Matthias von Lieben: Frau Kipping, herzlich willkommen hier im Hauptstadtstudio.
Katja Kipping: Ja, einen schönen guten Tag.
von Lieben: Frau Kipping, die Europawahlen stehen vor der Tür, der Brexit ebenfalls, in den EU-Mitgliedstaaten, in verschiedenen, sind Rechtspopulisten, Nationalisten auf dem Vormarsch, auch in Deutschland. Es ist zu erwarten, dass sie auch bei der Europawahl ziemlich gut abschneiden werden. Auch vor diesem Hintergrund hat Emmanuel Macron, der französische Staatspräsident, diese Woche eine europäische Renaissance gefordert. Darin fordert er unter anderem konkret europaweite soziale Grundsicherung, europaweite Mindestlöhne, striktere Klimaschutzziele, aber auch einen Vertrag über mehr gemeinsame Verteidigung und Sicherheit und strengere Grenzkontrollen. Die Bundesregierung hat diesen Vorstoß begrüßt. Tun Sie das auch?
Kipping: Was ich begrüße ist, wenn es gelingt, europaweit Mindestsicherung einzuführen, damit alle Menschen europaweit vor Armut geschützt sind. Das konkrete Agieren von Macron ist aber sehr janusköpfig, weil einerseits hat er in seinem Aufruf ja auch gute Forderungen drin, aber zugleich macht er halt in Frankreich eine Politik, die heißt Reiche bei der Steuer eher entlasten, dafür die gesellschaftliche Mitte belasten. Zugleich macht er sich stark für Aufrüstung und das ist natürlich der falsche Weg.
von Lieben: In welchen Punkten stimmen Sie denn überein mit ihm, vielleicht mal so gefragt?
Kipping: Also die Linke kämpft seit Langem dafür, auch im Europaparlament, dass es europaweite soziale Mindeststandards gibt, dass man sich darauf verständigt, die Mindestlöhne europaweit zu erhöhen, dass wir Mindestsicherung einführen, die sich jeweils an der nationalen Armutsgrenze orientiert. Also, ich freue mich sehr, dass wir Initiativen, wie sie jetzt auch von Macron gemacht werden, halt gute Anregungen aufgreifen, für die die Linke seit Jahren kämpft.
"Rüstungsstopp gegenüber Saudi-Arabien war überfällig"
von Lieben: Jetzt haben Sie eben die Aufrüstungspolitik in Frankreich selbst angesprochen.
Kipping: Ja auch europaweit ist das ein Problem. Was ich verheerend finde, ist, dass gerade aktuell die Zusammenarbeit in der Europäischen Union ja faktisch nur noch in zwei Bereichen läuft, in der Abschottung nach außen und in der gemeinsamen Aufrüstung. Ich finde, beides hat verheerende Folgen und deswegen braucht es auf jeden Fall da einen Kurswechsel in beiden Punkten.
von Lieben: Und das ist ein gutes Stichwort, Rüstungsexporte, Rüstungsindustrie, da hat die Bundesregierung auch in dieser Woche jetzt den Lieferungsstopp von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien erneut verlängert bis Ende März. Ursprung war eigentlich der Mord an Jamal Khashoggi damals, an dem saudischen Journalisten. Ist das nicht in Ihrem Sinne?
Kipping: Ja da haben wir auch lange drum gekämpft. Ich meine, ich fand ja, dieser Rüstungsstopp gegenüber Saudi-Arabien war längst überfällig. Man muss wissen, dass Saudi-Arabien sich in einem Krieg gegen Jemen beteiligt, wo wirklich Millionen Menschen, darunter Kinder, Frauen, Ältere vom Hungertod bedroht sind. Und Saudi-Arabien spielt da eine ganz schlimme Rolle. Also schon das sozusagen wäre ein Anlass gewesen, um zu sagen, an so einen Schurkenstaat werden keine Waffen mehr hingeschickt.
Dann der Fall Khashoggi, dass der dann endlich sozusagen so viel Ärger verursacht hat, dass die Regierung sich dazu durchgerungen hat, was längst überfällig war, das ist in Ordnung, jetzt muss man aber auch dabei bleiben. Wir als Linke gehen ja weiter und wollen einen generellen Stopp von Rüstungsexporten, und deswegen sage ich: Das Beste ist, man macht kein Geschäft mit Rüstung, weil am Ende ist das immer ein Geschäft mit dem Tod.
von Lieben: Jetzt hat sich aber Deutschland schon seit Langem für den Weg der Rüstungsindustrie entschieden. Da gibt es auch weiter Zoff in der Großen Koalition. Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Chefin, sagt jetzt, naja, was sollen wir denn den Arbeitnehmern sagen, den Beschäftigten in der Rüstungsindustrie, wenn die alle ihren Job verlieren, wenn Rüstungsexporte komplett gestoppt werden würden?
Kipping: Aber all das Wissen, die Fähigkeiten, die es in Fabriken gibt, wo Rüstung hergestellt wird, könnte doch auch genutzt werden für zivile Produktionen. Also wir haben uns immer stark gemacht für Konversionsprogramme, also Umwandlungsprogramme, wo man auch schaut, Mensch, welche Produkte könnten mit euren Fähigkeiten hergestellt werden, die am Ende womöglich sogar Menschenleben retten und eher darauf zu setzen.
von Lieben: Rüstungsexporte stoppen sofort, das war auch eine Forderung in Ihrem Europawahlprogramm, das jetzt kürzlich in Bonn verabschiedet wurde. Da konnten sich viele darauf einigen. Ansonsten wurde es am Ende eher ein Kompromiss. Einerseits wollte man die EU-Skeptiker zufriedenstellen, andererseits die EU-Befürworter, die Pro-Europäer, zu denen Sie auch gehören. Aber ist nicht die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, können Sie damit, mit einem Sowohl-als-auch-Programm die Wähler überzeugen und vielleicht ein besseres Ergebnis einholen als bei der letzten Europawahl, 7,4 Prozent?
Kipping: Also ich lese unser Europawahlprogramm anders als Sie und am Ende gab es eine überwältigende Zustimmung, nur ganz wenige Gegenstimmen und Stimmenthaltungen. Zum einen muss man sagen, es gab keinerlei Änderungsanträge, die die EU aus der Perspektive des nationalen Tellerrandes heraus kritisiert haben oder die wollten, dass es zurück in den nationalen Tellerrand gibt. Diese Position ist bei uns so verschwindend gering, dass es nicht mal einen Änderungsantrag dazu gab, sondern die Frage war nur, mit was für einer Schärfe kritisieren wir das, was aktuell falsch läuft.
Und dann gab es eine Debatte, finde ich, die uns sehr schmückt, nämlich sprechen wir uns für eine Republik Europa aus. Das ist ja eine Idee, die kommt von Robert Menasse und Ulrike Guérot, die wirklich auch sehr inspirierend ist und die aber auch Vor- und Nachteile hat, weil eine Europäische Republik würde natürlich erfordern, dass alle Grundlagenverträge komplett neu verhandelt werden müssen und würde auch die Frage aufwerfen: Naja kleinere Staaten, haben die denn dann überhaupt noch ein Mitspracherecht oder werden die nicht am Ende einfach dann von den Ländern, die viele EinwohnerInnen haben, komplett überdominiert?
Und diese Fragen haben wir diskutiert und am Ende haben bei uns immer 45 Prozent gesagt, wir wollen eine Republik Europa. Das heißt, es gibt bei uns einen großen Fan-Club dafür. Aber was jetzt drin steht, ist nicht einfach ein Kompromiss, sondern ist eine klare Aussage. Wir kämpfen für eine Europäische Union, die sozial, die demokratisch und die friedlich ist. Und ich würde sagen, zu kritisieren, was gerade schief läuft, ist die viel größere Liebeserklärung an Europa, anstatt so zu tun, als ob alles super wäre, weil der jetzige Zustand spielt den rechten Hetzern in Europa in die Hände und das darf man nicht zulassen.
"Kritik und Protest gegen die Regierung Maduro ist angebracht"
von Lieben: Aber es ist ja trotzdem nicht von der Hand zu weisen, dass es eben zwei verschiedene Lager gibt, einmal, Sie haben es selber erwähnt, die Republik-Europa-Befürworter, was ja eine ziemlich extreme Position ist, und andererseits eben zum Beispiel bei der Strömung der Antikapitalistischen Linken Leute, Delegierte von dem Parteitag, die sagen, nein, wir halten die EU eigentlich für unreformierbar, manche sagen, wir wollen sie sogar abschaffen. Sind das nicht zwei unvereinbare Extreme?
Kipping: Es gibt ja ganz viele Punkte, wo sich beide einig waren. Nämlich dass so, wie es jetzt läuft, es nicht weitergehen kann, weil momentan ja nur noch die Zusammenarbeit innerhalb der EU funktioniert, wenn man sich abschottet gegen Geflüchtete währenddessen sich beide Seiten total einig darin sind zu sagen, wir wollen Seenotrettung unterstützen. Und deswegen war auch einer der bewegendsten Momente auf dem Parteitag, als Pia Klemp, eine Frau gesprochen hat, die als Kapitänin auf See war und Geflüchtete vor dem Ertrinken gerettet hat. Übrigens droht ihr und ihrer Crew jetzt für diesen Akt der Menschlichkeit in Italien eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren. Das ist eben auch die Realität in der Europäischen Union, und das in aller Schärfe zu kritisieren, glaube ich, dazu ist man eher verpflichtet, gerade wenn man eine glühende Europäerin ist.
von Lieben: Frau Kipping, lassen Sie uns noch kurz über ein anderes Thema sprechen, was derzeit international vor allem für viel Aufregung sorgt: Venezuela. Da gab es auch einen Konflikt auf dem Europaparteitag Ihrer Partei in Bonn. Da ist eine Gruppe von, ich glaube, knapp 20 Personen auf die Bühne geströmt, unter anderem dabei die stellvertretende Bundestagsfraktionsvorsitzende Heike Hänsel, die Solidarität gefordert haben, mit dem venezolanischen Regime von Nicolás Maduro, keine Kritik geäußert haben, obwohl es genug Kritikpunkte gibt. Laut Amnesty International zum Beispiel, das ist ein Zitat, bedroht, inhaftiert und ermordet die Regierung von Maduro Oppositionelle. Zuletzt hatte sie den deutschen Botschafter auch ausgewiesen. War diese Solidaritätsaktion eigentlich mit Ihnen abgesprochen?
Kipping: Nein, das war sie nicht. Wir als Parteivorstand, und da sind wir uns auch mit der Fraktionsspitze total einig, haben eine andere Beschlusslage. Wir sagen ganz klar, die Regierung Maduro ist keine sozialistische und keine linke Regierung, und Kritik und Protest gegen sie sind mehr als legitim und angebracht. Zugleich müssen wir aber auch sagen, dass die einseitige Anerkennungspolitik der deutschen Bundesregierung höchst fragwürdig ist. Es gibt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, was gesagt hat, also das Agieren der deutschen Bundesregierung, die gesagt hat, wir erkennen jetzt einfach Guaidó einseitig an als den Präsidenten, so kann man es auch nicht machen.
Unsere Position als Partei ist eigentlich eine sehr gut ausgeglichene, weil wir die Maduro-Regierung kritisieren, zugleich aber sagen, das Spielen oder Setzen auf militärische Intervention vonseiten der USA ist verheerend, eine einseitige Anerkennung von Guaidó ist falsch, weil sie nur noch Öl ins Feuer gießt. Wir setzen jetzt auf einen Dialog in Venezuela und rufen alle Seiten zum Gewaltverzicht auf. Das Ärgerliche ist, dass diese Aktion in der Tat unsere, finde ich, gute Beschlusslage da in ein anderes Licht gerückt hat.
von Lieben: Distanzieren Sie sich also klar von Heike Hänsel, unter anderem dabei auch Alexander Neu, Diether Dehm?
Kipping: Ich kann nur sagen, die sind ja da mit einem Plakat hochgegangen, wo Venezuela und Sozialismus in einem Atemzug genannt werden, und das ist erst mal total wider aller Sachlage, weil in Venezuela gibt es keinen Sozialismus, und das ist auch ein echter Schaden, den man an der Idee des Sozialismus anrichtet, wenn man so etwas in einem Atemzug nennt.
"SPD versucht sich von Schröder zu emanzipieren"
von Lieben: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Zu Gast ist Katja Kipping, die Parteivorsitzende der Partei Die Linke. Frau Kipping, über Ihre europapolitischen Vorstellungen haben wir gesprochen, über Außenpolitik generell. Lassen Sie uns jetzt einmal auf die Entwicklung im Inland schauen. Die SPD hat in diesem Jahr eine sozialpolitische Offensive gestartet, spricht von einer Abkehr von Hartz IV, will eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung einführen. Auch die Grünen fischen im linken Lager, sprechen sich für eine Garantiesicherung aus. Spüren Sie da gerade, dass der Platz im linken Lager ziemlich eng wird?
Kipping: Nein, ich erlebe was anderes, und zwar dass wir endlich wieder stärker darüber reden, wo sozialpolitisch die Reise hingehen muss. Das ist ein großer Fortschritt und ich bin auch überzeugt, dass wir den Rechtsruck nur wirklich nachhaltig aufhalten können, wenn es gelingt, glaubhaft in Aussicht zu stellen, dass es zu einem grundlegenden Politik- und Regierungswechsel hierzulande kommt, und zwar zu fortschrittlichen Mehrheiten links der Union kommt, wo die Menschen, die jetzt Abstiegsängste haben, die frustriert sind, wirklich sagen: Mensch, es könnte ja passieren, dass sich für mein Leben wirklich was verbessert, ich vor Altersarmut geschützt bin, ich generell vor Armut geschützt bin, die Miete bezahlbar wird oder bleibt. Und das ist eine wichtige Entwicklung, wo ich glaube, wo am Ende alle fortschrittlichen Parteien davon, alle drei profitieren können.
Das Papier der SPD enthält gute Punkte und sie versuchen, sich ernsthaft von Gerhard Schröder ein Stück weit zu emanzipieren. Aber gerade wenn es um den Bereich Hartz IV, nämlich das Sozialgesetzbuch 2 geht, da muss ich sagen, bieten sie wenig, außer Lyrik, weil die zentralen Punkte von Hartz IV sind niedrige Regelsätze, die die Menschen in Armut halten. Das Damoklesschwert der Hartz IV-Sanktionen und die Bedarfsgemeinschaft, wo du quasi, wenn dein Partner nur ein bisschen über einer Grenze verdient, sofort zur Taschengeldempfängerin degradiert wirst und nicht Anspruch auf Leistung hast, diese drei Punkte werden überhaupt nicht angegriffen.
von Lieben: Aber viele Positionen der SPD sind ja deckungsgleich tatsächlich mit dem Programm der Linken. Ein Stichwort ist da eben nur der Mindestlohn.
Kipping: Ja, das ist ja gut.
von Lieben: Aber wird es da jetzt ein Wettlauf um den höchsten Mindestlohn geben oder wie positioniert sich die Linke dazu?
Kipping: Nein, das ist doch nicht so, die Frage des Wettlaufs ist nicht der Punkt. Ich finde, die viel spannendere Frage ist, wie kommen wir dahin, dass das, was auf dem Papier an richtigen Sachen steht, auch wirklich durchgesetzt wird. Und da glaube ich, müssen sowohl SPD und Grüne sich am Ende entscheiden. Wollen sie gemeinsam mit der Linken einen wirklichen Politik- und Regierungswechsel einleiten, der dazu führt, dass alle hierzulande vor Armut geschützt sind, dass der Klimaschutz mutig in Angriff genommen wird und dass die Mitte deutlich besser gestellt wird? Oder wollen sie weiter an der Seite der Union so ein bisschen kosmetische Korrektur machen, aber am Ende zu einer weiteren Verfestigung von Armut beitragen? Ich kann nur dafür werben, dass wir mutig genug sind, alle drei zusammen mit den vielen, die in der Gesellschaft schon in Bewegung sind, für fortschrittliche Mehrheiten links der Union zu kämpfen.
von Lieben: Dafür werben Sie jetzt eigentlich schon relativ lange, auch seit Januar habe ich das Gefühl ziemlich aggressiv immer wieder, ziemlich offensiv trifft es vielleicht besser.
Kipping: Ich würde nicht sagen aggressiv, aber ich spreche ja sehr intensiv eine Einladung aus.
von Lieben: Genau, das macht genauso Ihr Co-Parteichef Bernd Riexinger, aber momentan sind die Konstellationen, die Verhältnisse, die Mehrheitsverhältnisse nicht so, als ob es für Rot-Rot-Grün Mehrheiten geben würde.
Kipping: Aber Aufgabe von Politik ist es doch nicht, wie das Kaninchen auf die Schlange auf Umfragen zu schauen und zu sagen, oh, haben wir denn jetzt für alles, was wir wollen, schon eine Mehrheit.
von Lieben: Aber Sie wollen ja Regierungsverantwortung übernehmen.
Kipping: Ja, unsere Aufgabe ist es ja zu sagen, was könnte begeistern, und jetzt müssen wir auch der gesellschaftlichen Fantasie Futter geben und dafür werben. Und da gibt es, glaube ich, an allen drei Parteien auch Barrieren, auch in den Köpfen, die zu überwinden sind, und es braucht viel mehr Formate und Diskussionsrunden, wo wir darüber reden, nicht nur was jetzt falsch läuft, sondern wohin die Reise im Positiven gehen könnte.
Zusammenspiel von Alltagssorgen und Zukunftsfragen
von Lieben: Bisher verfängt das bei den Wählern nicht, zumindest auf Bundesebene, wenn man sich da die Umfragen anschaut. Ich muss Umfragen wieder hernehmen. Die Linke steht bei 8 bis 10 Prozent momentan, die AfD eigentlich relativ konstant bei 11 bis 14 Prozent, die Grünen teilweise bis zu 20 Prozent. Warum schafft es die Linke da momentan nicht mitzuziehen?
Kipping: Also ich meine, sagen wir einmal so, es ist ja schon mal gut, dass wir uns stabil auf so einer Zahl halten. In vielen Ländern Europas wären die Leute total froh, wenn es links von der Sozialdemokratie so eine starke stabile Partei gibt, die auch bei den Mitgliedern wächst, weil das darf man auch nicht vergessen, wir entwickeln uns ja gerade. Also gerade jüngere Leute kommen besonders stark zur Linken, weil sie mit uns gemeinsam etwas gegen Rechts machen wollen, aber auch was für soziale Gerechtigkeit tun wollen. Und ja, ich finde auch, dass bei uns deutlich mehr drin wäre. Da haben wir jetzt ein paar Sachen in die Wege geleitet und das muss jetzt greifen.
von Lieben: Aber mit welchen Ideen wollen Sie denn dann die Wähler abholen, also mit welcher Vision einer linken Politik?
Kipping: Ich mache es mal konkret an ein paar Punkten. Also ich glaube, wir müssen beides leisten, nämlich zum einen ganz nah dran sein an den Alltagsproblemen und zu den Alltagsproblemen gehört, dass viele Menschen ein Problem haben, mit ihrem Einkommen über den Monat zu kommen, da muss man etwas tun. Ein Problem sind zum Beispiel explodierende Mieten. Deswegen engagieren wir uns seit Langem darum, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum gibt, und wir sind stark mit dabei, dass es eine bundesweite Mieterinnen- und Mieterbewegung gibt, das ist ein Punkt.
Zum Zweiten stellen wir uns natürlich den großen Zukunftsaufgaben und das heißt, dass alle Menschen auf diesem Planeten auch eine Zukunft haben sollen, sowohl Krieg und Aufrüstung wie der Klimakollaps bedrohen diese Zukunft, und deswegen braucht es auch den Einstieg in eine wirkliche Friedenspolitik und den mutigen Klimaschutz. Und ich denke, dieses Zusammenspiel von Zukunftsfragen und aber auch nah dran sein an den Alltagssorgen und da immer wieder im Gespräch mit den Menschen zu sein, dass das was Wichtiges ist und dass das deutlich mehr Prozente verdient hätte.
von Lieben: Ich habe die Umfragen eben angesprochen, dass momentan die Politik nicht so sehr verfängt. Kann das nicht auch daran liegen, dass die Linke derzeit vor allen Dingen auch innenpolitisch ziemlich zerstritten ist bei vielen Positionen?
Kipping: Ja aber das sind jetzt ja die Debatten aus dem Jahr 2018, die sie führen. In der Tat, uns ist immer aufgedrückt worden eine Debatte über die Migrationspolitik, das hat uns wahrlich nicht geholfen.
von Lieben: Da gibt es die Differenzen nicht?
Kipping: Nein, uns ist so eine Debatte aufgedrückt worden und uns ist es gelungen Ende des Jahres, das auf eine konstruktive Ebene zu heben, wo wir erst mal festhalten, was wir an gemeinsamen Positionen haben und den einen Punkt, wo es einen Dissens gibt, festgehalten haben. Und ich glaube auch, dass uns das ganz klar geschadet hat.
Aber noch mal, weil Sie immer wieder auf die Umfragen kommen, wir müssen uns ja auch vergegenwärtigen, wir haben seit über drei Jahren eine Situation, wo die großen gesellschaftlichen und medialen Debatten eigentlich immer um das Thema der Flüchtling, die Muslime als Gefahr, als Problem kreisen und es immer auf eine Art und Weise thematisiert wird, dass es erst mal den ganz Rechten in die Hände spielt. Und für diese Anordnung, für diese gesellschaftliche, ist es schon eine enorme Leistung, dass die Linke sich stabil gehalten hat und sogar in der Parteientwicklung vorangekommen ist. Aber in der Tat, das reicht uns nicht, wir wollen mehr und darum kämpfen wir.
von Lieben: Aber da sprechen Sie ja einen ganz konkreten Punkt an, um den es oft bei der Linken innerparteilich eben geht. Da gibt es einmal das Lager um die Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, die derzeit erkrankt ist. Die wollen eine restriktivere Migrationspolitik. Dann gibt es andere, die stehen eher für offene Grenzen und grenzenlose Solidarität, und diese Positionen, die prallen ja einfach immer wieder aufeinander.
Kipping: Also es gibt dieses einen Dissens in der Frage der Arbeitsmigration, den haben wir auch festgehalten. Aber wenn Sie sich mal anschauen, wie die Reaktionen auf dem Parteitag waren auf die Rede von Pia Klemp, da kann man nicht sagen, dass in dieser Frage unsere Partei zerrissen ist, sondern die Menschen waren geschlossen begeistert von diesem Einsatz hinter der Aussage, Seenotrettung ist kein Verbrechen, Menschenleben gehören gerettet. Und wir wissen, dass die EU ein Kontinent der Einwanderung ist und dass Menschenrechte unteilbar sind, versammelt sich die Partei nicht nur geschlossen, sondern voll Leidenschaft und Zustimmung.
von Lieben: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Katja Kipping, der Parteivorsitzenden der Partei Die Linke. Frau Kipping, Sie haben es gerade noch mal angesprochen, dass es Konflikte gibt beim Thema Arbeitsmigration. Ich hatte zuvor schon angesprochen, ja, da gibt es die Lagerbildung um Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, auch mit ihrer Aufstehen-Bewegung, die explizit sagt, wir wollen Wähler von der AfD zurückholen. Wollen Sie das auch und wie wollen Sie das tun?
Kipping: Ich denke, wir haben uns bereits Ende letzten Jahres darauf verständigt, diese Frage so zu stellen und mit Ja und Nein zu beantworten, dass man dann schon in die Falle getappt ist, sondern wir sagen, wir kämpfen natürlich um jede Wählerstimme, ganz gleich wen sie davor gewählt haben oder wen sie sich in Zukunft vorstellen können zu wählen. Das ist doch auch eine typische Journalisten-Frage, wollen Sie eher grüne Wähler oder eher AfD-Wähler holen, weil wenn ich mit Menschen rede, frage ich nicht, ach wen haben Sie denn davor gewählt, ist das Gespräch jetzt zu Ende oder nicht, sondern ich gehe immer auf die Menschen zu und frage dann, wo sie der Schuh drückt und was sich ihrer Meinung ändern muss und was wir da zusammen tun können.
von Lieben: Das sage ich vor allem auch vor dem Hintergrund, dass Sie sich bei der Klausurtagung der Bundestagsfraktion jemanden von Emnid eingeladen haben, der eben die Wählerpotenziale für die Linke Ihnen mal schildern sollte. Und da war das Ergebnis unter anderem, dass viele potenzielle Linken-Wähler derzeit die Grünen wählen und ganz wenig nur, und zwar zu 1 Prozent, die AfD. Also das ist der Kontext, vor dem wir hier reden.
Kipping: Ja das stimmt, es gibt dann wahltaktische Analysen, wo man schaut, wie sich die Wählerpotenziale überschneiden. Es ist in der Tat für dann die Wahlstrategen interessant, sozusagen für diejenigen, die mit Menschen direkt im Gespräch sind, ist das nicht das Entscheidende und es ist vielleicht auch für die Zuhörer nicht so interessant, wie die Taktiken da sind, sondern entscheidender ist doch, für welche konkreten Veränderungen treten Parteien ein. Und da kann ich nur sagen, wir treten verlässlich dafür ein, dass wirklich Schluss gemacht wird mit dem System der Angst, für das Hartz IV steht. Und wir treten dafür ein, dass alle Menschen ohne Sorge über den Monat kommen mit ihrem Einkommen.
von Lieben: Im Juni soll auf einem großen Kongress der Bewegung Aufstehen von Mitinitiatorin Sahra Wagenknecht über ein Programm abgestimmt werden, über das zuvor online mit der Basis diskutiert wurde und die Initiatoren nennen das Ganze Regierungsprogramm, obwohl eben Aufstehen angekündigt hat, eigentlich nicht zu Wahlen antreten zu wollen. Klingt das nicht nach Spaltung?
Kipping: Nein, ich finde, das klingt eher nach einem großen Selbstbewusstsein von Bewegung. Ich finde das immer gut, wenn Bewegungen mit sehr viel Selbstbewusstsein reingehen. Es ist ja was mich nur verwundert ist, warum es so viel Aufmerksamkeit für diese eine Bewegung gibt, weil wir haben gerade eine Situation, wo sich unglaublich viel regt. Also im letzten Jahr ist alleine in Berlin eine Viertel Millionen auf die Straße gegangen für die Unteilbarkeit von Menschenrechten.
Wir haben gerade in ganz vielen Städten Menschen, die für bezahlbare Mieten und gegen Mietenexplosionen auf die Straße gehen. Die Beschäftigten in der Pflege wehren sich gegen den Pflegenotstand. Junge Menschen engagieren sich für den Klimaschutz und überall ist die Linke ein organischer Bestandteil davon und überall kommen sehr viele Menschen zusammen. Bei Aufstehen kam jetzt mal bundesweit, als wir den Aktionstag aufgerufen haben, 2.000 Menschen zusammen. Das ist jetzt im Schnitt bundesweit nicht ganz so viel, aber natürlich sollen auch kleinere Initiativen entsprechende Aufmerksamkeit haben. Ich würde nur gerne das ein bisschen einordnen, weil gerade ganz viele Menschen in Bewegung sind, mit denen wir eng zusammenarbeiten.
"Wahlkampf in Sachsen wird zum Dreikampf"
von Lieben: Frau Kipping, jetzt kommen wir langsam schon zum Schluss des Interviews. Blicken wir einmal nach Ostdeutschland. Da stehen in diesem Jahr noch drei wichtige Landtagswahlen an, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Auch da, die Umfragen bisher verheißen nicht viel Gutes. Da ist sogar die Gefahr, dass Sie in allen drei Ländern von der AfD überholt werden. Die Regierungsbeteiligung in Thüringen ist nicht gesichert, ebenso in Brandenburg. In Sachsen zieht die AfD ziemlich sicher an Ihnen vorbei. Sie sind selbst gebürtige Dresdnerin. Was macht Ihnen eigentlich zurzeit noch Hoffnung, dass die Linke da nicht unter die Räder gerät?
Kipping: Zunächst muss man sagen, in der Tat droht die Gefahr, dass die AfD überall besonders stark wird und ich finde, das ist auch ein Anlass, alle Leute zu motivieren, Leute, geht zur Wahl und setzt ein klares Zeichen gegen Rechts. Jetzt zu den Ländern im Einzelnen, ich finde, dass wir dort, wo wir in der Regierung waren, auch echt den Unterschied gemacht haben, sei es zum Beispiel ein Gesetz zur Einführung der Parität zwischen Männern und Frauen, was wir in Brandenburg angeschoben haben, die Gebührenfreiheit von Kitas.
In Thüringen macht sich die Linke gerade dafür stark, dass die zwölf Euro Mindestlohn ins Vergabegesetz kommen, also schon mal praktisch angewendet werden, wenn der Staat öffentliche Aufträge vergibt. Also kurzum, wir machen da echt den Unterschied und deswegen kämpfen wir natürlich darum, dass die fortgesetzt werden.
Hinzu kommt, die Situation in Thüringen sehe ich deutlich optimistischer als Sie, weil Bodo Ramelow als Ministerpräsident wird nicht nur als Landesvater hervorragend angenommen, er hat enorme Zustimmungswerte, sondern er gilt auch zu Recht inzwischen nicht nur in Thüringen als die Stimme des Ostens. Und insofern bin ich sehr zuversichtlich, dass er auch wieder von den Thüringern als Ministerpräsident gestärkt hervorgeht aus diesen Wahlen.
Und in Sachsen haben wir eine schwierige Situation, da muss man ja sagen, dass die CDU dort seit der Wende die Regierungspartei ist und deswegen ist die Aufgabe, die die Linke dort hat, deutlich zu machen, dieser Wahlkampf wird ein Dreikampf. Es gibt zum einen die rechten Hetzer. Dann gibt es die CDU-Staatspartei, die verantwortlich ist zum Beispiel für Personalmangel in den Schulen, und dann gibt es sozusagen das Lager der solidarischen und sozialen Kräfte und die werden in Sachsen von den Linken angeführt, und deswegen muss die Linke natürlich möglichst gestärkt aus diesen Wahlen hervorgehen.
von Lieben: Trotzdem mussten Sie bei der vergangenen Bundestagswahl da erhebliche Verluste einstecken im Osten. Warum ist die Linke im Osten nicht mehr die Kümmerer-Partei, warum saugt die AfD da so viel Protest?
Kipping: Also wenn sich jemand um die alltäglichen Sorgen kümmert, dann sind wir das. Wenn ich früh morgens vor dem Jobcenter stehe, habe ich die AfD noch nie gesehen. Was ich auch weiß aus verschiedenen Gesprächen, dass es eine gewisse Frustration gibt, die gar nicht der Linken gilt, aber uns dann trifft, sodass die Leute sagen, naja ich bin jetzt von Hartz IV seit vielen Jahren betroffen und dieses blöde Gesetz ist immer noch nicht weg. Und dass es das weiterhin gibt, ist ja jetzt nicht Schuld der Linken, weil wir als Partei in Gänze und ich auch ganz persönlich haben immer dagegen gekämpft, aber eine Mehrheit im Bundestag hat halt immer dafür gestimmt, dass Hartz IV so bleibt wie es ist.
Deswegen würde ich sagen, wenn es etwas gibt, was der AfD in die Hände gespielt hat, dann ist das auch eine Sozialpolitik gewesen, die weiterhin auf Existenzangst setzt. Es ist jetzt nicht so platt, dass man sagt, nehmt den Leuten alle Existenzängste, dann ist niemand mehr ein Rassist. So einfach ist es nicht, aber wir wissen, dass in einem Klima, wo Existenzängste befeuert werden von der Sozialpolitik, und das machen die Hartz IV-Sanktionen, da hat es halt rechte Propaganda deutlich leichter.
von Lieben: Frau Kipping, Sie sind jetzt seit 2012 Vorsitzende der Partei Die Linke, also im Juni sind es fast sieben Jahre. Bisher konnten Sie noch nie wirklich gestalten auf Bundesebene, waren immer in der Opposition. Woher nehmen Sie die Hoffnung oder glauben Sie daran, dass die Linke mit Ihnen als Vorsitzende noch mal Regierungsverantwortung wird übernehmen?
Kipping: Ich ziehe meinen Optimismus daraus, weil ich glaube, es ist die beste Möglichkeit und wahrscheinlich die Einzige, um den Rechtsruck aufzuhalten. Und ich kann keine Garantie ausstellen, dass das passiert, aber ich bin überzeugt davon, dass das notwendig ist und deswegen werbe ich dafür und hoffe am Ende auch, davon Mehrheiten überzeugen zu können.
Und man muss sich ja einfach einmal anschauen, wir haben jetzt in Berlin eine SPD-Linke-Grüne-Regierung, die haben gerade Halbzeitbilanz gezogen, und diese Bilanz kann sich sehen lassen. Da gibt es Einsatz für die Rekommunalisierung von Wohnungen, da gibt es Verbesserungen für die Kitas, da gibt es sozusagen Bemühungen um Stärkung der umweltfreundlichen Verkehrsmittel und, und, und.
von Lieben: Also glauben dran oder nicht?
Kipping: Ich hoffe darauf, ja natürlich.
von Lieben: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Kipping.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.