Denis Scheck: Was hat Sie veranlasst, immer zu behaupten, "Hundejahre" ist mein großer Roman, gar nicht die "Blechtrommel", nicht der "Butt", sondern das wichtigste Buch, das Sie geschrieben haben, sind die "Hundejahre".
Günter Grass: Na, ich habe das – aber Hundejahre betrifft auch die ersten drei Bücher, diese sogenannte "Danziger Trilogie", und da standen die "Hundejahre" immer im Schatten der "Blechtrommel". Für mich war das Abenteuer Schreiben, was die "Hundejahre" betrifft, das größere. All die Jahre hindurch bin ich eigentlich immer nachträglich mit "Hundejahre" beschäftigt, hab auch immer den Gedanken gehabt, es eines Tages mal mit Grafik, damit umzugehen – und erst fünfzig Jahre danach, nach Erscheinen, ergab sich bei mir, wie immer nach einer längeren Prosapassage, in dem Fall waren es andere Bücher, die ich abgeschlossen hatte. Und da habe ich überlegt, in welcher Technik, und habe meine Hände vorgezeigt und gemerkt, dass sie noch nicht zittern, und habe mich deshalb für Radierung entschieden. Da muss man eine ruhige Hand haben. Und dann sind im Verlauf von anderthalb Jahren intensiver Arbeit an Kupferplatten 130 Radierungen entstanden, und es wurden immer mehr, weil das Buch sehr bildreich ist, mich also nach wie vor angesprochen hat.
Scheck: Eine der Hauptfiguren, Eddi Amsel, ist ein Künstler, spezialisiert auf Vogelscheuchen, und er lässt die gesamte sich formierende Bundesrepublik im Grunde als Scheuchenrepublik auferstehen. Was für ein Bild!
Grass: Ja, es ist ja ein langer Weg. Es fängt bei ihm als Junge an, und er lebt also mit seinem Freund, Matern, rechts und links der Weichselmündung in Dörfern, und er hat schon als Kind diesen Hang, etwas Bildnerisches zu machen und fängt mit Vogelscheuchen an. Und das ist sogar ein kleines, einträgliches Geschäft. Die Bauern kaufen diese Scheuchen.
Scheck: Und die kostümiert er in alle Uniformreste und Talare und Kleidungsstücke …
Grass: Was er findet und was die Weichsel anschwemmt, das verwertet er alles. Und im letzten Teil ist das sozusagen ganz und gar kommerzialisiert. Er hat ein leer stehendes Kalibergwerk als Scheuchenwerkstatt eingerichtet und produziert Scheuchen, die weltweit vertrieben werden, die jeweils auch auf die Anbaugebiete, welche Art von Weizen dort angebaut wird. Und da bildet sich natürlich ein Gesamtgesellschaftsbild, das sich in dieser Scheuchenproduktion spiegelt.
Scheck: Das ist ja ein grandioser, auch ein satirischer Roman. Was hat Sie zum Beispiel gegenüber Heideggers Philosophie so voll Bitternis erfüllt? Das ist ja Ihr Hauptziel, mit Spott und Hohn wird er übergossen.
Grass: Vielleicht liegt es daran, dass "Sein und Zeit" in meinem Geburtsjahr '27 erschienen ist und ich diese bombastische Sprache auf der einen Seite, gerade in Sein und Zeit kommt noch so ein bisschen Spätexpressionismus in die Sprache hinein. Und er folgt diesem Hang zur Substantivierung. Und dann hab ich entdeckt, bei der Arbeit an "Hundejahre", wie es also in der Endphase, '45, um den Kampf um Berlin geht, und des Führers Hund, um den handelt es sich ja, entlaufen ist und nun gesucht wird von deutscher Seite. Und das verlautbart sich in der Sprache des Oberkommandos der Wehrmacht und Heidegger-Sprache. In beiden Sprachgebieten gibt es diesen Hang zur Substantivierung, mit diesen bombastischen Wortbildungen. Und das verschränkt sich miteinander, und dieses ganze Schlussmärchen, so nenn ich es, das ist in der Sprache verfasst. Und eine andere Spiegelung ist eben während der Kriegszeit, weil ein Feldwebel einer Luftwaffenhelferbatterie von Heidegger begeistert ist und dauernd "Sein und Zeit" in Zitaten im Munde führt, wird das zu einer Schülersprache, von einem seiner Lieblingsanhänger, von einem Luftwaffenhelfer übernommen. Und zum Beispiel die Rattenjagd in der Flakbatterie ist gezeichnet von dieser Heidegger-Sprache.
Scheck: Überhaupt werden alle Arten von Kunstsprachen hier zitiert. Eddy Amsel schon als Schüler mit Walter Matern erfinden eine Rückwärtssprache, die natürlich wahrscheinlich auch heute noch auf Schulhöfen gesprochen wird, und der ganze dritte Roman ist ja eine Hommage an den Stil von Jean Paul.
Grass: Ja, ja, ja. Allein schon das Wort "Materniaden" hätte eine Jean-Paul'sche Erfindung sein können, ja. Also ein Autor, den ich sehr schätze. Es ist ein Jammer, dass dieser große Klassiker in Deutschland so unbekannt ist.
"Es bröckelt und schwindet"
Scheck: Sind Sie eigentlich ein Kulturpessimist, wenn Sie die Verlustrechnungen aufmachen, die Sie in Ihrem Leben erleben mussten, was Kenntnisse von Literatur angeht?
Grass: Na, ich bin ja nun einige Jahrzehnte in diesem Bereich tätig und sehe, wie es bröckelt und schwindet, an allen Ecken und Kanten. Ob Verlage verschwinden, Buchhandlungen verschwinden, die großen Ketten die die kleinen Buchhandlungen verdrängt haben, verkaufen jetzt auch ganz Etagen, in denen sie ihre Bücher gemacht haben, obgleich der Internetbuchhandel noch gar nicht da ist, ist man im Feuilleton schon bereit, die eigene Sache kleinzuschreiben und die Zukunft ganz dem Internet zu überlassen. Das ist natürlich alles abträglich. Ein Buch. Und mein Verleger Steidl ist verrückt genug, da gegenzusteuern und Bücher zu produzieren, die haltbar sind, und die man gern, das Haptische des Buches wird betont, nicht, und ein Ergebnis ist zum Beispiel diese späte, nachgeholte Ausgabe der "Hundejahre".
Scheck: Ist Günter Grass auf Facebook? Twittert Günter Grass? Schreiben Sie SMS.
Grass: Ich hab so was überhaupt nicht. In meiner Werkstatt gibt es außer meinem kleinen Küchenradio nur mein Eigengeräusch. Ich hab also weder Internet noch sonst irgendwas. Ich hab nicht mal ein Handy.
Scheck: Sind Sie wirklich im 21. Jahrhundert angekommen, oder sind Sie ein kleiner Robinson aus einer anderen Zeit?
Grass: Also, diese Dinge mögen in bestimmten Berufsbereichen ja eine Erleichterung bringen. Man kann auf Knopfdruck sich irgendeine Information holen. Aber das wird immer mit Wissen verwechselt. Wissen ist etwas, was erarbeitet wird. Also ich recherchiere lieber selbst. Das dauert länger, ich weiß es, ja, es gibt auch Irrwege, aber die möchte ich nicht aussparen. Die gehören dazu. Und der Schreibvorgang ist ein langsamer. Und dem entspricht meine erste Fassung, eine handschriftliche, und dem entspricht meine zweite und dritte Fassung, die ich mit meiner alten Olivetti, mit meinem Zweifingersystem tippe. Also ich brauche das nicht. Und ich möchte auch, was jetzt so ein Handy betrifft, ich möchte nicht überall erreichbar sein.
Scheck: Das hat den Vorteil, dass Sie, anders als Angela Merkel, nicht abgehört werden. Aber ich nehme an, Sie wurden?
Grass: Das ist ja nicht nur Angela Merkel, nicht, es ist also, ich mache auch meine Enkelkinder, die natürlich alle mit dem Zeugs umgehen, darauf aufmerksam, nicht, dass sie ihr Privatleben, ihre geheimsten Sachen, die zum Menschen gehören, preisgeben, dass das abgehört wird und gespeichert wird, nicht so schnell verschwindet. Die staunen dann immer ein bisschen, aber – ob das was hilft, weiß ich nicht. Jedenfalls mache ich es.
"Ein Skandal ohnegleichen"
Scheck: Günter Grass war viele Jahre lang ganz sicher Objekt der Aufmerksamkeit von Geheimdiensten. Was halten Sie von dieser NSA-Affäre, die wir jetzt da erleben?
Grass: Na, ich hab das nur, was den Staatssicherheitsdienst der DDR betrifft, da gibt es ja eine Veröffentlichung, "Vom Mauerbau bis zum Mauerfall", da bin ich Objekt gewesen unter dem Stichwort "Bolzen", auch eine hübsche Erfindung, aber das ist ja Kinderkram, was der Staatssicherheitsdienst gemacht hat, gemessen an dem, was die Vereinigten Staaten von Amerika, Gewährsmacht unserer demokratischen Freiheit, aufgebaut haben. Das ist ein Skandal ohnegleichen, der einfach hingenommen wird. Damit das europäisch-atlantische Bündnis nicht zerbröckelt. Ein lächerlicher Vorwand. Gerade, wenn man auf Demokratie setzt, muss man auch mit dem Freund kritisch umgehen. Man muss fordernd auftreten, und das geschieht nicht.
Scheck: Wir leben in Zeiten, wo die Große Koalition sich gerade bildet, geschmiedet wird. Gibt es irgendeine politische Hoffnung, die Sie damit verbinden?
Grass: Ich hoffe, dass die Mitglieder der SPD Nein sagen dazu.
Scheck: Warum?
Grass: Das verträgt unsere Demokratie nicht, eine solche Übermacht einer großen Koalition. Das gibt es in anderen Ländern auch, man sollte die CDU/CSU auffordern, eine Minderheitsregierung zu bilden. Wir haben ja erlebt, dass in wichtigen Fragen, Europapolitik, die Opposition, damals noch SPD und Grüne, mit der CDU gegen die FDP gestimmt haben in manchen Bereichen, also dass da ein Sicherheitsmoment drinnen ist, dass also die SPD oder auch die Grünen nicht darauf setzen werden, eine solche Minderheitsregierung auf jeden Fall zu Fall zu bringen.
Scheck: Jetzt haben Sie ja in den letzten Jahren viel Anstoß erregt, weil man Ihnen diese Rolle des moralischen Mahners, des unbequemen, die Finger in die Wunde legenden Intellektuellen übel nahm, mit der Begründung, der soll doch gefälligst mal vor seiner eigenen Haustür kehren.
Grass: Na ja, also ich hab das ja, bevor ich "Beim Häuten der Zwiebel" veröffentlichte, mich nicht als nachträglicher Widerstandskämpfer zu erkennen gegeben, sondern immer gesagt, dass ich auf idiotische Art und Weise bis zu meinem 17. Lebensjahr an den Endsieg geglaubt hab und Hitlerjunge gewesen bin. Und dass ich dann zur Waffen-SS eingezogen wurde, ist kein Verschulden meinerseits gewesen. Mir sind die Verbrechen der Waffen-SS erst hinterher bekannt geworden. Ich habe als 14-, 15-, 16-Jähriger die Waffen-SS als eine Eliteeinheit gesehen, die ungeheure Verluste hatte, weil sie immer an Brennpunkten eingesetzt wurde. Aber von den Verbrechen wusste ich nichts. Fand mich dann dennoch, obgleich ich mir keiner Schuld bewusst sein musste – es hat mich belastet. Ich habe das lange Jahre und Jahrzehnte mit mir getragen, bis ich so weit war, auch aufgrund meines Alters, autobiografisch zu schreiben.
Scheck: Da schreiben Sie zum Beispiel, wie Sie als amerikanischer Kriegsgefangener gezwungen wurden, Dachau sich anzusehen, und wie Sie damals mit Verleugnung reagierten und sagten, das kann nicht sein, das ist Propaganda.
Grass: So was können doch Deutsche nicht getan haben. Und irrsinnigerweise hat mich dann mein ehemaliger Reichsjugendführer, Baldur von Schirach …
Scheck: Im Radio!
Grass: … beim Nürnberger Prozess, der als Einziger von all den Leuten, die angeklagt waren, zugegeben hat, dass er von der geplanten Endlösung gewusst hat, dass er von Auschwitz gewusst hat. Er hat das getan, um seine Hitlerjugend freizusprechen. Das hat mich dann überzeugt, dass da was Wahres dran sein könnte.
"Eine Lobbyhörigkeit ohnegleichen"
Scheck: Dann machten Sie infolge der Deutschen Wiedervereinigung eine Rechnung auf, die mir, mit Verlaub, ziemlich krude erschien, nämlich, dass Sie eine Gleichung aufstellten, die Wiedervereinigung kann nicht geschehen wegen der moralischen Schuld an Auschwitz. Deshalb brauchen wir ein geteiltes Deutschland, brauchen wir zwei Deutschlands.
Grass: Entschuldigen Sie, das ist eine sehr starke Verkürzung.
Scheck: Geb' ich zu!
Grass: Das ist eine sicher beliebte Verkürzung.
Scheck: Korrigieren Sie mich.
Grass: Ich habe aus verschiedenen Gründen die Form dessen kritisiert, was man Wiedervereinigung nannte. Es ist eine Übernahme ganz nach westlichem Vorbild der zugrunde gerichteten DDR gewesen. Das Grundgesetz hatte vorgeschrieben, dass im Fall einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten, dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorgelegt werden müsste. Das ist bis heute nicht geschehen. Man hat das alles nach dem Paragrafen 23, einem reinen Anschlussparagrafen gemacht. Das habe ich kritisiert, und ich habe gleichzeitig gesagt, das war meine Befürchtung, und ich hoffe, dass ich mich in dem Fall geirrt habe, dass ein Zusammenschluss beider Staaten womöglich zu einer Zentralisierung wieder führen könnte und damit eine Gefahr auferstehen könnte für unsere Nachbarn, die diesen Nachbarn schon bekannt ist. Und dann habe ich an Auschwitz erinnert. Das ist erlaubt, und dazu sind wir allezeit aufgerufen, uns daran zu erinnern. Es ist auch die Aufgabe, es an die nachwachsenden Generationen, die weiß Gott nicht schuldig sind, weiterzugeben, dass diese Last der deutschen Geschichte nicht wiedergutzumachen ist. Sie gehört dazu. Sie gehört zu unserer Geschichte.
Scheck: In der Rolle hab ich Sie mein ganzes Leben lang oft gehört. Und ich hab Sie auch offen gestanden da ganz gern gehört. Was ich aber immer vermisst habe, ist der Günter Grass, der sagt, mein Gott, diesem Land geht es Jahr um Jahr gut, ja es geht ihm besser. Macht doch mal eine Party, macht ein Fass auf. Frohlockt! Preist dieses Land! Feiert! Entspannt euch. Warum könnt ihr euch eures Erfolges nicht freuen. Warum immer dieses Griesgrämige?
Grass: Na, aber das ist ja nicht der Fall. Ich meine, ich habe – ich glaube, dass nicht nur ich, sondern viele meiner Generation mit dazu beigetragen haben, indem wir uns politisch engagiert haben, dass aus diesem Dreizonengebiet der westlichen Bundesrepublik eine Schuldemokratie entstand. Das ist ein langsamer, mühsamer Prozess gewesen. Und ich sehe, weil ich die Augen offen habe, wie das, was aufgebaut worden ist, aus Eigenwille und Eigensinn und Egoismus langsam zerstört wird. Wie das parlamentarische Gefüge von der Lobby ausgehöhlt wird, bis zur Kanzlerin hin, ja, eine Lobbyhörigkeit ohnegleichen, zum Beispiel, was die Autoindustrie betrifft, und ich stelle mit Entsetzen fest, dass die Bundesrepublik, die nun vergrößerte Bundesrepublik der drittgrößte Lieferant auch in Krisengebiete ist.
Scheck: Das ist der Günter Grass, den ich kenne.
Grass: Aber das sind doch alles Tatsachen. Das ist doch kein Grund, dass ich auf der einen Seite froh und auch stolz bin, dass es gelungen ist, von 1848 an, mit all den vergeblichen Versuchen, doch noch in Deutschland Demokratie aufzubauen, und mich auch den Erfolgen dieser Demokratie zu erfreuen, aber das hindert mich doch nicht, die Gefährdungen, die gar nicht von außen kommen, die aus dem Inneren heraus erwachsen, beim Namen zu nennen.
Scheck: Nein, das ist ja auch die Aufgabe des Intellektuellen.
Grass: Allein, um das Aufgebaute zu bewahren.
Scheck: Aber als Sie die "Blechtrommel" veröffentlichten, 1959, oder die "Hundejahre", 1963, haben Sie im Ernst damit gerechnet, dass aus dieser Bundesrepublik mal ein wiedervereinigtes Deutschland würde mit einem solchen demokratischen Gemeinwesen, wie wir es im Jahr 2013 genießen können?
Grass: Na ja, das ist ja ein langer Prozess gewesen, also, diese Bücher, also die „Blechtrommel“ …
Scheck: Sie waren ja daran beteiligt.
Grass: … und auch bis in die "Hundejahre" hinein ist ja in der Adenauerära, und das war natürlich eine ungeheure Kumpanei. Ich meine, ich hab das ja alles miterlebt, wie Verbrecher wie Flick, der Industrielle, weil ja nun der Kalte Krieg begann, nach kurzer Zeit aus der Gefangenschaft entlassen wurde und ihren Konzern wieder aufbauen konnten. Wie, angefangen von der Ärzteschaft über die Juristen bis alte Nazis in Positionen hineinkamen. Und das hat sich erst langsam, langsam geändert. Mit dem Generationenwechsel und mit einer neuen Politik. Aber das ist ein langwieriger Prozess gewesen.
Der glückliche Sisyphos
Scheck: Sie haben mal geschrieben, Freiheit sei eine Hure, die jeder ficken darf, der dafür zahlen kann. Im Moment können wir uns die Freiheit von Bespitzelung beispielsweise unserer amerikanischen Freunde offenbar nicht leisten.
Grass: Na ja, das ist ja ein Negativzeugnis ersten Ranges. Wir sind abhängig geworden. Wir sind abhängig geworden, und ich sehe das natürlich mit Bedauern, sofort als Antiamerikaner gekennzeichnet. Ich verdanke nach vielen Besuchen in den Vereinigten Staaten von Amerika manches, auch die Anregung, Wählerinitiativen aufzubauen. Und ich sehe mit großem Bedauern, wie dieses große Land sich selbst zugrunde richtet. Und das färbt natürlich ab. Das ist, nach dem September-Anschlag auf das World Trade Center, sind bei denen die Nerven völlig durchgegangen, weil sie auf einmal Krieg im eigenen Land im Ansatz erlebt haben. Und da ist dieser Patriot Act verabschiedet worden unter Bush, und die Folge ist dieses überdimensionale Spitzelsystem, das sie selbst zu kontrollieren nicht mehr in der Lage sind in den Vereinigten Staaten. Und das färbt natürlich ab auf den westlichen Verbündeten.
Scheck: Da gibt es viel Arbeit, glaube ich, für Intellektuelle. In diesem Monat ist Albert Camus 100 Jahre alt geworden. Sie haben mal geschrieben, an Camus könne man eine Haltung lernen, eine Haltung des Widerstands gegen den Hass, das Ressentiment. Gegen was lebt Günter Grass heute im Widerstand?
Grass: Da Sie Camus nennen: Sehen Sie, das ist ja für mich eine prägende Person gewesen, für die man sich entscheiden musste. "Mythos von Sisyphos" ist 1950 erschienen. Ich habe das in deutscher Übersetzung dann gelesen, und das leuchtete mir ein, dieser Steinewälzer, der zu seinem Stein steht. Wir dürfen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Also, abseits vom Prinzip Hoffnung, auch, wenn es zu keinem Ergebnis, sondern noch zu keinem Ergebnis führt, immer weiter zu machen. Das hat meine politische Haltung bestimmt, bis heute. Und damals war es die Auseinandersetzung zwischen Camus und Sartre, die einem als jungen Menschen, wenn man sich dafür interessierte, eine Entscheidung abgezwungen hat. Denn ich hab mich für Camus entschieden. Der hat mein Leben begleitet.
Scheck: 1951 notiert Camus in einer der berühmtesten Tagebucheintragungen der Weltliteratur zehn Begriffe in sein Tagebuch, die sein Leben prägten. Das Meer, die Wüste, Mutter, Sonne – gibt es einen Tag, den Günter Grass zugebracht hat, ohne an seine 1954 verstorbene Mutter zu denken?
Grass: Nein, gibt es nicht, nein. Und das ist, auch beim Schreiben guckt sie mir immer über die Schulter.
Scheck: Schreiben Sie für Ihre Mutter?
Grass: Das ist – ich schreibe – ja, natürlich, das ist, man schreibt erst mal, um sich selbst zu erhalten oder wieder neu zu entdecken, neu infrage zu stellen. Ich habe diesen Krieg als 17-Jähriger nur zufällig überlebt, aber ich habe erlebt, wie Gleichaltrige in diesen Wochen vor Kriegsende dahingemäht wurden, zerfetzt wurden, die alle keine Chance hatten, ihr Leben zu leben. Und das ist mir sicher beim Schreiben oft bewusst, dass ich, das ist jetzt vielleicht ein großes Wort, stellvertretend, aber doch ersatzweise für viele schreibe, die nicht dazu gekommen sind. In Friedenszeiten, wie wir sie seit geraumer Zeit dankbarerweise haben, in Europa jedenfalls, ein Leben zu Ende zu leben. Und dabei tätig zu sein. Das hat sicher mein Schreiben mitbestimmt. Und was meine Mutter angeht, das ist natürlich ein großes Bedauern, dass sie schon keine 60 Jahre alt geworden ist und starb, bevor ich ihr etwas vorweisen konnte, dass es sich gelohnt hat, an mich zu glauben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.