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Literarische Selbstanzeige in Buchform

Enorm wird die offiziell ungenannte Summe sein, die der französische Staat nun für 1800 Manuskriptseiten bezahlt hat, auf denen Giacomo Casanova bis zu seinem Tod 1798 die "Histoire de ma vie" aufgeschrieben hat. Ein Zeichen dafür, dass der gebürtige Italiener in Frankreich seine geistige Heimat hatte.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Soviel ist sicher: Der Mann ging seinen Zeitgenossen furchtbar auf die Nerven. Wo immer Casanova hinkam, und er reiste viel und weit, von Venedig bis Warschau und von Paris bis Wien, da lief sein Auftritt nach dem selben Muster ab. Erst machte er Bekanntschaften und wickelte de Leute mit Charme und guten Manieren um den Finger, dann gab es plötzlich Ärger und die Polizei verhaftete ihn, oft aus dürftigen Anlässen, aber letztlich – und das stritt er in seinen Memoiren nicht mal ab – mit guten Gründen. Mal ging es um Geld, mal um politische Äußerungen – und richtig: Sexualität war meistens auch im Spiel, aber die stellte im 18. Jahrhundert kein großes Moralproblem dar. Sonst hätte er nicht den Liebhaber einer liebreizenden Nonne, mit der er selber auch mal wollte, als Freund gewonnen. Das war noch auf der zu seiner Geburtsstadt Venedig gehörenden Insel Murano, und besagter Liebhaber war kein Geringerer als der französische Gesandte. Dieser dann, zum Minister aufgestiegene Gesandte, machte Casanova später, als sie nach dessen Flucht aus dem mit Bleiplatten gedeckten venezianischen Gefängnis einander in Paris wiedertrafen, einen folgenreichen Vorschlag: Casanova solle doch seine wüste Geschichte aufschreiben, drucken lassen und das Buch – gleichsam als Visitenkarte – an Madame Pompadour zu schicken.

    Casanova befolgte den Rat, und das Werk verschaffte seinem Autor eine für damalige Verhältnisse enorme Prominenz – und zwar nicht nur bei Hofe. Er schrieb es auf Französisch, in einer Sprache, die er erst mit 18, 19 Jahren auf Geheiß eines fürsorglichen Kardinals gelernt hatte, einer Sprache, die – wie er schon damals staunend feststellte – als einzige europäische Kultursprache durch die Anstrengungen einer Académie von fremden Einflüssen weitgehend frei gehalten wurde. Auch solche Bemerkungen machen den Wert seiner Memoiren aus. Die allerdings verfasste er ein paar Jahrzehnte später, unter miserablen Lebensumständen, und selbstverständlich auch auf Französisch.

    Denn Frankreich als das eigentliche Reich des 18. Jahrhunderts war seine geistige Heimat. In diesem 18. Jahrhundert war alles sehr durchlässig. Deswegen nannte man es das Jahrhundert der Vernunft, denn Vernunft ist durchlässiger als Überzeugung, und was Casanova am allerwenigsten besaß, das waren Überzeugungen und feste Ansichten. Ihm war eine gigantische Oberflächlichkeit eigen, mit der er immer auf seinen Vorteil und auf seine Lust bedacht war. Voltaire, den er auch einmal besuchte, empfand ihn deswegen als Schwachkopf, und wahrscheinlich traf das einfach zu. Aber zugleich ermöglichte ihm seine Naivität eben auch diesen völlig unbefangenen Blick auf die Menschen, ihre Sitten und sich selbst, weswegen Casanovas Memoiren überhaupt Weltliteratur werden konnten.

    Dass die Originalhandschrift des Werks sozusagen wesensbedingt nach Frankreich gehört, steht außer Frage. Natürlich wäre es stimmig gewesen, wenn der durchtriebene Ehebrecher im Präsidentenamt François Mitterrand die Manuskriptblätter im Namen und auf Rechnung der Nation gekauft hätte. Er war ja auch selbst ein ausgewiesener Literat. Aber nun tat es sein gleichnamiger Neffe, der gerade einen eigenen Sexskandal zu überstehen hatte, und auch dies aufgrund literarischer Selbstanzeige in Buchform.