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Linke in den USA
Plädoyers für eine neue politische und soziale Ordnung

Seit der Occupy-Bewegung, aber spätestens mit dem US-Wahlkampf und dem bemerkenswerten Abschneiden des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders scheint ein Teil der amerikanischen Linken aus einem Dornröschenschlaf erwacht zu sein. Radikale linke Stimmen, die gesellschaftliche Alternativen aufzeigen, werden lauter, wie ein jetzt erschienener Sammelband zeigt.

Von Anne-Kathrin Weber | 29.08.2016
    Der US-Senator von Vermont und frühere Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders bei einer Rede im Wells Fargo Center in Philadelphia am ersten Tag des Nominierungsparteitag der Demokraten am 25. Juli 2016.
    Der Erfolg des bekennenden Sozialisten Bernie Sanders bei den Demokraten lässt die Linke in den USA hoffen. (picture alliance /dpa /EPA /Shawn Thew)
    Am Sozialismus führt kein Weg mehr vorbei – und zwar im Vorzeigeland des Kapitalismus, den Vereinigten Staaten. Dass dies kein schlechter Scherz ist, das finden zumindest einige junge amerikanische Linke. Spätestens der aktuelle Wahlkampf um das Präsidentenamt hat ihnen gezeigt: So wie es ist, kann es nicht weitergehen. Und das nicht nur, weil sich der bekennende Sozialist Bernie Sanders hartnäckig als linker Gegenspieler von Hillary Clinton profiliert hat. Die Journalistin Sarah Leonard schreibt:
    "Das Absurdeste an der US-Präsidentschaftswahl 2016 ist die lächerlich geringe Bandbreite an Lösungsansätzen, die von den Spitzenkandidaten für Probleme von historischer Tragweite vorgeschlagen werden. Im Getöse des Wahlkampfs geht vollkommen unter, dass sich mit keinem der auch nur halbwegs aussichtsreichen Kandidaten die Hoffnung auf eine grundlegend gerechtere Gesellschaft verbindet."
    Junge Leute gegenüber dem Sozialismus aufgeschlossen
    Leonard ist leitende Redakteurin des linksliberalen Politikmagazins The Nation. In dem Band "Die Zukunft, die wir wollen. Radikale Ideen für eine neue Zeit" sammeln sie und der Autor Bhaskar Sunkara kluge Beiträge, die sich mit Möglichkeiten und Perspektiven einer linkeren Zukunft für die Vereinigten Staaten befassen. Die Journalisten, Aktivisten und Wissenschaftler, die im Buch zu Wort kommen, fordern tatsächlich nicht weniger als einen sozialistischen Wandel für die Vereinigten Staaten; einen Sozialismus, wie Leonard ausführt, der dem Begriff "Demokratie" wieder essenziellen Wert zuschreibt und zugleich auf einer – Zitat – "massenhaften Umverteilung" basiert. Leonard und ihre Mitstreiter sind sich dabei der Unterstützung eines Großteils ihrer Generation – also der Amerikaner in den Zwanzigern und Dreißigern – sicher:
    "Die Aufgeschlossenheit junger Leute gegenüber dem Sozialismus könnte auf zweierlei hindeuten: Erstens haben sie es satt, immer wieder vom Kapitalismus enttäuscht zu werden, und zweitens ist das Sozialismusbild der nach 1989 politisierten Menschen nicht mehr vom Kalten Krieg geprägt."
    Obwohl sich diese jungen Menschen keinen utopischen Erfolgsfantasien von - Zitat: -"radikalem Potenzial" hingeben wollten, schreibt Herausgeberin Leonard, so würden sie doch klar zum Ausdruck bringen wollen, dass ihnen eine neue politische und soziale Ordnung vorschwebe.
    Allein die prägnant geschriebene Einleitung von Leonard, mit ihrer Bestandsaufnahme all jener Probleme, wie sie die jungen Linken in den USA sehen, ist es wert, dieses Buches in die Hand zu nehmen und zu lesen. Leonard schreibt, wie viele der anderen Autoren in dieser Aufsatzsammlung auch, aktivistisch und seriös zugleich. Angeregt vor allem durch die Occupy-Proteste und die antirassistische Initiative "Black Lives Matter" behandeln die Autoren eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte von einer linken Plattform aus. Ihre Themen sind unter anderem die feministischen Tücken der Vereinbarkeitsprämisse von Arbeit und Familie, der Nützlichkeitszwang, der die Wissenschaftsfreiheit bedrohe, oder die kritische Frage, ob und wie der momentane Hype um eine sogenannte "grüne Wirtschaft" mit linken Positionen zu vereinbaren ist. Diese und weitere Problemstellungen beleuchten die Autoren mit einer für ein Buch mit Manifest-Charakter oft bemerkenswerten Tiefe.
    Düstere Aussichten an amerikanischen Schulen
    Eindrucksvoll beweist dies beispielsweise die Publizistin Megan Erickson in ihrem Beitrag über die düsteren Aussichten an amerikanischen Schulen. Entweder, so schreibt Erickson, würden die Kinder in Privatschulen mit - Zitat - "karriereorientierter Pädagogik" bereits im Kindesalter zu Produktivkräften für den kapitalistischen Markt geformt oder sie wüchsen in dem oft desolaten Umfeld öffentlicher Schulen auf:
    "Ich frage mich, wie sich eine Schulbildung auf das Leben eines Kindes auswirkt, wenn Schülern aus einkommensschwachen Familien vor allem vermittelt wird, dass sie unauffällig, dankbar und robust sein sollen, wenn sie auf dem Weg in die Klasse Metalldetektoren passieren müssen, als gingen sie in ein Gefängnis und stellten eine potenzielle Gefahr dar, wenn sie routinemäßig beurteilt werden wie seelenlose Gegenstände, nachdem sie bei Multiple-Choice-Tests ihre Antworten mechanisch heruntergebetet haben."
    Ericksons Vision für ein neues Bildungssystem ist ein sozialistisches – das allerdings in einen größeren Kontext eingebettet werden müsse. Sie schreibt:
    "Die Methoden und Inhalte in den Schulen lassen sich nicht verändern, solange die materiellen Ungleichheiten außerhalb der Schultore unangetastet bleiben."
    Schwarze Bevölkerung von Gleichheit meilenweit entfernt
    Materielle Ungleichheit will Erickson vor allem für die schwarze US-Bevölkerung beseitigt wissen. Dafür treten auch viele der anderen Autoren in ihren Beiträgen radikal ein. Es wirkt bedenklich, wenn einer der Aktivisten von einem - Zitat - "sozialen und politischen Krieg" zwischen Weißen und Schwarzen in den USA spricht. Ganz falsch liegt er damit aber wohl doch nicht. Denn von Gleichheit sei die schwarze Bevölkerung meilenweit entfernt, monieren der Aktivist Jesse A. Myerson und der Journalist Mychal Denzel Smith:
    "In Ermangelung eines nennenswerten Wohlstands haben schwarze Amerikaner in einem Land, in dem die politische Teilhabe auf Dollar und Cent gründet, nach wie vor keine politische Vertretung. Das bedeutet auch, dass sie nicht darüber entscheiden können, wer im Kongress für sie spricht und welcher Bürgermeister oder Polizeichef für ihr Viertel zuständig ist. Für schwarze Amerikaner ist die wirtschaftliche Unsicherheit buchstäblich eine Frage, die über Leben oder Tod entscheidet."
    Für amerikanische Verhältnisse teils utopische Forderungen
    Vollbeschäftigung oder auch ein allgemeines Grundeinkommen erscheinen vielen Autoren als wirksame Maßnahmen, um diese wirtschaftliche Unsicherheit zumindest abzumildern. Andere Autorenideen fallen mehr oder weniger utopisch aus - vor allem für amerikanische Verhältnisse: Da fordern die einen beispielsweise die Abschaffung der Polizei, die anderen eine Besteuerung von Bodenbesitz oder eine flächendeckende kommunale Kinderbetreuung.
    Auch wenn einige der hier präsentierten linken Prämissen noch etwas kritischer hätten beleuchtet werden können – die Forderungen und Thesen, die die Autoren in dem Sammelband aufstellen, wirken nicht wahllos, sondern durchdacht und in manchen Fällen sogar durchaus umsetzbar. Das ist das eigentlich Erstaunliche an "Die Zukunft, die wir wollen": So ganz absurd wirkt der Ruf nach Sozialismus ausgerechnet für die Vereinigten Staaten nach Lektüre dieser kraftvollen linken Manifest-Sammlung gar nicht mehr.
    Sarah Leonard/Bhaskar Sunkara (Hrsg.): "Die Zukunft, die wir wollen. Radikale Ideen für eine neue Zeit", Übersetzung: Gabriele Gockel, Jochen Schwarzer und Robert A. Weiß, Europa Verlag, 208 Seiten, 16,99 Euro