Eine Handvoll junger Menschen veranstaltet ein Spiel auf dem Gehweg: "Russisches Roulette" nennen sie es. Die Passanten in der weißrussischen Hauptstadt sollen sich eine Spielzeugpistole an den Kopf halten. Jeden sechsten trifft ein kleiner Plastikbolzen.
Eine brachiale Methode, um die Bewohner von Minsk aufzurütteln. Brachial, aber berechtigt, meint Irina Suchij von der Umweltschutzorganisation "Ekodom". Die Menschen müssten spüren, wie gefährlich das Atomkraftwerk sei, das gerade im Westen des Landes entstehe.
Weißrussische Aktivisten misstrauen dem AKW-Bau
"Mindestens zehn Menschen sind bei den Bauarbeiten bisher gestorben. Das heißt doch: Dort wurden elementare Sicherheitsvorschriften nicht beachtet. Und man fragt sich: Was wurde noch alles missachtet? Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Bauqualität sehr zu wünschen übrig lässt. Deshalb misstraue ich diesem Projekt."
Irina Suchij und die anderen Mitglieder von "Ekodom" dürfen nur selten in der Öffentlichkeit demonstrieren. Das letzte Mal tauchten sie mit ihrer Aktion "Russisches Roulette" vor der Parlamentswahl auf, das war vor knapp zwei Wochen. Ein Kandidat hatte im Wahlkampf die Aktion der Umweltschützer unterstützt.
Die weißrussische Regierung aber wolle so wenig Öffentlichkeit wie möglich, sagt Irina Suchij:
"Es gab kein echtes Anhörungsverfahren, bevor die Entscheidung zum Bau gefallen ist. Trotzdem haben wir in Erfahrung bringen können, dass mit dem Bau schon begonnen wurde, als es noch kein fertiges Bauprojekt gab. Durchgesickert ist auch, dass das Gehäuse eines Reaktors bei der Montage schwer beschädigt wurde."
Die Leitung des Atomkraftwerks hat das inzwischen bestätigt. Sie räumte auch ein, dass auch ein Ersatz-Gehäuse beim Transport aus Russland einen Unfall hatte. Es streifte an einem Strommasten. Die daraus resultierende Beschädigung sei jedoch, "unbedeutend", so sagte der Direktor des Kraftwerks gegenüber Journalisten.
Litauen wird vom AKW kein Strom beziehen
Innerhalb der EU protestiert Litauen am lautesten gegen das Atomkraftwerk russischer Bauart in Weißrussland. Denn es liegt nur 45 Kilometer von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt. Präsident Gitanas Nauseda sagte kurz vor seiner Amtseinführung im Juli:
"Wir fühlen uns bedroht. Weißrussland hat mit uns beim Bau nicht ausreichend zusammengearbeitet. Unser Parlament hat deshalb beschlossen, dass wir auf keinen Fall Strom aus diesem Kraftwerk kaufen werden."
Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko tut persönlich einiges dafür, um das Misstrauen der Litauer noch zu steigern. Er warnte vor Militärübungen der NATO in Litauen - mit Verweis auf das Atomkraftwerk:
"Die Litauer sollten begreifen: Wenn in diesem Atomkraftwerk ein Unfall passiert, dann werden nicht nur wir, sondern auch sie darunter leiden. Ein zweites Tschernobyl würde Europa nicht überleben."
Wie Lukaschenko das genau meinte, blieb unklar. Aber offenbar hat das Atomkraftwerk für die weißrussische Führung auch eine militärische Bedeutung.
"Für Präsident Lukaschenko eine Frage der Ehre"
Neben Litauen hat auch Polen bereits erklärt, dass es keinen Strom aus dem Kraftwerk beziehen werde. Ein Rückschlag für die weißrussische Regierung, deren Kalkulation für den Export von Strom damit ins Rutschen kommt. Stoppen werde dies das Kraftwerk jedoch nicht, so der weißrussische Politologe Walerij Karbalewitsch:
"Das ist für Präsident Lukaschenko eine Frage der Ehre. Er sagt: Unter mir ist Weißrussland zu einem Staat mit Atomenergie geworden. Das Kraftwerk wird schon aus rein politischen Gründen ans Netz gehen."
Zur Finanzierung des Projekts hat Weißrussland in Russland einen Kredit aufgenommen, von umgerechnet rund neun Milliarden Euro - fast die gesamte Bausumme. Um die Raten begleichen zu können, wird die Regierung in Minsk weiter im Ausland nach Abnehmern für den Strom suchen. Interesse zeigt bisher nur Lettland. Eine direkte Stromtrasse von Weißrussland nach Lettland gibt es allerdings noch nicht.