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Lion Feuchtwanger: "Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher"
Der Dichter, das Exil und die Frauen

Lion Feuchtwanger privat: Lange nach seinem Tod entdeckte man Tagebücher des erfolgreichen Schriftstellers. Der unsichere Student, der Münchner Bohemien und der antifaschistische Autor im Exil verzeichnete darin seine ganz alltäglichen Probleme und Vergnügen - ehrlich und absolut unliterarisch.

Von Eva Pfister |
    Cover von Lion Feuchtwangers Tagebüchern "Ein möglichst intensives Leben". Im Hintergrund ist ein Schwarz-Weiß-Foto der New Yorker Freiheitsstatue zu sehen.
    Feuchtwangers Zeit in Amerika war ereignisreich (Aufbauverlag / Deutschlandradio / Daniela Kurz)
    Die Tagebücher von Lion Feuchtwanger sind keine literarischen Texte wie etwa die von Max Frisch, auch keine begleitenden Überlegungen zum Werk wie Brechts Arbeitsjournal. Mehr ähneln sie einem Journal intime, das meistens nur Fakten des Alltags mitteilt. Für die Forschung ist das eine Fundgrube. Beinahe täglich notierte der Schriftsteller, woran er arbeitete, welche Bücher er las, was er im Theater oder im Kino gesehen und wen er getroffen hatte. Das alles kurz, knapp und mit höchstens lakonischen Kommentaren:
    "1. Januar 1932. Den Silvesterabend bei Zweig. Lily Offenstadt da, Zweigs Schwägerin, ein Schwede, der Rechtsanwalt Strauß. Es ist leidlich angenehm. Ich lese die ersten beiden Kapitel aus dem 'Josephus' vor, sie scheinen zu wirken. Auch wird es erfreulicherweise nicht allzu spät. Marta ganz gut aufgelegt. Schimpft mich aber zu Hause etwas. …
    Dass er an diesem Tag noch ausführlicher wird, liegt am Jahreswechsel."
    "Die Bilanz des vergangenen Jahres ist ganz gut. Vom 1. Teil des Josephus liegen fast ⅔ vor, und er scheint etwas geworden. Gesundheitlich geht es mir ganz gut, abgesehen davon, daß sich in diesem Jahr das Herz bemerkbar gemacht hat. Marta ist ein wenig reizbar, allein ich vertrage mich doch gut mit ihr und mag sie sehr. Meine Beziehungen zu anderen Menschen sind allerdings nicht sehr warm. Brecht hat mir nichts mehr zu geben und ich ihm wenig. Zweig ist zu flach und zu launisch […], alle ein wenig zu oberflächlich, Versuche, mit neuen Frauen in Beziehung zu kommen, sind fehlgeschlagen. – . – Finanziell sieht es nicht übel aus. Trotzdem ich das Haus gekauft und zur größeren Hälfte bezahlt habe, decken sich ungefähr Einnahmen und Ausgaben."
    Anfang 1932 ist Lion Feuchtwanger 47 Jahre alt und im Literaturbetrieb ganz oben angekommen. Seine Romane "Jud Süß" und "Erfolg" sind internationale Bestseller, seine Theaterstücke werden gespielt, seine Essays und Stellungnahmen in den wichtigsten Zeitungen abgedruckt. Inhaltlich findet sich davon jedoch in den Tagebüchern kaum etwas. Wer das Werk dieses doch sehr reflektierten Schriftstellers nicht kennt, muss aufgrund seines Journals den Eindruck eines oberflächlichen Menschen erhalten, der sich nur für Frauen und Geld interessiert. Etwa bei der Lektüre der Einträge von Weihnachten 1933, als Feuchtwanger schon im südfranzösischen Exil lebt:
    "25. Dez. Irrsinnig müde. Trotzdem früh aufgestanden, um mit der Breitscheid Post zu erledigen. Dann bei Remarque Tee getrunken. Ika da, mit ihr gevögelt. Zu Abend gegessen. Ganz nett.
    26. Dez. […] Kantorowicz ruft an, will Geld für Dimitroff. Woher die Wespen alle meine Adresse haben?"
    Dass der Autor sich intensiv gegen den Nationalsozialismus engagierte und viele Mitemigranten unterstützte, kann man diesen Zeilen kaum entnehmen.
    Der unsichere Student
    Die Hauptrolle in den Tagebüchern von Lion Feuchtwanger spielen die Frauen – oder genauer: seine Sexualität. Der starke erotische Trieb, der ihn etwa nach zwei sexuellen Begegnungen noch eine Prostituierte aufsuchen lässt, beschäftigt schon den Studenten in seinem Tagebuch von 1906. Am ersten Januar notiert er:
    "Den Sylvesterabend auf dem Maskenball der 'Philharmonie' verbracht. Trotzdem an Stimmung und an begehrenswerten Frauen kein Mangel war, hab’ ich mich gelangweilt. Infolge jenes peinlichen, lächerlichen, kindischen Verlegenheitsgefühls, das mich so häufig gänzlich unmotiviert überfällt und das unüberwindlich scheint. Verärgert und gequält von erwachter unbefriedigter Sinnlichkeit verließ ich das Fest um 3 Uhr und ging langsam nach Hause, von dem interessanten, für Berlin typischen Sylvestertrubel angewidert. Merkwürdig jene Streichholzverkäuferin, die inmitten des Gewühls der Friedrichstraße auf den Steinstufen eines Hauses gänzlich unbeachtet in der schneidenden Kälte der Winternacht eingeschlummert lag. Dann mit einem Dirnlein gegangen, das ich von früherher kannte. Gleichwohl durch sinnliche Erregung im Schlaf gestört."
    Dieser allererste Eintrag zeichnet ein anschauliches Bild des 22-Jährigen, der in Berlin sein Studium der Geschichte, Philosophie und Literatur mit einer Doktorarbeit über Heinrich Heines Romanfragment "Der Rabbi von Bacharach" abschließt. Gebildet und selbstsicher im ästhetischen Urteil, ist er in Gesellschaft äußerst gehemmt. An dieser Schüchternheit leidet er ebenso wie an seiner unbefriedigten Sinnlichkeit. Das Tagebuch wirkt da oft wie eine Beichte, etwa wenn er sein häufiges Onanieren gesteht, das er allerdings elegant umschreibt:
    "17. Jan. Exceß in Priapo! Schmachvoll! […]
    7. Nov. Exceß in Priapo. – Auch im Bad. Scheußlich, wie der Bock in mir immer wieder zum Durchbruch kommt."
    Der Student Lion Feuchtwanger ist ein Ausbund an Minderwertigkeitskomplexen – und zugleich schon fest davon überzeugt, dass er zum Schreiben bestimmt ist:
    "11. Januar …. Merkwürdig, daß ich die unschönen Züge so vieler Dichter in mir vereine: die knabenhafte Verlegenheit Grillparzers, die Koketterie und Zerrissenheit Heines, die Eitelkeit Schlegels, die lioness und Haltlosigkeit Wildes, die Selbstzerfaserung Hebbels mit einem Stich ins Affektierte, die Prunksucht Hamerlings. Ob unter all diesem Wust ein poetischer Kern sich birgt?"
    In seiner Heimatstadt München, wohin Feuchtwanger im Februar 1906 zurückkehrt, pflegt er zwar mehr menschlichen Umgang, erfolgreichen auch mit Frauen, dennoch fühlt er sich im Leben noch nicht wirklich angekommen. Gerne würde er ein zeitgenössisches Stück schreiben, hat er in Berlin am 24. Januar notiert, aber ihm fehle das Erlebnis. Im Sommer darauf setzt er seine Sehnsucht in Philosophie um:
    "16. Juni … Meine Weltanschauung: Sicher ist, daß der lebendige Mensch mehr Intensität des Gefühls besitzt als die übrige Materie. Zweck des menschlichen Lebens ist es, diese Intensität nach Kräften zu verstärken. Mein Ziel also sehe ich darin, ein möglichst intensives Leben zu führen – Intensität des Lebens ist nicht zu verwechseln mit Genuß. Der negative Pol dieser Intensität ist der Tod, der positive die Liebe."
    Die jüdische Identität
    Das Tagebuch des Jahres 1906 verrät am meisten über den Menschen Lion Feuchtwanger, hier bringt er sich mit all seinen Hoffnungen, Ängsten und Zweifeln ein. Er hadert zum Beispiel auch mit seiner jüdischen Identität. Die Eltern leben orthodox, der Sohn distanziert sich zwar von dieser Lebensweise, begeht aber mit der Familie die hohen jüdischen Feiertage. Erschreckend ist, dass er anscheinend einige antisemitische Vorurteile übernommen hat. So vergleicht er auf einer Radtour die Verhaltensweisen von sich und seinen Brüdern mit denen der nichtjüdischen Bekannten:
    "13. August… Bei Hepner wirkt das Menschliche natürlich, bei uns komisch. Wohl deshalb, weil wir uns im allgemeinen sehr mies geben, als ob uns alles Menschliche fremd sei. Auch steht beim Juden äußerste Schamlosigkeit mit gänzlich unmotiviertem Genant-Sein in merkwürdigstem Gegensatz.
    16. Aug. Den 4. Akt von 'Ich!' begonnen. Nachmittags kam Besuch: Bekannte von Franziska (Christen). Merkwürdig, wie natürlich und harmonisch diese Leute sich geben. Bei uns ist alles so berechnet, affektiert und unharmonisch."
    Dass die mangelnde Selbstverständlichkeit im Verhalten mit dem Dasein des Außenseiters zu tun haben könnte, kam dem 22-jährigen Feuchtwanger noch nicht in den Sinn.
    Die erhaltenen Tagebücher sind lückenhaft: Nach 1906 setzen sie erst am 7. Juli 1909 wieder ein - an Feuchtwangers 25. Geburtstag. Die nächsten zwei Jahre sind gekennzeichnet durch Geldnot, die noch von seiner Spielsucht verschärft wird. Lion Feuchtwanger notiert penibel seine Schulden, die Ablehnungen seiner angebotenen Texte, die Veröffentlichungen. Publizieren kann er vor allem Theaterkritiken und theatertheoretische Essays. Daneben versucht er sich an Dramen und einem ersten Roman. Überraschenderweise finden sich auch einige Gedichte im Tagebuch. Etwa am 17. November 1909:
    "Er plante hundert überkühne Pläne. Geflügelte, den Himmel stürmende
    Zu nieder schien der Himmel, eng die Welt,
    Die er mit Hoffnungsranken dicht umlaubte:
    Sie lächelte und schwieg und glaubte."
    Wie diese erste Strophe verrät, sucht Lion Feuchtwanger noch immer einen Platz im Leben. Sein Vater regt ihn an, sich zu habilitieren. Aber für Juden gibt es keine Möglichkeit der akademischen Laufbahn, es sei denn, sie konvertieren. Auch deswegen wird er die Habilitation abbrechen.
    Das intensive Leben
    Im Januar 1910 lernt Feuchtwanger seine zukünftige Ehefrau kennen.
    "19. Jan. Anfänge der französischen Theaterjournalistik begonnen. Abends lang vorbereitete größere Gesellschaft bei uns in der Galeriestr. Mich gut amüsiert. Mit Hartmann und einem Fräulein Marta Löffler, einer nicht eben gescheiten, aber recht temperamentvollen jungen Jüdin. Sie hernach ins Café geschleppt und schließlich tüchtig abgeküßt."

    Mit Marta Löffler bricht das intensive Leben in Feuchtwangers Dasein ein. Da aus dieser Zeit kein Tagebuch erhalten ist, erfährt man davon nur in einem einleitenden Kommentar. Als Marta schwanger wird, heiraten die beiden im Frühjahr 1912 – gegen den Willen seiner Eltern. Auf der Hochzeitreise wird das Kind geboren, stirbt aber nach einigen Wochen. Marta und Lion Feuchtwanger bleiben im Ausland, sie reisen nach Süditalien und landen 1914 in Tunis, wo sie vom Ausbruch des 1. Weltkriegs überrascht werden."
    In den Tagebüchern von 1915 bis 1921 zeigt sich ein veränderter Feuchtwanger. Er arbeitet hart, setzt seine Kontakte in der Theaterszene gezielt ein und wird als Dramatiker erfolgreich. Das Jahr 1917 beginnt er wieder mit einer Inventur:
    "1. Janur: Allgemeine Lage, abgesehen von der ständigen Gefahr der Einberufung und den sonstigen Mißlichkeiten des Kriegs, recht befriedigend. Ich bin an 10 Bühnen etwa 75mal gespielt worden, und 20 Premièren liegen vor mir. Finanzen: Wir haben etwa 500 M Schulden, aber mit 6000 M Konto und zumindest 4–5000 M Einnahmen zu rechnen. Literarische Pläne: Vor allem »Jud Süß« und ein modernes indisches Stück, das die Fabel des Hastings mit Unterstreichung der Idee Buddha–Nietzsche in unsere Tage verlegen soll. Bearbeitungen: Aristophanes 'Der Frieden' und 'Die Acharner' zusammenschmelzen."
    Über Feuchtwangers Einstellung zum Krieg erfährt man in den Tagebüchern wenig. Nur, dass er vor den Musterungsterminen Hungerkuren macht, um nicht eingezogen zu werden. Dass er jedoch in seinen Bearbeitungen antiker Dramen die pazifistische Tendenz hervorhebt und aus den indischen Stoffen eine Philosophie entwickelt, in denen er die asiatische Lebenshaltung gegen das kriegerische Tatmenschentum des Westens setzt, verrät das Tagebuch nicht. Der Anmerkungsapparat hilft da auch nicht weiter, weil er zwar Sachbegriffe erläutert und ein kommentiertes Personenregister enthält, die Werke aber bloß alphabetisch auflistet. Nur einleitende Kommentare klären die Leser über die biographischen Umstände und, wenn auch marginal, über Feuchtwangers Schaffen auf.
    Konkreter lässt sich die Geschichte seiner Ehe nachvollziehen. Marta ist die erste Kritikerin seiner Texte, die ihr Lion stets vorliest. Sie organisiert seinen Alltag, richtet die Wohnungen und Häuser ein, bewirtet die Gäste. Meistens erträgt sie mit Toleranz die Vielweiberei ihres Mannes. Manchmal reicht es ihr – Feuchtwanger nennt das "strindbergeln":
    "26. Dez. Bei Heinrich Mann. Elchingers. Marta strindbergelt außerordentlich. Wirft mir vor, sie arbeite und rackere sich ab für mich, ich behandelte sie wie ein Aschputtel und sie werde mich vor aller Welt lächerlich machen, indem sie das herumerzähle."
    Martas Launen werden von Feuchtwanger ebenso penibel dokumentiert wie die intimen Beziehungen mit ihr und den anderen Frauen. Als Erotomane verzeichnet er dies fast täglich, die Herausgeber kürzten die sich endlos wiederholenden Stellen radikal, wie die editorische Notiz verrät:
    "Von rund 750 erwähnten 'gevögelt' finden rund 100 Aufnahmen, von rund 650 'gehurt' 40."
    Im Exil
    Aus den Jahren 1922 bis 1930 sind keine Tagebücher erhalten. Interessant werden die Einträge ab Herbst 1932, als Feuchtwanger zu einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten aufbricht:
    "Los Angeles, 11. Jan. 1933 […] Die nette und lebendige Kommunistin Löwenstein da. Erzählt mir zwei Stunden über die Verhältnisse in der Stadt. Dann Lunch mit Chaplin und Mr. Moos von der Universal. Chaplin ist hingerissen von meinen Ideen über einen Hitlerfilm. Abends lange Autofahrt nach Pasadena zu Einstein. Ganz nett. Einstein redet ziemlich wenig und selbstgefällig. Er ist furchtbar saturiert. Es dauert ziemlich lange. Ich streite scherzhaft mit seiner Frau über unser Englisch."
    Noch in den USA erfährt Lion Feuchtwanger von der Machtergreifung in Deutschland.
    "New York, 30. Jan. Ziemlich früh aufgestanden. Um 10 Uhr kommt der deutsche Legationsrat Lehmann, und teilt mir mit, daß Hitler Reichskanzler sei. … Besonders merkwürdige Ironie, daß der deutsche Botschafter mir an dem Tag einen Lunch gibt, an dem Hitler Kanzler wird. – The lights are against me."
    Am 1. März 1933 kehrt Feuchtwanger nach Europa zurück, aber Deutschland wird er nie wieder betreten. Das Ehepaar lässt sich in Südfrankreich nieder. Am 24. Mai findet sich das einzige Mal die Erwähnung eines Traums im Tagebuch.
    "Schlecht geträumt. Von einem SA-Mann, der mich holen kommt, er hat ein ganz verwischtes Gesicht und eine blaugraue Uniform wie die Österreicher. Er ist sehr höflich, hantiert aber immerfort mit dem Revolver. Auch Heinrich Hepner war da, der längst tot ist. Er hat versprochen, mich gegen die SA zu schützen, entwischt aber sogleich aus dem Zimmer, wie sie kommen. […]"
    Enttäuschend sind die Aufzeichnungen während der umstrittenen Moskau-Reise. Lion Feuchtwanger lässt sich von der sowjetischen Führung hofieren und besucht den Schauprozess gegen Karl Radek. Anschließend schreibt er einen positiven Bericht über seinen Aufenthalt, was ihm in Emigrantenkreisen starke Kritik einträgt. Ob der Autor sich von der Sowjetunion einen wirksamen Widerstand gegen den Faschismus erhofft oder ob er durch die Anerkennung korrumpierbar ist – im Tagebuch erfährt man es nicht.
    "Mittwoch, 2. Dez. 1936 In der Frühe kommt die Sekretärin Schejnina, erweist sich als anstellig. Besseres Zimmer gekriegt. Spaziergang im Burgpark. Maria da, der Präsident der Sowjetschriftsteller, Bredel. In den Zeitungen viele Hymnen. Viel Ehre und wenig Komfort. […]
    Sosny, 8. Jan. 1937 Furchtbar schlecht geschlafen infolge Erkältung. Morgens ruft man an, ich soll mittags zu Stalin. Außerordentlich unangenehmer Tag dafür, da ich ein Abführmittel genommen, nicht geschlafen habe und erkältet bin. Tal, Maria und Annenkowa holen mich ab. Ich spreche drei Stunden mit Stalin, erst gewundenes Zeug über die Freiheit des Schriftstellers, schwierig auch durch Übersetzung, dann über den Stalinkult, dann über 'Demokratie', dann über den Prozeß. Dann fahre ich sehr erschöpft zurück. Mit Eva zu Abend gegessen."
    Im Zweiten Weltkrieg
    Erst ab 1938 verlieren die Notate an Gelassenheit. Die Nachrichten von der Pogromnacht am 9. November und die Tatsache, dass zwei seiner Brüder ins Konzentrationslager verschleppt wurden, erschüttern Lion Feuchtwanger. Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, wird er wie alle deutschen Staatsangehörigen in Frankreich als Feind verdächtigt und interniert.
    "16. Sept. Furchtbar schlecht geschlafen. Auf Polizei gerufen. Zusammen mit den anderen Deutschen, die noch hier sind. Ich muß morgen ins Konzentrationslager. Inschrift in dem Polizeilokal: Bien venue tous. Eva da, Sybille, alle sehr nett.
    La Rode, 18. Sept. Erweist sich als ungeheures Pech. Ganz schlechte Nacht gehabt. In der Frühe gibt der Arzt den Rat, sich an den General zu wenden. Ich darf Eva und Lola nicht sehen. Schauerliche Situation. Es scheint lange zu dauern, vielleicht ein Dauerzustand zu werden."
    Am 22. September werden die Gefangenen nach Les Milles verlegt. Unerwarteterweise kommt Feuchtwanger aber schon nach fünf Tagen wieder frei.
    Am 20. Mai 1940 endet das letzte erhaltene Tagebuch von Lion Feuchtwanger mit der dürren Mitteilung, dass er wieder in Les Milles inhaftiert werden wird. Die Notizen von dieser Lagerhaft, die am 21. Juli mit seiner glücklichen Flucht endet, liegen seinem beklemmenden Erlebnisbericht "Der Teufel in Frankreich" zugrunde.
    In den Romanen von Lion Feuchtwanger ist immer auch viel Persönliches enthalten, darauf weist Klaus Modick in seinem aufschlussreichen Vorwort hin. Die Tagebücher zeigen nur einen kleinen Ausschnitt aus seinem Alltag. Gerade dadurch machen sie neugierig auf das Werk. Für die Forschung wäre es allerdings wichtig, die ungekürzten Tagebücher digital zugänglich zu machen!
    Lion Feuchtwanger: "Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher"
    Herausgegeben von Nele Holdack, Marje Schuetze-Coburn und Michaela Ullmann unter Mitarbeit von Anne Hartmann und Klaus-Peter Möller
    Mit einem Vorwort von Klaus Modick.
    Aufbau Verlag, 640 Seiten, 26 Euro