"Heute Abend möchten wir Sie zu einem ganz besonderen Experiment einladen: Lassen Sie uns einmal alle zusammen und jeder für sich fragen, was für uns eigentlich der, die, das Fremde bedeuten."
Die Stadtbibliothek in Pullach nahe München. Bibliothekarin Evelyne Petraschka eröffnet diesen Abend, der unter dem Schlagwort "Fremd" steht. Sechs Autoren und vier Geflüchtete, dazu fast 50 Gäste, sind gekommen, um einen Begegnungsort zu schaffen, um Worte zu tauschen und Blicke – und natürlich Geschichten.
"Mit ihm und seinen Geschwistern saß ich im Sandkasten und ich weiß noch, wie meine strengkatholische Oma sagte, 'das sind doch Türken!' Und wie meine Mutter antwortete: 'Ja und?' Für den 'Ja und?'-Satz bin ich meiner Mutter bis heute dankbar.
Weil ich glaube, es ist so etwas Ähnliches wie bei Hunden. Hat die Mama Angst vor Hunden, hat es auch das Kind. Hat die Mama Angst vor Menschen anderer Herkunft ... und so weiter."
Ob Lyrik, Prosa oder Essay – es sind durchweg sehr persönliche Texte, die die Autoren aus der Anthologie mit dem Titel "Fremd" vorlesen. Während sich die schwäbische Schriftstellerin Sandra Hoffmann an ihre Kindheit erinnert, erzählt der Syrer Jamal Aloudtallah anschließend von seinen vergangenen Tagen in Deutschland.
"Wir wohnen jetzt in Wolfratshausen in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Und ich habe zwei Kinder, eineinhalb und viereinhalb, eine Tochter und einen Sohn."
Die Macht der Sprache
Die Sprache – welche Macht sie hat, merkt man hier schnell. Aloudtallah und sein Schwager Diaa Saleh sind nervös, verraten sie vorher. Sie sprechen leise, tun sich – selbstverständlich – noch schwer, können nicht alles so sagen, wie sie wollen. Deutsch lernen sie seit fünf Monaten und reden dafür erstaunlich sicher und frei. Die Sprache sei jetzt das Wichtigste, betonen sie immer wieder.
Der Dialog mit dem Publikum bleibt eher verhalten. Die Besucher hören zu, kommen dann aber auch auf die fast schon obligatorischen Fragen zurück:
"Tragen Ihre Frauen Schleier?" - "Schleier?" - "Tragen sie einen Schleier, ein Kopftuch?" - "Ja." - "Ist okay."
Worte sind schwierig, ja tückisch, und sie schaffen Identität – auch das eine Erkenntnis des Abends. Der Kölner Autor Steven Uhly, dessen Vater Bengale ist, formuliert das so:
"Vermutlich spreche ich deshalb so betont korrektes Deutsch, damit man zumindest, wenn ich den Mund öffne, gleich eines besseren belehrt wird. Diese Strategie habe ich bei vielen beobachtet, deren Äußeres sich in ähnlicher Differenz zum "normalen" Deutschen befindet."
Die Realität in Worte fassen
Literarische Fiktion ist hier nur ganz am Rand ein Thema. Stattdessen viele Stimmen, viele Realitäten. Der Einzelne steht im Mittelpunkt – und dafür ist die Buchhandlung der ideale Ort, erklärt Initiatorin und Schriftstellerin Annika Reich später im Gespräch:
"Weil wenn man in eine Buchhandlung geht und sich ein Buch empfehlen lässt, dann will man ja in ein fremdes Leben eintauchen und möchte vom Buchhändler ein fremdes Leben empfohlen bekommen. Und die Buchhändler könnten das ja auch so gut, die wissen genau, wie sie jemandem von einer Geschichte erzählen, die irgendwo in einem anderen Land handelt oder von einem völlig anderen Lebensentwurf ... "
Die Integrations-Gegner fehlen bei den Veranstaltungen – auch das muss man klar festhalten. Hier und da ein bisschen Skepsis, generell aber herrscht die Haltung "Wir machen das!" – so auch der Name des Projekts, in dessen Rahmen die Begegnungsorte stattfinden:
"Ich glaube, was im Moment ganz wichtig ist, dass die positiven Kräfte in Deutschland gestärkt werden. Weil die negativen Kräfte sind unglaublich laut und einflussreich: Pegida, AfD und Co. beeinflussen die Politik. Und deswegen sind die Begegnungsorte hochpolitische Veranstaltungen, bei denen wir die positiven Kräfte stärken, eine gemeinsame Stimme haben und politischen Einfluss ausüben wollen. Und dass wir damit die Menschen, die das nicht wollen, nicht erreichen, ist mir erst einmal egal."
Reich selbst schreibt derzeit gar nicht. Sie hat keine weder Zeit noch gedankliche Klarheit, sie engagiert sich stattdessen, packt an, hilft mit.
Literatur könne zwar nicht die Welt verändern, sagt sie, aber sie kann Begegnungen und Austausch ermöglichen.
"Und die Erfahrung, die ich gemacht habe, dass man sich danach denkt, dass ich mit der Mathelehrerin aus Mossul viel mehr gemeinsam habe als eine Veganerin und ein Wurstfabrikant, die aus dem gleichen pfälzischen Dorf kommen."
Die Reihe Begegnungsort Buchhandlung. Ein Mutmacher, kein kritisches Forum. Aber solche Orte braucht es, um die einzelnen Stimmen und Gesichter hinter den abertausenden Asylanträgen und den allzu abstrakten Flüchtlingsströmen hör- und sichtbar zu machen.