"Warum ich über Kriege berichte? Eine schwierige Frage. Ich wollte ursprünglich nicht Kriegsreporterin werden. Für mich geht es vielmehr darum, das Menschsein in äußerster Not, in unerträglichen Situationen zu beschreiben. Es erscheint mir wichtig, zu sagen, was wirklich in Kriegen passiert."
Das schrieb die amerikanische Journalistin Marie Colvin in der Sunday Times im April 2001 vom Krankenbett aus, unmittelbar nachdem sie in Sri Lanka ihr linkes Augenlicht verloren hatte. Auf dem Rückweg aus dem von tamilischen Rebellen kontrolliertem Gebiet hatte die Sri Lankische Armee sie unter Beschuss genommen.
Colvins Redakteur in London fügte dem Artikel ein Detail hinzu: Anschließend habe Marie den Wunsch nach einer Zigarette und einem Wodka Martini geäußert. Ein Porträtfoto Maries mit der schwarzen Augenklappe schmückte fortan jeden ihrer Artikel. "Man kann argumentieren, dass die Redaktion einen Mythos schuf, insbesondere nachdem sie auf einem Auge blind war", sagt Biografin Lindsey Hilsum. "Aber Marie identifizierte sich mit dem Mythos und ich denke, eines ihrer größten Probleme war das Image dieser glamourösen, furchtlosen Reporterin einerseits, die unvereinbar war mit der Verletzlichkeit andererseits, die sie in sich fühlte."
Die Autorin Lindsey Hilsum kannte Marie Colvin. Kurz vor Maries Tod in Syrien hatten die beiden engen Kontakt. Sie erinnere sich gut an das letzte Skype-Gespräch mit der 56-Jährigen, sagt Lindsey: "Ich fragte, Marie, was ist deine Exit-Strategie? Sie sagte: Das ist es ja, ich habe keine, ich arbeite gerade dran. Ein paar Stunden später schlug die Rakete in Baba Amr ein und sie war tot. Sie ging mir danach einfach nicht mehr aus dem Kopf. Deshalb habe ich das Buch geschrieben."
Leben voller Widersprüche
Der Autorin ist eine sehr lebendige Biografie gelungen, die es erlaubt, Marie Colvin in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu erfahren. Eine Frau, aufgewachsen als Tochter einer katholischen Familie im bürgerlichen Milieu der amerikanischen Kleinstadt Oyster Bay, die schon als Kind mutiger und rebellischer war als ihre Geschwister und Freunde. Eine Frau, die sich bei der vergeblichen Suche nach einer stabilen Liebesbeziehung tiefe seelische Wunden zufügte. Eine glamouröse Partylöwin, die das Leben genoss. Eine ehrgeizige Journalistin, getrieben von dem Wunsch, den Opfern von Konflikten eine Stimme zu verleihen.
Um Augenzeugin zu sein, begab sie sich in extremere Situationen als die meisten anderen, so Lindsey Hilsum: "Marie glaubte daran und auch ich denke, man muss vor Ort sein, die Dinge selbst sehen und verstehen. Aber für Marie gab es keine Abgrenzung zwischen ihr und den Leuten, über die sie schrieb. An einer Stelle schreibt sie, dass sie bei diesen Leuten dasselbe isst wie sie, lebt wie sie, um eine Grenze zu überschreiten und den Horror und die Angst dieser Menschen selbst zu erleben. Ich hingegen war immer der Ansicht, dass man als Journalistin eine gewisse Distanz braucht und einen Schritt zurücktreten muss."
Der Terror und Horror, den Marie im Libanon, in den Palästinensergebieten, im Irak, im Kosovo, in Osttimor, in Tschetschenien, in Libyen und in Syrien erlebte - Kriegsschauplätze, an denen sie immer wieder ihr Leben riskierte – all das ging nicht spurlos an ihr vorbei.
Lindsey Hilsum präsentiert uns keine Heldin. Sie thematisiert Maries Alkoholismus ebenso wie ihre posttraumatischen Störungen und Depressionen, ihre chaotische Lebens- und Arbeitsweise. Trotz all dem sei Marie eine witzige und gute Begleiterin gewesen. "Es war leicht sie zu lieben und schwer, ihr zu helfen", sagt Hilsum. Letzteres, weil sie zu achtlos mit ihrem Körper und ihrer Seele umgegangen sei.
Plädoyer für professionellen Journalismus
Die rund 300 Tagebücher, die Lindsey Hilsum gelesen hat, die persönlichen Briefwechsel, professionellen Notizen, Zeitungsartikel sowie die mehr als einhundert Interviews mit Familienangehörigen, Liebhabern, Freunden und Kollegen erlauben der Autorin große Präzision und hohe Glaubwürdigkeit. Eine Detailfreude, die dem Leser mitunter Geduld abverlangt. Erst später erschließt sich die Bedeutung dieser Einzelheiten, denn man versteht, was Marie motivierte.
Lindsey Hilsums Biografie erweckt Marie Colvin posthum zum Leben, mit all ihren Stärken und Schwächen. Das Buch ist zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für einen verantwortlichen, professionellen Journalismus aus erster Hand, der Entwicklungen in ihrem Kontext darstellen kann.
Lindsey Hilsum: "In Extremis. The life of war correspondent Marie Colvin",
Verlag Chatto & Windus, 416 Seiten, 16,99 Euro
Verlag Chatto & Windus, 416 Seiten, 16,99 Euro