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Literatur im Internetzeitalter
"Der große bürgerliche Roman wird sicherlich fortdauern"

Zum Teil würden wir heute wie vor 100 Jahren leben und zum kleineren Teil aber auch in der Zukunft, sagte Hanser-Verlag-Chef Jo Lendle im Dlf. "Die Literatur reagiert darauf eigentlich kaum." Er erwarte Veränderungen für die Literaturbranche durch neue Formen der Distribution und Interaktion, sagte Lendle im Dlf.

"Literarische Gretchenfragen" - Antworten von Jo Lendle, Chef des Hanser-Verlags |
    Der Verleger und Autor Jo Lendle , aufgenommen am 17.10.2009 auf der 61. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main. | Verwendung weltweit
    Der Verleger und Autor Jo Lendle (Pictue-alliance/dpa)
    Gisa Funck: Welches Erlebnis hat Sie unwiderruflich zur Literatur verführt?
    Jo Lendle: Mein Vater hat uns vorgelesen, damit fing eigentlich alles an. Im Schlafanzug auf dem Wohnzimmerteppich liegen und Ernst-Jandl-Gedichte hören, kommt meiner Vorstellung von irdischem Glück schon ziemlich nahe.
    Funck: Sie arbeiten als Verleger. Was motiviert Sie jeden Morgen aufs Neue, sich an die Arbeit zu machen?
    Lendle: Von all den Erstaunlichkeiten, die unsere Branche so mit sich bringt, ist am erstaunlichsten wahrscheinlich die Vielfalt. Wenn ich mir vorstelle, wie so ein Zahnpasta-Mensch da draufschaut, dass wir jedes halbe Jahr unsere komplette sogenannte Produktpalette neu erfinden, der kann wahrscheinlich nur den Kopf schütteln! Aber genau deshalb stellt man sich eben jeden Morgen mit gutem Grund vor: "Es könnte sein, das heute mal wieder ein sensationelles Manuskript auf dem Schreibtisch liegt." Und das ist als Aussicht für den Tag ja nicht die Schlechteste.
    Funck: Was braucht es in Ihrem Beruf, um nicht baden zu gehen?
    Lendle: Aber wir wollen ja baden gehen! Man kann keine guten Bücher herausbringen, ohne sich nass zu machen. Man braucht die Leidenschaft, um immer wieder aufs Neue ins Wasser zu springen. Und man braucht sicherlich auch die Besonnenheit zu wissen, dass in der Nähe Schwimmflügel herumliegen.
    Funck: Jeder Beruf, auch ein Beruf im Dienste der Literatur, hat seine Schattenseiten. Was halten Sie für die größten Schattenseiten oder die größten Risiken Ihres Berufs?
    Lendle: Die größte Trauer ist der Verlust des absichtslosen Lesens. Das schmerzt wirklich. Und es ist ein hoher Preis, den man zahlt. Eigentlich verrückt, dass ausgerechnet diejenigen, die andere Leute in den Rausch des Lesens zu versetzen versuchen, selbst immer seltener zu diesem puren, ziellosen Lesen finden.
    Funck: Welches ist ihr bevorzugtes Arbeitsgerät – und an welchem Ort arbeiten Sie am liebsten?
    Lendle: Liebingsarbeitsgerät: Papier, Lieblinsgarbeitsort: in der Eisenbahn. Als wäre das 19. Jahrhundert nie vergangen.
    Der Roman als Inbegriff von Ganzheit und Festigkeit
    Funck: Alle Welt spricht gerade von der digitalen Revolution, also auch wir. Was glauben Sie? Wie sehr hat die Digitalisierung die Literatur in den letzten zehn Jahren verändert – und wie sehr wird sie die Literatur in den nächsten zehn Jahren weiter verändern?
    Lendle: Wir leben heute zum Teil wie vor 100 Jahren. Und zum kleineren Teil in einer ziemlich futuristischen Zukunft. Und die Literatur reagiert darauf eigentlich kaum. Es gibt diesen großen Teil der Bücher, die versuchen, so an eine gute alte Zeit anzuschließen. Formell vielleicht noch stärker als inhaltlich. Dann gibt es einige Experimente. Aber es gibt eigentlich kaum neue Formen, die auf diese Gegenwart so reagieren, dass ich den Eindruck hätte, das sei angemessen. Das wird sich sicherlich schon alleine durch technische Dinge verändern, etwa durch neue Formen der Distribution, der Interaktion und der Beweglichkeit. Zugleich aber wird der große bürgerliche Roman sicherlich fortdauern als Inbegriff von Ganzheit und Festigkeit.
    Funck: Im Internet schwingt sich der Literaturkonsument inzwischen immer öfter zum Rezensenten auf. Braucht die Literatur heute überhaupt noch den professionellen Kritiker?
    Lendle: Aber ja! Die Blogger bereichern die Kritik um etwas, was zum Lesen unbedingt dazugehört: die ganz subjektive Erfahrung des einzelnen Lesers. Der Kritiker dagegen zielt weiter. Er versucht das objektive Urteil. Er riskiert das objektive Urteil. Und für unsere Auseinandersetzung glaube ich braucht man den Vergleich über die Ländergrenzen hinaus, über die Zeiten hinaus. Und dass das gut und fundiert geschieht, dafür braucht es professionelle Kritik. Und die soll dann natürlich auch bezahlt werden.
    Funck: Ihr Resümee: Ist das Internet eher Gnade oder eher Fluch für die Literatur?
    Lendle: Natürlich lenkt das alles ab! Wenn man die Literatur fragen würde, würde die ohne jeden Zweifel all diese Ausschweifungen beseitigen. Den Schlaf, die Arbeit, die Nahrungsaufnahme, den Sex und alles, was sonst noch vom Buch fernhält. Die Literatur muss immer gewinnen gegen die anderen Dinge. Und ich lebe eigentlich ganz gern in der Gegenwart.
    Funck: Ihr persönlicher Blick in die Zukunft: Wie, wo und als was werden Sie in zehn Jahren arbeiten?
    Lendle: Fürs nächste Frühjahr bereiten wir gerade einen Roman vor, in dem seltsamerweise das Internet abgeschaltet ist und der Held als Postbote arbeitet. Das ist vielleicht eine Perspektive! Bis dahin bin ich sehr froh, hier zu sein und vielleicht noch ein paar Jahre lang gute Bücher, bereichernde, erhellende Bücher auf den Weg zu bringen.
    Funck: Welches Buch der Weltliteratur hätten sie selbst gerne geschrieben?
    Lendle: Die Meisten, ehrlich gesagt. Aber wie wär’s mit Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel.