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"Life" von Nicoleta Esinencu
Die menschliche Seite des Ukraine-Konfliks ausleuchten

"Ästhetik des Widerstands" heißt ein Theaterfestival, das zurzeit im Berliner Theater Hebbel am Ufer läuft. Das Stück "Life" thematisiert den Krieg in der Ukraine und wirft dabei die Frage auf, wie aus Menschen, die jahrzehntelang friedlich zusammen lebten, Feinde werden konnten, die sich gegenseitig umbringen.

Von Oliver Kranz |
    Eine Szene aus dem Stück "Life" von Nicoleta Esinencu beim Festival "Ästhetik des Widerstands" in Berlin.
    Eine Szene aus dem Stück "Life" von Nicoleta Esinencu beim Festival "Ästhetik des Widerstands" in Berlin. (Nata Moraru/HAU )
    Das Stück beruht auf Protokollen von Telefongesprächen, die die ukrainische Künstlerin Alevtina Kakhidze 2014 mit ihrer Mutter führte. Die alte Dame lebt in Zhdanovka, einer Kleinstadt in der Nähe von Donezk, die von Separatisten erobert und der sogenannten Donezker Volksrepublik eingegliedert wurde.
    "Ich habe ein Stück über den Konflikt in der Ukraine geschrieben", erklärt Nicoleta Esinencu, "weil in Moldawien etwas ganz Ähnliches passiert ist - es hat nur nicht so viel Aufsehen erregt, weil damals kaum jemand Zugang zum Internet hatte. Die abtrünnige Region im Osten unseres Landes heißt Transnistrien."
    Transnistrien erklärte sich 1990 für unabhängig, weil Moldawien das Russische als Amtssprache abgeschafft hatte. Die gerade erst neu gegründete moldawische Armee versuchte vergebens, das Gebiet zurückzuerobern. Die transnistrischen Streitkräfte wurden von Russland unterstützt.
    "Die zwischenmenschliche Seite des Konflikts"
    "Mir geht es nicht um eine umfassende historische Analyse, sondern um die zwischenmenschliche Seite des Konflikts. Wie konnte es passieren, dass Nachbarn, die jahrzehntelang friedlich zusammen lebten, auf einmal Feinde wurden und sich umbrachten? Das ist in der Generation unserer Eltern passiert."
    Bei den Kämpfen kamen viele Zivilisten ums Leben - auch darin sieht Nicoleta Esinencu eine Parallele zum Krieg im Osten der Ukraine. In ihrer Inszenierung treten zwei junge Schauspielerinnen auf und sprechen an Mikrofonen die Texte der protokollierten Telefongespräche. Alevtina Kakhidzes Mutter berichtet, wie sie im Garten arbeitet, um Gemüse anzubauen. In ihren Keller flieht sie nur, wenn in unmittelbarer Nähe geschossen wird.
    Die Kriegsgeräusche werden von zwei jungen Männern erzeugt, die links und rechts neben der Bühne sitzen. Die knatternden Gewehrsalven kommen aus einem Spielzeuggewehr, das vors Mikrofon gehalten wird.
    "Ich finde, die Spielzeugwaffen, mit denen Kinder heute aufwachsen, ziemlich brutal", sagt Esinencu. "In der Ukraine spielen die Kinder nicht Räuber und Gendarm, sondern Berkut gegen Freiheitskämpfer. Berkut hieß die Polizeieinheit, die auf dem Maidan mit besonderer Härte gegen Demonstranten vorging. Die Kinder spielen diese Kämpfe nach."
    In der Inszenierung werden die Kämpfe nicht nachgespielt. Stattdessen erzählt Alevtina Kakhidzes Mutter von ihrem Alltag als Kindergartenerzieherin. Bevor der Krieg begann, durften Kita-Kinder nur noch mit ukrainischen Namen angesprochen werden. Aus Mascha wurde Maritschka, aus Petja Petrik.
    "Ich habe, als ich zur Schule ging, ganz ähnliche Dinge erlebt. Sprache kann die Gesellschaft spalten. Es gibt in Moldawien auch heute noch Politiker, die diese Spaltung vorantreiben."
    Menschen zusammenzubringen, der Spaltung entgegenwirken
    Das Stück berichtet über den Krieg in der Ukraine, doch gemeint ist Nicoleta Esinencus Heimatland. Sie leitet eine freie Gruppe in der Hauptstadt Chișinău und sorgt mit ihren Inszenierungen immer wieder für Aufsehen.
    "Für mich ist am wichtigsten, Menschen zusammenzubringen. Wenn Russen und Ukrainer und Moldawier friedlich zusammen in einem Saal sitzen und eine Theatervorstellung sehen, ist schon viel erreicht."
    Nicoleta Esinencu will der Spaltung ihrer Heimat entgegenwirken. Die eine Hälfte der moldawischen Bevölkerung orientiert sich nach Russland, die andere wünscht sich eine Anbindung an die Europäische Union.
    "Was mich stört, ist, dass nur diese zwei Optionen diskutiert werden - sollen wir von Russland beherrscht werden oder von der EU? Ein unabhängiges Moldawien zieht kaum jemand in Betracht, als würde von vornherein feststehen, dass immer von außen über unser Land entschieden wird"
    Am allerwichtigsten bleibt, dass der Konflikt nicht mit Waffengewalt entschieden wird. Auch das macht das Stück bewusst. Wenn ein Krieg erst einmal ausgebrochen ist, bleibt Menschlichkeit schnell auf der Strecke.
    Die Produktion "Life" von Nicoleta Esinencu ist ab dem 05.10.2016 im Rahmen des Festivals "Die Ästhetik des Widerstands" im Hebbel am Ufer in Berlin zu sehen.