für ein Missmanagement – so sehen es jedenfalls viele – insgesamt im Verlauf der letzten Wochen und Monate. Nun hat Europa nicht so viele Kompetenzen, was diese Angelegenheit angeht, aber wie steht die Europäische Union aus Ihrer Sicht denn da im Moment?
Glück: Es ist nicht so, dass mir hier alles gefällt, was auf europäischer Ebene abgeht, und ich bin auch nach Europa gegangen, nicht weil ich hier alles so toll finde, sondern weil ich denke, dass vieles verbesserungswürdig ist. Aber wenn man sich das noch mal ganz genau anguckt: Es gibt leider Unklarheiten und nicht transparentes Vorgehen bei der Impfstoffbeschaffung. Vieles andere ist sehr, sehr gut gelaufen auf europäischer Ebene. Das möchte ich jetzt überhaupt gar nicht in Abrede stellen.
Insgesamt gilt, wir müssen zukünftig auf die Europäische Union zurückgreifen, wenn es um das Thema gemeinsame Beschaffung geht. Wir sind der größte Binnenmarkt der Welt. Offensichtlich müssen wir aber erst noch mal lernen, damit umzugehen. Wir müssen da einfach stärker werden und diese starke Marktposition, die wir eigentlich haben, dann auch irgendwann mal lernen auszufüllen.
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