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Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon

Es gibt inzwischen eine sehr beträchtliche, nach vielen Metern zu messende Forschungs-literatur zum Nationalsozialismus. Doch es ist im wahrsten Sinne ein Thema ohne Ende. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch", hieß es bei Brecht. Und so kann man - anders als bei den meisten Themen - hier nicht abwinken, wenn ein neuer Beitrag erscheint. Die Ära Hitler und der europäische Kontext, das bleibt höchst spannend, weil fast unerklärlich. Der englische Historiker Michael Burleigh, Jahrgang 1955, nähert sich denn auch seinem Gegen-stand fast wie ein Ethnologe. Das wäre ein Blick, der alle englischen Tugenden der Darstel-lung aufrufen könnte: Sarkasmus und Understatement, Ironie, gebildete Weltoffenheit und kopfschüttelnde Verwunderung. Doch Burleigh hält das nicht durch, er entscheidet sich für einen quasi europäischen Ansatz, für das - absolut berechtigte - Besserwissen der Aufklärung und die Darstellung des "fast totalen moralischen Bankrotts einer hochmodernen Industrie-gesellschaft im Herzen Europas". So lautet sein Eingangssatz:

Alexander von Bormann | 27.03.2001
    "Dieses Buch handelt davon, was geschah, als Teile der deutschen Eliten und Massen deutscher Normalbürger sich dafür entschieden, das kritische Denken einzustellen und sich stattdessen mit Haut und Haar einer Politik zu verschreiben, die auf Glaube, Hoffnung, Hass und einem sentimentalen Kollektivstolz auf die eigene Rasse und Nationalität basierte." Unstimmig an diesem Satz und dieser Haltung ist die Unterstellung, es sei um eine "Entscheidung" der Bürger gegangen. Das kann man mal so sagen, um die Entschuldigungen zu relativieren, richtig, aber er ist zu ungenau, um als Eröffnungsfanfare für 1000 Seiten dienen zu können. Wie es sich gehört, werden Zeugen angeführt, die gleichzeitig schon ahnten, sogar wussten, welches Spiel Hitler und die Seinen angefangen hatten. Das aber reicht noch nicht für eine Verallgemeinerung der "willigen Vollstrecker"-These.

    Nun sind tausend Seiten tausend Seiten, und eine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Thema hat in sie Eingang gefunden. Es macht immer Spaß, wenn jemand gut erzählen kann, und so ist dieses Buch eine anregende und belehrende Lektüre für jeden, der das 20. Jahrhundert noch einmal genauer an sich vorüberziehen lassen möchte. Denn Burleigh beginnt, wie selbstverständlich, mit dem Ersten Weltkrieg und den Voraussetzungen des Faschismus als einer politischen Religion. Er zieht George Orwell bei, auch Hannah Arendt, und präsentiert uns das völkische Christentum als "kraftstrotzendes Ideal". Sehr einlässig werden die Bedingungen gezeigt, unter denen dieses in den zwanziger Jahren stets mehr Raum und Gefolgschaft gewinnen konnte. Die Politik spielt für einen Historiker naturgemäß die Hauptrolle, doch auch sozioökonomische und ideologische Entwicklungen werden beachtet und gutteils aufeinander bezogen. Die Brüche innerhalb der deutschen Gesellschaft reichten ja in die Klassen selbst hinein, wie Burleigh anhand des Hindenburg-Kultus zeigt, der großteils von den Arbeitern mitgetragen wurde. Das Psycho-Porträt von Hitler entspricht dem Wissen heute. Hübsch der sozusagen englische Hinweis: dass den brutalisierenden Erfahrungen im Wiener Obdachlosenasyl und an der Front "keine gegenläufigen Erfahrungen von Menschlichkeit und Anstand gegenüber standen". Mit Hannah Arendt qualifiziert er Hitlers Denken als ideologisch, d.h. als "unabhängig von aller Erfahrung". Wie die Zer-störung des Rechtsstaats, der die Weimarer Republik gegen alle Verleumdungen doch war, im einzelnen ins Werk gesetzt wurde, ist immer wieder ein Lehrbeispiel, das Wachsamkeit und frühzeitiges Eingreifen einklagt. Die Errichtung der Konzentrationslager und das Eugenik-Programm, die Gleichschaltung der Medien, die demagogische Jugendpolitik und vor allem die Phasen der Judenverfolgung und -Vernichtung werden mit vielen sprechenden Einzel-heiten nachgezeichnet.

    Unter dem Stichwort "Besatzung und Kollaboration wird die deutsche Politik in den besetzten Ländern nuanciert charakterisiert, ein Kapitel, das in den meisten Gesamtdarstellungen dieser Zeit zu kurz kommt. Das rein demagogisch entworfene Bild vom "alten, lasterhaften Frankreich" wurde z.B. zur Grundlage unzähliger Maßnahmen, wozu Scheidungsverbot und Mobilisierung der Jugend gehörten. Die Phasen des Krieges und des Untergangs des sog. Dritten Reichs bilden, wie bekannt, einen Schauerroman. Burleighs Darstellung gewinnt stellenweise fast filmischen Rang, wenn er Szenen, Bilder, Gespräche, Dokumente einsetzt, um die Abläufe, wenn nicht verständlich, so doch vorstellbar zu machen. Das Ende der Hitler-Ära freilich wird stark mit trivialen Mitteln gezeichnet - da wird Burleigh von seinem Versuch, romanhaft zu erzählen, eingeholt: die Stilmöglichkeiten reichen nicht hin, und es ist nicht eben erhellend, Hitler am Ende als "ein von allen Geistern verlassenes Wrack" zu beschreiben. Welche Geister hatten ihn verlassen? Sein Ende und seine letzten Worte bezeugen seinen vielberufenen Ungeist.

    Die Ära des Kalten Kriegs begann, im Mai 1945 sprach Churchill bereits vom "Eisernen Vorhang", der über Europa niedergegangen sei. Die Potsdamer Konferenz wird eher anekdotisch beleuchtet, wie sich überhaupt gerade am Schluß zeigt, dass eine erzählerische Nachzeichnung dieser Ära allzu oft an ihre Grenzen stößt. Möglicherweise gälte das auch für eine Analyse der "Literatur in Nazi-Deutschland". Jedenfalls haben sich Hans Sarkowicz und AlfMentzer, Kulturredakteure am Hessischen Rundfunk, entschlossen, dieses Thema lexikalisch zu bearbeiten. Das ist ein sehr hilfreicher, ja ganz unentbehrlicher Band geworden, den der Europa-Verlag prominent herausgebracht hat. Die umfangreiche Einleitung charakterisiert die Situation der Literatur im Dritten Reich zwischen Anpassung und Widerstand, zeigt die Phasen der Literaturpolitik, die radikalen Zwangsmaßnahmen - Peter Suhrkamp z.B. kam ins KZ -, die Nicht-Bewältigung nach 1945.

    In welchem Ausmaß die Nazi-Literatur nach 1945 weiterhin Verbreitung fand, wird wieder einmal aufgelistet und u.a. mit dem Verlagswesen erläutert. Auch mit der Schullektüre. 1961 fanden sich in 116 untersuchten Schulbüchern 100 Arbeiten von Agnes Miegel, die sich großmundig aufs Dritte Reich eingelassen hatte, dagegen nur 10 Beiträge von Heinrich Böll.

    Das Lexikon enthält mehr als 120 Kurzbiographien. Die sind durchaus nuanciert angelegt, man merkt, dass die Verfasser aus den Quellen gearbeitet haben und sich auch auf die Selbstdarstellung der Autoren - oft durchaus kritisch - eingelassen haben. Das Spektrum ist ja groß. Es gibt die engagierten Nazidichter wie Hans Baumann, der nach 1945 eine Karriere als Kinderbuchautor machte, wie Gustav Frenssen, Blunck und Dwinger, Agnes Miegel oder Hanns Johst. Zugleich viele ambivalente Haltungen mit einem großen Spektrum, das etwa von Benn und Bronnen bis zu Ina Seidel und Weinheber reicht.

    Die Darstellungen sind pointiert und bemüht, nicht nur die Elle der politischen Korrektheit anzulegen. Wie problematisch für viele eine deutliche Orientierung war, zeigen etwa cße Beispiele Ernst Wiechert, der den Weg nach Innen als dritte Möglichkeit zwischen Anpassung und Widerstand propagierte, aber doch im KZ inhaftiert wurde. Oder Hans Fallada, der emsig produzierte, doch seinen Erfolg mit psychischer Belastung und sich verschlimmernder Drogensucht bezahlte. Merkwürdig auch Elisabeth Langgässer, die ihr relativ spätes Publikationsverbot mehr zu bekümmern schien als die Deportation ihrer Tochter nach Auschwitz. So viele Namen, so viele Schicksale, die - selbst in ganz gedrängter Darstellung -uns in das vertrackte Verhältnis der Intellektuellen zur Politik einführen. Was soll man zu Arnolt Bronnen sagen: Zusammenarbeit mit Brecht, dann mit den Nationalsozialisten, danach Kulturfunktionär in der DDR. Bis ist ein gut gearbeitetes, hochinformatives, immer wieder nachdenklich stimmendes Buch, das sich regelmäßig benutzen, aber mit großem Gewinn auch einfach lesen lässt. Das lässt sich nur von wenigen Lexika sagen.