Der jetzige Zustand sei mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung untragbar, sagte FDP-Chef Christian Lindner im Dlf. Die Beschränkungen müssten möglichst bald schrittweise aufgehoben werden , aber dazu müsse natürlich die Zahl der Neuinfektionen zurückgehen. Es sei aber wichtig, den Menschen das Signal zu geben, dass es nicht auf Dauer so bleiben werde.
Das Interview in voller Länge:
Gestern schalteten sich die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zu einem Videogipfel zusammen. Wichtigstes Ergebnis: Der Warenverkehr im Binnenmarkt soll trotz der Ausgangsbeschränkungen gesichert werden. Unterdessen mehren sich hierzulande die Forderungen, nach den Osterferien müsse die Wirtschaft schrittweise wieder hochgefahren werden. Bundesgesundheitsminister
Jens Spahn soll eine Exit-Strategie erarbeiten
, einen Plan für die Rückkehr zu Arbeit und Schulunterricht. Dazu Christian Lindner, FDP-Bundesvorsitzender und Chef der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag.
Christoph Heinemann: Herr Lindner, wie stellen Sie sich eine Rückkehr zur Normalität vor?
Christian Lindner: Das wird ein Prozess sein, aber er sollte so bald wie möglich beginnen. So bald wie möglich bedeutet, man kann jetzt aus meiner Betrachtung heraus noch keinen festen Zeitpunkt angeben. Aber das Handeln des Gesamtstaates sollte darauf gerichtet sein, die jetzigen Freiheitseinschränkungen, wann immer es verantwortbar ist, schrittweise aufzuheben, damit es ein normales Leben geben kann. Der jetzige Zustand ist unnatürlich für Menschen, die Gesellschaft suchen, und er ist im Übrigen auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung auf Dauer untragbar. Denn der Staat kann nicht kompensieren, was es an Wertschöpfung im privaten Sektor nicht gibt.
"Flächendeckend schneller und öfter testen"
Heinemann: Mit welcher Lage rechnen Sie nach den Osterferien?
Lindner: Ich denke, dass wir den Höhepunkt noch nicht erreicht haben, weshalb ich verstehe, dass innerhalb der Regierung gegenwärtig kein Zeitpunkt genannt wird. Umso mehr wünsche ich mir, dass zu dem begrüßenswerten Text, dass nämlich an einer Exit-Strategie gearbeitet wird, auch jetzt das Handeln hinzukommt. Wir müssen Voraussetzungen erfüllen, damit wir die Einschränkungen der Freiheit lockern können. Dazu gehört, flächendeckend schneller und öfter testen zu können. Das Gesundheitswesen muss ertüchtigt werden. Dazu gehört übrigens auch, dass in den Gesundheitsbehörden durch Abordnungen mehr Personal zur Verfügung steht, um Infektionsketten auch administrativ weiterverfolgen zu können. Da geht es nicht nur um medizinisches Personal. Wir müssen die Produktion teilweise in der Wirtschaft umstellen. Die öffentliche Hand muss Beschaffungsaufträge auslösen. Ich denke an Schutzkleidung, an Beatmungsgeräte. Die können auch von Betrieben produziert werden, die bislang anderes produzieren.
Heinemann: Herr Lindner, nach welchen Kriterien sollte der Zeitpunkt festgelegt werden?
Lindner: Ich denke, dass eines der Kriterien sein muss, dass die Zahl der Neuinfektionen zurückgeht, dass die Kurve tatsächlich zurückgeht. Aber im Kern ist das eine Aufgabe für die Fachbehörden, die sie definieren müssen. Und, Herr Heinemann, ich muss sagen, ich bin durchaus erleichtert, dass wir jetzt diese Debatte führen. Als wir im Deutschen Bundestag gesprochen haben am vergangenen Mittwoch, da war ich noch der einzige, der über die Frage Lockerung von Freiheitseinschränkungen gesprochen hat in der Debatte, und noch am Mittwochabend begann dann diese Diskussion, und für mich ist das ein positives Zeichen, auch den Menschen im Land das Signal zu geben, dass sie damit rechnen dürfen, dass es nicht auf Dauer bei diesem Zustand bleibt. Und jetzt muss der Staat handeln.
"Freiheitseinschränkungen sind noch verhältnismäßig"
Heinemann: Herr Lindner, Entschuldigung! Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bewegen Sie sich ja noch im gegenwärtigen System. Der Oberbürgermeister von Düsseldorf, Thomas Geisel von der SPD, warnt, die ersten Betriebe im Hotel- und Gaststätten-, auch in anderen Gewerben melden Insolvenz an. Muss die Bundesregierung die Strategie und das System wechseln?
Lindner: Auch als Oppositionspolitiker sage ich: Nein! Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Freiheitseinschränkungen noch verhältnismäßig, weil die Voraussetzungen für eine Öffnung zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gegeben sind. Umso mehr muss man an zwei Dingen arbeiten. Erstens, wie gerade ausgeführt, die Voraussetzungen dafür schaffen, dass man ohne Gefahr für die Gesundheit insbesondere von schutzbedürftigen Gruppen wieder Freiheiten gewährt. Und zum zweiten, dass wir nicht in die Situation kommen, die zu befürchten ist, nämlich eine Pleitewelle, weil die zugesagten Hilfen nicht rechtzeitig ankommen.
Heinemann: Aber beides ist ja schwer über einen Kamm zu scheren.
Lindner: Doch, doch!
"Wir haben einen funktionierenden Kanal zwischen Wirtschaft und Staat"
Heinemann: Welche Folgen hätte eine Pleitewelle für die parlamentarische Demokratie?
Lindner: Die hätte zunächst mal für die Existenzen der Menschen eine Folge. Die sind nämlich dann vernichtet, wirtschaftliche Existenzen. Nur ich will den zweiten Punkt noch mit Substanzen hinterlegen, Herr Heinemann. Das Rettungspaket vom Mittwoch zeigt im Grunde, bevor es endgültig verabschiedet ist, dass es Lücken hat. Es muss schneller und unbürokratisch im Mittelstand ankommen und deshalb müssen zusätzliche Instrumente jetzt etabliert werden. Vorschlag: Wir haben einen funktionierenden Kanal zwischen Wirtschaft und Staat und das sind die Finanzbehörden. Deshalb sollten wir ermöglichen, dass auch über die Finanzämter auf Antrag bei einem Umsatzeinbruch Liquidität zur Verfügung gestellt wird in Form einer Rückzahlung von Steuern beziehungsweise Steuervorauszahlungen oder in der Form von Steuergutschriften, die ausgezahlt werden und die sich auf zukünftige Steuerschuld beziehen. Wir haben so einen Vorschlag gemacht und er wird jetzt aus der Wissenschaft gedeckt. Beispielsweise Herr Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft schlägt so etwas heute auch vor. Das sollte sich das Bundesfinanzministerium mit Dringlichkeit ansehen.
Heinemann: Wenn es bei der jetzigen Strategie bleibt, eines steht fest: Das nächste Virus kommt ziemlich bestimmt. Wieso sollte die Inhaberin eines Friseurgeschäfts ihren Salon wieder öffnen, wenn sie befürchten muss, dass irgendwann wieder alles dichtgemacht wird?
Lindner: Zu unserem Leben gehören Unsicherheiten und Risiken, auch die einer Pandemie. Nur in Ihrer Frage steckt ein Kern. Wir müssen nach der akuten Krisenbewältigung jetzt prüfen, wo staatliche Strukturen verändert werden müssen, in der Gesetzgebung, aber auch in der Verwaltung, damit wir bei zukünftigen Herausforderungen dieser Art, wenn sie kommen, besser gerüstet sind. Das ist keine Debatte jetzt für den Moment. Beispielsweise hat der Bundesminister für Gesundheit ja bestimmte Grundrechtseinschränkungen im Infektionsgesetz vorgesehen gehabt, die man jetzt nicht beschließen konnte. Das ging zu schnell, da war die Debatte nicht gründlich, da stimmten die Voraussetzungen nicht. Aber dass wir über eine Pandemie-Gesetzgebung sprechen und in der Verwaltung Voraussetzungen dafür schaffen, mit ihr besser umzugehen in Zukunft, als wir es jetzt vermögen, das scheint mir klar zu sein.
Heinemann: Herr Lindner, Sie haben gesagt, viele Beschäftigte vom Krankenhaus bis zur Supermarktkasse erführen nun den Respekt und die Anerkennung, die ihnen auch in gewöhnlichen Zeiten zuteil hätte werden sollen. Was bedeutet das für die geplante Grundrente für genau diese Menschen?
Lindner: Wir brauchen eine Absicherung für alle Menschen. Übrigens ist nicht jeder von denen, die Respekt erfahren, automatisch bedürftig, Herr Heinemann, und ich finde es einigermaßen merkwürdig, in der akuten Krise, wo wir dankbar sind für Menschen, die mehr tun als ihre Pflicht, übrigens auch bei der Polizei, auch in der Industrie, wo es um Produktion geht, sofort eine Verteilungsdebatte führen zu wollen. Aber ich will Ihnen die Antwort nicht schuldig bleiben.
Heinemann: Danke!
Lindner: Bitte, so bin ich. – Bei der Grundrente erhalten auch Menschen eine staatliche Unterstützung und Leistung, die nicht bedürftig sind. Vor Corona und nach Corona ist meine Auffassung, Unterstützung des Gesamtstaats brauchen diejenigen, die bedürftig sind. Eine Verteilung von Geld, die sich nicht an die Bedürftigkeit richtet, durch den Sozialstaat, die passt nicht zu dem Konzept, mit dem wir soziale Absicherung betreiben. Da muss man andere Möglichkeiten finden.
Heinemann: Die Krankenpflegerinnen helfen auch den Reichen. Was tun die Reichen für die Krankenpflegerinnen?
Lindner: Hohe Steuern zahlen in diesem Land, international die höchste Steuerbelastung, und dadurch wird unser Sozialstaat finanziert. Auch da sage ich noch einmal: Sie versuchen, drastischer als es sogar die politische Linke tut, in der aktuellen Situation eine verteilungspolitische …
Heinemann: So bin ich!
Lindner: Ja, finde ich gut! Nur ich will es auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer transparent machen, wie ich es einschätze. … eine verteilungspolitische Debatte zu führen. Vor Corona wie nach Corona gilt: Wir haben in Deutschland Verteilungspolitik at it’s best! Wenn man sich alleine die Einkommenssituation in unserem Land ansieht, vor der Wirkung unseres Steuersystems und nach der Wirkung unseres Steuersystems, ist sehr klar erkennbar, dass alle Indizes anzeigen, wir haben eine gute verteilungspolitische Diskussion, und ich werde mich wehren dagegen, dass Corona zum Anlass genommen wird, die Koordinaten unserer Gesellschaft grundsätzlich zu verändern. Sprich, dass Verstaatlichungen von Unternehmen, wie sie jetzt als Ultima Ratio notwendig werden, zu einer Art Dauerzustand werden und dass diejenigen, die vor Corona der Auffassung waren, der Staat müsste in jedes und alles eingreifen, jetzt nach Corona mit neuen Argumenten die alten Positionen vertreten. Wir werden Dinge justieren müssen, aber den demokratischen Rechtsstaat und unsere marktwirtschaftliche Ordnung würde ich dazu nicht zählen.
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