Der Fall der Mauer ist mittlerweile schon über 17 Jahre her, doch die so genannte Wendeliteratur, die ganze Bibliotheken füllen könnte, ist für die Literaturwissenschaft noch immer ein weitgehend unerforschtes Feld. Zwar gibt es einzelne Publikationen mit Titeln wie "Literatur und Wende" oder "Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit", doch einen Versuch, die Ereignisse vom Mauerfall bis zur deutsch-deutschen Vereinigung als allumfassenden zeitgeschichtlichen Prozess zu beschrieben, der in der Literatur reflektiert und gedeutet wird, gab es bislang nicht.
Vielleicht liegt das daran, dass sich die Literaturwissenschaft in der Regel vor Texten scheut, die nicht bereits gut abgehangen sind, vermutet die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Elke Brüns, die nun mit ihrem Buch "Nach dem Mauerfall - eine Literaturgeschichte der Entgrenzung" genau diese Lücke füllen will. Darin geht sie nicht von einer feststehenden historischen Wahrheit aus, sondern stellt sich die Frage, wie durch Literatur Geschichte geschrieben wird.
"Insofern erzähle ich auch Zeitgeschichte, weil die durch die Literatur mitgeprägt wird und später sozusagen die Geschichte sein wird. Das heißt, ich gehe nicht davon aus, dass es eine schon geschriebene Geschichte gibt, auf die ich mich beziehen kann. Das macht auch eine Schwierigkeit beim Schreiben aus, wenn man sozusagen mit Deutungsmustern operiert und sich nicht auf einen festen historischen Grund stellen kann und sagen: So war das. Das ist bombensicher so. Und jetzt gucke ich einfach mal, was die Literatur damit gemacht hat."
Elke Brüns betrachtet diese Literatur - sie selbst spricht nicht von Wendeliteratur, sondern von einer Literatur des Umbruchs - nicht als homogenen Block. Um die Texte in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt zu erfassen, unterteilt sie den historischen Ablauf, auf den sie sich beziehen, in drei zentrale Momente: den Mauerfall, die Währungsunion und die deutsch-deutsche Vereinigung. Diesen Ereignisse ordnet sie Begriffe, Symbole, Konfliktfelder wie "Revolution", "Ökonomie" und "Nation" zu und beschreibt anhand von literarischen Deutungen in Romanen und Erzählungen, selten in Gedichten, die rasanten Veränderungen dieses knappen Wendejahres 1989/90.
"Was sagt denn die Literatur? Hat denn eine Revolution stattgefunden oder nicht? Also wir kennen alle den historischen Moment, Schabowski und seinen Zettel im Fernsehen, und dann auf einmal ist die Mauer auf, und man weiß gar nicht, was hat da eigentlich genau stattgefunden? Und nun gibt es Texte, der berühmteste ist sicher der von Brussig "Helden wie wir", die sich genau mit diesem Moment auseinandersetzen und darstellen, wie es zu diesem Mauerfall gekommen ist. Und das sind ja Deutungen. Gibt es überhaupt ein historisches Subjekt? Hat sich die Bevölkerung der DDR denn wirklich sozusagen erhoben und damit selbst definiert. Oder ist einfach aufgrund ökonomischer Umstände dieser Staat implodiert? Oder hat man es einfach mit einem allgemeinen Zusammenbruch zu tun, der im Rahmen des Zusammenbruchs des Ostblocks stattgefunden hat?"
Mit einer großen Lust am Gegenstand ihrer Betrachtung widmet sich Elke Brüns diesen Fragen. Die diskutierten Texte kreisen allesamt um die erwähnten Ereignisse und Themenkomplexe. Vom "anschwellenden Bocksgesang" des nationalkonservativ beduselten Botho Strauß bis zur Walser-Rede in der Frankfurter Paulskirche, vom "geteilten Himmel" der zu DDR-Zeiten hoch verehrten und nach der Wende arg gerügten Christa Wolf bis zum "geheilten Pimmel" des ersten und bislang wohl einzigen Wendeliteraten Thomas Brussig - keine Wortmeldung, an die man sich, manchmal auch nur dunkel und ungern, erinnert, fehlt in Elke Brüns' sinnvoll strukturierter Literaturgeschichte, die das Schlüsselwort bereits im Titel trägt.
"Entgrenzung! Natürlich ganz offensichtlich: Die Mauer ist gefallen. Das ist eine Entgrenzung gewesen. Aber ich verstehe das eben nicht nur als eine geopolitische Entgrenzung, sondern auch als eine kulturelle Entgrenzung und damit als einen krisenhaften Moment in der Geschichte Deutschlands. Und entlang dieser Frage nach dem Entgrenzenden habe ich das Buch geschrieben."
Mit Hilfe der Theorie des französischen Literatur- und Religionswissenschaftlers René Girard, der in seinem Buch "Das Heilige und die Gewalt" darauf hinweist, dass eine Gesellschaft, die ihre Form verliert, an ihre ursprüngliche Gründungsgewalt appelliert und diese wieder zu aktualisieren versucht, zeigt Elke Brüns, dass der Literatur, die sich mit der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung beschäftigt, durchaus ein befriedendes Element innewohnt. Sie schafft eine fiktive, Sinn stiftende Realität und damit eine konstituierende Ordnung. Absurderweise entschärft sie Konflikte, indem sie sie benennt.
"Das ist ja auch eine Lieblingsidee der Literaturwissenschaftler, dass immer alles überschritten wird und Konfliktfelder benannt werden und so weiter. Und man fragt aber nie danach, ob das eigentlich für jede historische Situation gilt. Und ich habe versucht, in der Arbeit zu zeigen, dass das für einen Moment, in dem die ganze Gesellschaft aufgelöst ist, dass Literatur da einfach etwas anderes macht und dass sie auch gut daran tut, dies zu tun. Das geheime Gegenbild zur Literatur ist in meinem Buch die drohende Gewalt, denn wenn etwas nicht symbolisch dargestellt wird, nicht symbolisiert wird, keine feste Form hat, dann, glaube ich, kommt es zur Gewalt, und das richtet sich natürlich gern gegen die Anderen. Das konnte man nach 1990 ja auch schön beobachten: Gewalt gegen Ausländer, in den spektakulärsten Formen natürlich in Ostdeutschland."
In ihrem Buch "Nach dem Mauerfall - eine Literaturgeschichte der Entgrenzung" argumentiert Elke Brüns plausibel und analysiert auf erhellende und originelle Weise eine Literatur, die nicht gerade Meisterwerke hervorgebracht hat, doch eine Zeit lebendig werden lässt, die bis in die Gegenwart reicht. Schade nur, dass das Buch 2003 bei der harmlosen Erinnerungsprosa von Kerstin Hensel und Jakob Hein endet und nicht mehr so spannende Ansätze wie die von Clemens Meyer oder Jörg-Uwe Albig reflektiert. Doch irgendwo muss sich selbst eine Literaturgeschichte der Entgrenzung Grenzen setzen.
Elke Brüns: Nach dem Mauerfall - eine Literaturgeschichte der Entgrenzung
Wilhelm Fink Verlag
315 Seiten, 39,90 Euro
Vielleicht liegt das daran, dass sich die Literaturwissenschaft in der Regel vor Texten scheut, die nicht bereits gut abgehangen sind, vermutet die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Elke Brüns, die nun mit ihrem Buch "Nach dem Mauerfall - eine Literaturgeschichte der Entgrenzung" genau diese Lücke füllen will. Darin geht sie nicht von einer feststehenden historischen Wahrheit aus, sondern stellt sich die Frage, wie durch Literatur Geschichte geschrieben wird.
"Insofern erzähle ich auch Zeitgeschichte, weil die durch die Literatur mitgeprägt wird und später sozusagen die Geschichte sein wird. Das heißt, ich gehe nicht davon aus, dass es eine schon geschriebene Geschichte gibt, auf die ich mich beziehen kann. Das macht auch eine Schwierigkeit beim Schreiben aus, wenn man sozusagen mit Deutungsmustern operiert und sich nicht auf einen festen historischen Grund stellen kann und sagen: So war das. Das ist bombensicher so. Und jetzt gucke ich einfach mal, was die Literatur damit gemacht hat."
Elke Brüns betrachtet diese Literatur - sie selbst spricht nicht von Wendeliteratur, sondern von einer Literatur des Umbruchs - nicht als homogenen Block. Um die Texte in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt zu erfassen, unterteilt sie den historischen Ablauf, auf den sie sich beziehen, in drei zentrale Momente: den Mauerfall, die Währungsunion und die deutsch-deutsche Vereinigung. Diesen Ereignisse ordnet sie Begriffe, Symbole, Konfliktfelder wie "Revolution", "Ökonomie" und "Nation" zu und beschreibt anhand von literarischen Deutungen in Romanen und Erzählungen, selten in Gedichten, die rasanten Veränderungen dieses knappen Wendejahres 1989/90.
"Was sagt denn die Literatur? Hat denn eine Revolution stattgefunden oder nicht? Also wir kennen alle den historischen Moment, Schabowski und seinen Zettel im Fernsehen, und dann auf einmal ist die Mauer auf, und man weiß gar nicht, was hat da eigentlich genau stattgefunden? Und nun gibt es Texte, der berühmteste ist sicher der von Brussig "Helden wie wir", die sich genau mit diesem Moment auseinandersetzen und darstellen, wie es zu diesem Mauerfall gekommen ist. Und das sind ja Deutungen. Gibt es überhaupt ein historisches Subjekt? Hat sich die Bevölkerung der DDR denn wirklich sozusagen erhoben und damit selbst definiert. Oder ist einfach aufgrund ökonomischer Umstände dieser Staat implodiert? Oder hat man es einfach mit einem allgemeinen Zusammenbruch zu tun, der im Rahmen des Zusammenbruchs des Ostblocks stattgefunden hat?"
Mit einer großen Lust am Gegenstand ihrer Betrachtung widmet sich Elke Brüns diesen Fragen. Die diskutierten Texte kreisen allesamt um die erwähnten Ereignisse und Themenkomplexe. Vom "anschwellenden Bocksgesang" des nationalkonservativ beduselten Botho Strauß bis zur Walser-Rede in der Frankfurter Paulskirche, vom "geteilten Himmel" der zu DDR-Zeiten hoch verehrten und nach der Wende arg gerügten Christa Wolf bis zum "geheilten Pimmel" des ersten und bislang wohl einzigen Wendeliteraten Thomas Brussig - keine Wortmeldung, an die man sich, manchmal auch nur dunkel und ungern, erinnert, fehlt in Elke Brüns' sinnvoll strukturierter Literaturgeschichte, die das Schlüsselwort bereits im Titel trägt.
"Entgrenzung! Natürlich ganz offensichtlich: Die Mauer ist gefallen. Das ist eine Entgrenzung gewesen. Aber ich verstehe das eben nicht nur als eine geopolitische Entgrenzung, sondern auch als eine kulturelle Entgrenzung und damit als einen krisenhaften Moment in der Geschichte Deutschlands. Und entlang dieser Frage nach dem Entgrenzenden habe ich das Buch geschrieben."
Mit Hilfe der Theorie des französischen Literatur- und Religionswissenschaftlers René Girard, der in seinem Buch "Das Heilige und die Gewalt" darauf hinweist, dass eine Gesellschaft, die ihre Form verliert, an ihre ursprüngliche Gründungsgewalt appelliert und diese wieder zu aktualisieren versucht, zeigt Elke Brüns, dass der Literatur, die sich mit der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung beschäftigt, durchaus ein befriedendes Element innewohnt. Sie schafft eine fiktive, Sinn stiftende Realität und damit eine konstituierende Ordnung. Absurderweise entschärft sie Konflikte, indem sie sie benennt.
"Das ist ja auch eine Lieblingsidee der Literaturwissenschaftler, dass immer alles überschritten wird und Konfliktfelder benannt werden und so weiter. Und man fragt aber nie danach, ob das eigentlich für jede historische Situation gilt. Und ich habe versucht, in der Arbeit zu zeigen, dass das für einen Moment, in dem die ganze Gesellschaft aufgelöst ist, dass Literatur da einfach etwas anderes macht und dass sie auch gut daran tut, dies zu tun. Das geheime Gegenbild zur Literatur ist in meinem Buch die drohende Gewalt, denn wenn etwas nicht symbolisch dargestellt wird, nicht symbolisiert wird, keine feste Form hat, dann, glaube ich, kommt es zur Gewalt, und das richtet sich natürlich gern gegen die Anderen. Das konnte man nach 1990 ja auch schön beobachten: Gewalt gegen Ausländer, in den spektakulärsten Formen natürlich in Ostdeutschland."
In ihrem Buch "Nach dem Mauerfall - eine Literaturgeschichte der Entgrenzung" argumentiert Elke Brüns plausibel und analysiert auf erhellende und originelle Weise eine Literatur, die nicht gerade Meisterwerke hervorgebracht hat, doch eine Zeit lebendig werden lässt, die bis in die Gegenwart reicht. Schade nur, dass das Buch 2003 bei der harmlosen Erinnerungsprosa von Kerstin Hensel und Jakob Hein endet und nicht mehr so spannende Ansätze wie die von Clemens Meyer oder Jörg-Uwe Albig reflektiert. Doch irgendwo muss sich selbst eine Literaturgeschichte der Entgrenzung Grenzen setzen.
Elke Brüns: Nach dem Mauerfall - eine Literaturgeschichte der Entgrenzung
Wilhelm Fink Verlag
315 Seiten, 39,90 Euro