Sandra Schulz: Wer könnte denn ein Interesse dran haben, davon abzulenken, dass bei den Zusammenstößen in Chemnitz ein Mann umgebracht wurde, und wieso spricht ein Volljurist von Mord, wenn die Staatsanwaltschaft wegen Totschlags ermittelt? Das sind zwei der Fragen, die sich jetzt stellen nach dem "Bild"-Interview von Verfassungsschutzpräsident Maaßen gestern, in dem er ja gesagt hatte, bei dem jetzt so viel gezeigten Video aus Chemnitz, sprächen gute Gründe dafür, "dass es sich um eine gezielte Falschinformation handele, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken", Zitat Ende. Bis auf Weiteres schweigt Maaßen jetzt.
Und am Telefon begrüße ich jetzt André Hahn, im Bundestag stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke, Mitglied im parlamentarischen Kontrollgremium und im Innenausschuss. Schönen guten Tag!
André Hahn: Ja, schönen guten Tag!
Schulz: Was sind aus Ihrer Sicht jetzt die dringlichsten Fragen an Herrn Maaßen?
Hahn: Zunächst einmal muss man ganz klar festhalten, das Tötungsdelikt ist durch nichts zu rechtfertigen, was in Chemnitz passiert ist, und insofern darf es aber auch durch niemanden politisch instrumentalisiert werden. Das ist die andere Seite. Und ich finde, Herr Maaßen lehnt sich völlig ohne Not sehr weit aus dem Fenster, indem er Videomaterial infrage stellt, das alle Ermittlungsbehörden, einschließlich der Generalstaatsanwaltschaft in Dresden, für echt halten. Ich weiß nicht mehr, was den Mann reitet, warum er das tut. Schon im Agieren in Sachen AfD hat ja Herr Maaßen viele Fragen aufgeworfen. Er hält seit Jahren seine schützende Hand über die offen rechtsextreme Partei und lehnt eine Beobachtung bis heute ab, aber kein Wort von ihm zum vielfachen Hitlergruß bei den Veranstaltungen in Chemnitz, zu offen neofaschistischen Äußerungen von Spitzenfunktionären der AfD, und wer das alles verharmlost, wie Herr Maaßen es tut, der kann aus meiner Sicht eben nicht länger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz bleiben.
"Selbstverständlich gibt es für den Begriff Hetzjagd keine feste Definition"
Schulz: Es hat gestern Abend noch eine Pressemitteilung gegeben des Bundesamts für Verfassungsschutz. Darin wird noch mal betont, was Hans-Georg Maaßen ja auch bei der Vorstellung des letzten Verfassungsschutzberichtes betont hat, dass es eine große Gefahr ist, die vom Rechtsextremismus in Deutschland ausgeht. Wenn wir jetzt bei Chemnitz bleiben, da ist es ja jetzt nicht unbedingt ein ungewöhnlicher Zustand, dass ein Verfassungsschutzpräsident, also der Chef eines Geheimdienstes, dass der nicht offen spricht. Warum jetzt die Aufregung?
Hahn: Er hat ja ein Interview gegeben, und er hat nicht das parlamentarische Kontrollgremium oder den Innenausschuss über seine Verdachtsmomente informiert oder Belege vorgelegt. Das hätte sich ja so gehört. Politik muss sagen, was ist, und deutlich Position beziehen gegen Fremdenfeindlichkeit, Hetze und Gewalt. Das hat leider auch Sachsens Ministerpräsident Kretschmer nicht ausreichend getan, und er hat die Chance verpasst, weil er klare Fakten hat zu relativieren versucht, und leider ist Herr Maaßen genau in diese Kerbe gegangen. Selbstverständlich gibt es für den Begriff Hetzjagd keine feste Definition, und das steht auch nicht im Strafgesetzbuch, aber wenn rechte Demoteilnehmer fremdländisch aussehende Menschen vor sich hertreiben, schlagen oder durch Tritte versuchen zu Fall zu bringen, was ist denn das anderes als eine Hetzjagd. Versuchte oder vollendete schwere Körperverletzung ist es in jedem Fall und damit auch eine klare Straftat. Hier könnte der Verfassungsschutz etwas tun, wenn er nämlich zur Überführung der Täter beitragen könnte, dann sollte er tätig werden. Rechte Gewalt zu bagatellisieren ist aber ganz sicher nicht seine Aufgabe, und leider hat Herr Maaßen genau das getan.
Schulz: Aber da betonen ja jetzt gerade die Ermittler wie auch der Verfassungsschutz, dass man im Moment daran arbeitet, sich ein Bild zu machen. Ist das nicht wirklich Teil des Problems, dass manche Menschen zu früh wissen, was gewesen ist? Und gerade der Begriff Hetzjagd, Sie haben es ja gerade selbst gesagt, das ist ja nun ein emotionaler Begriff, diese Mahnung zur Sachlichkeit, ist die nicht auch wichtig?
Hahn: Na ja, die Polizei hat die unbestreitbar schwierige Aufgabe, das Demonstrationsrecht zu schützen, und sie ist gerade in Sachsen durch Kürzungen unter der CDU-geführten Regierung personell völlig unzureichend ausgestattet, um ihrem Auftrag gerecht zu werden, und da habe ich jetzt für einen Aufruf, der jetzt auch gekommen ist von den Gewerkschaftschefs, zur Mäßigung durchaus Verständnis, aber Straftaten und rechte Propagandadelikte, die ja offenkundig stattgefunden haben - jeder, der dabei war, kann das bezeugen -, die müssen mit aller Entschiedenheit verfolgt werden, und da gibt es leider Defizite, und ich glaube, das kann niemand …
"Das steht einem Verfassungsschutzpräsidenten schlichtweg nicht zu"
Schulz: Ja, aber wer bestreitet denn, dass die verfolgt werden müssen? Wer bestreitet das?
Hahn: Ich merke nicht, dass sie ausreichend verfolgt werden. Wenn man dort dutzende Menschen sieht in den Demonstrationsgruppen, deren Arm zum Hitlergruß heben und dann hört, wie viel Ermittlungsverfahren inzwischen eingeleitet sind, da wird bei Demonstrationen, im Zusammenhang mit G20 in Hamburg, da werden Demonstrationen aufgelöst, da werden einzelne vermeintliche Straftäter aus den Gruppen herausgeholt. Hier lässt man sie über Stunden zum Teil gewähren. Das ist nicht akzeptabel, und der Verfassungsschutz ist natürlich vor Ort gewesen, und wenn er dort zur Aufklärung beitragen kann, zur Identifizierung von Straftätern, dann hat er seinem Auftrag wenigstens in diesem Punkt mal erfüllt, aber Herr Maaßen spricht darüber überhaupt nicht, das lässt er komplett außen vor, sondern relativiert noch entsprechendes Videomaterial und Beweismaterial, und damit - Sie haben es ja im Vorbericht angesprochen - wird auch die Presseberichterstattung infrage gestellt, und ich glaube, das steht einem Verfassungsschutzpräsidenten schlichtweg nicht zu, und das Maß seiner Verfehlungen aus den letzten Monaten ist einfach jetzt übervoll.
Schulz: Was wäre besser, wenn Hans-Georg Maaßen ginge?
Hahn: Wir würden weiter einen Innenminister Horst Seehofer haben, der ja bisher auch nichts unternimmt, um seinen Verfassungsschutzpräsidenten in die Schranken zu weisen, obwohl das dringend notwendig wäre, und es wäre aber ein klares Signal, dass ein hoher Behördenchef, ein Präsident eines Bundesamtes nicht einfach staatliche Ermittlungsverfahren, Medienberichte und Fakten, die ja nun viele tausend Menschen in Chemnitz selbst gesehen haben, infrage stellen kann und damit am Ende noch der AfD in die Hände spielt, die das ja, wie Sie auch eben gesendet haben, sofort aufgreift und von Fake News und Falschdarstellungen spricht. Das ist allerdings ein Punkt, der würde alleine durch die Entlassung von Maaßen nicht vorbeigehen. Aber es gibt etwas, das positiv stimmt, und das ist für mich der Umstand, dass dort 65.000 Menschen beim Rockkonzert gegen Fremdenfeindlichkeit, Hass und Gewalt in Chemnitz da waren, und das zeigt mir, dass es Weltoffenheit und Toleranz zum Glück immer noch in der Mehrheit gibt, und da müssen wir gemeinsam alles tun, dass das auch so bleibt.
Schulz: Der linke Innenpolitiker und Fraktionsvize im Bundestag, André Hahn, heute Mittag hier bei uns in den "Informationen am Mittag".
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