Am 4.Dezember 1974 besuchte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre den deutschen RAF-Terroristen Andreas Baader im Gefängnis in Stammheim. Das Ereignis wurde schon bei der Ankunft Sartres auf dem Stuttgarter Flughafen von tumultartigen Szenen begleitet; ein ganzer Tross von Journalisten folgte Sartre nach Stammheim, wo man allerdings vor der Tür warten musste. Am Nachmittag gab es eine überfüllte Pressekonferenz im „Hotel Zeppelin“ am Stuttgarter Hauptbahnhof, wo Sartre von dem eher zähen Gespräch mit Baader berichtete, gegenüber den deutschen Behörden jedoch den Vorwurf der „Folter“ erhob. „Es ist nicht die Folter wie bei den Nazis, es ist eine andere Folter, eine Folter, die psychische Störungen herbeiführen soll“, sagte der französische Existenzialist. Derlei hörte man in Frankreich damals gern, die deutsche Presse dagegen war mehrheitlich empört. Schon kurz nach 18 Uhr flog Sartre nach Paris zurück. Daniel Cohn-Bendit, der den alten Mann zum Flughafen begleitete, überlieferte allerdings noch einen anderen Ausspruch des Vertreters der „littérature engagé“: „Ce qu’il est con ce Baader“ - „was für ein Arschloch, dieser Baader“.
Mit dem Besuch Sartres stand zum ersten Mal ein kleiner Stuttgarter Vorort im Licht der Weltöffentlichkeit, der fortan zum Synonym für Unterdrückung und angebliche Isolationshaft, aber vor allem für den Konflikt zwischen der RAF und der Bundesrepublik Deutschland werden sollte: Stammheim war die Kommandozentrale des westdeutschen Terrorismus. Mitten im Knast wurde auch der Prozess gegen die RAF geführt. Durch die Selbstmorde der drei führenden Häftlinge am 18.Oktober 1977 wurde Stammheim endgültig zum Mythos.
"Das Gefängnis ist Stammheims Stigma"
Ein Heft der in Marbach edierten „Spuren“ begibt sich nun an jenen Ort, der nicht nur durch die kurze Visite Sartres, sondern auch durch den theatralischen RAF-Pop der letzten Jahre literarisch interessant ist. Günter Riederer, bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Literaturarchiv, rekonstruiert minutiös jenen politisch bedeutsamen Tag von 1974, trägt Einschätzungen und Stimmungen zusammen, gräbt aber auch in der Geschichte Stammheims - von der ersten Besiedlung durch die Kelten bis zur Errichtung des Stammheimer Schlosses im 16. Jahrhundert durch den schwäbischen Renaissance-Baumeister Heinrich Schickhardt, von den bäuerlichen Strukturen des 18. und 19. Jahrhunderts bis zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der Nachkriegszeit. Stammheim heute sei „der Durchschnitt, das Normale“, schreibt Riederer, und das Gefängnis sei „sein Stigma“.
Die „Spuren“ erscheinen seit 1988 viermal im Jahr unter der Ägide der Deutschen Schillergesellschaft und werden herausgegeben von Thomas Schmidt; „Sartre in Stammheim“ ist das hundertste Heft. Schmidt leitet in Marbach die „Arbeitsstelle für literarische Museen in Baden-Württemberg“ und betreut derzeit 98 literarische Gedenkstätten, die er langsam auf moderne Museums-Standards bringt, vom Jünger-Haus in Wilflingen bis zum Tübinger Hölderlinturm. Die „Spuren“ vermessen eine literarische Landschaft: Renommierte Autoren werden auf einen literarischen Ort angesetzt und liefern einen Essay von 16 Druckseiten.
"Unsichtbare Orte sichtbar machen"
"Die Reihe ist 1988 gegründet worden - und hat einen kleinen Vorlauf. Acht Jahre zuvor ist diese Arbeitsstelle hier gegründet worden, die gibt’s in Deutschland einmalig, nur in Baden-Württemberg, und die hat die Aufgabe, Baden-Württemberg als außergewöhnliche literarische Landschaft kenntlich zu machen. Das sind natürlich vor allem die markierten literarischen Orte, durch Museen meinethalben oder durch Denkmäler, Gedenktafeln; aber es sind auch die unsichtbaren Orte. Mein Vorgänger hatte die Idee, man müsse diese unsichtbaren Orte sichtbar machen. Und so ist es zu der Reihe „Spuren“ gekommen."
Das Konzept hat sich bis heute kaum geändert. Ein Ort oder ein Ereignis, es muss nichts Spektakuläres sein, wird von einem Autor genau unter die Lupe genommen; sein Essay wird mit Abbildungen und Manuskripten vor allem aus dem Deutschen Literaturarchiv angereichert.
"Es erschien ganz zu Anfang ein Heft, das auch eine politische Note hatte, nämlich Friedrich Wolf in Stuttgart, der lebensreformerische Arzt und Schriftsteller, Vater von Konrad und Markus Wolf, die ja beide nicht unbekannt sind. Das Stuttgarter Schillerdenkmal war Thema des Heftes 4, aber es ging dann relativ schnell in die Moderne, nämlich mit Robert Musil in Stuttgart oder ins Internationale mit Turgenjew in Baden-Baden; der hatte sich in Baden-Baden ja eine eigene Villa gebaut."
Es können aber auch völlig unbekannte Orte zum Thema werden: Jan Bürger schrieb ein Heft über einen Eisenbahntunnel zwischen Lauffen und Kirchheim. Lauffen kennt man als Geburtsort von Hölderlin, aber der Tunnel wurde viel später für Heimito von Doderer wichtig, der hier für seinen Roman „Ein Mord, den jeder begeht“ recherchierte. Eines der letzten Hefte widmete der Schriftsteller Arnold Stadler dem Haus von Erhart Kästner in Staufen, wo der durch eine - oft beschönigte und verschwiegene - Nazivergangenheit beschädigte Schriftsteller seinen Lebensabend verbrachte. Es gibt Hefte über Ilse Aichinger in Ulm und Schubart auf dem Hohenasperg, über Wielands Haus in Biberach oder Paul Celans Besuch im Hölderlinturm, ein weiteres Heft über Celans Aufenthalt bei Martin Heidegger in Todtnauberg. Dies alles nie anekdotisch oder nur heimatkundlich, sondern streng literaturwissenschaftlich geschrieben: eine Fundgrube.
Sartre und Baader hatten sich nichts zu sagen
Beim Heft über Sartres Besuch in Stammheim konnte der Autor Günter Riederer auf neues Material zurückgreifen: Bei den Recherchen zur großen „Kassiber“-Ausstellung des Marbacher „Literaturmuseums der Moderne“ stieß man in Ludwigsburg auf Akten über den RAF-Anwalt Klaus Croissant. Croissant, der zunächst auf Scheidungssachen spezialisiert war, inszenierte sich in den 1970er-Jahren als linker Anwalt; er war es auch, der den medienwirksamen Besuch des offenbar politisch naiven Jean-Paul Sartre eingefädelt hatte. In den Akten zu Croissant fand man nun das sogenannte Zellenzirkular, also ein Kassiber, in dem Andreas Baader seine Begegnung mit Sartre festhielt. Die Unterredung war offenbar nicht von gegenseitiger Sympathie geprägt.
"…auch nach den kleineren Funden, die wir jetzt noch gemacht haben, wir haben das Zellenzirkular gefunden, das Andreas Baader nach dem Sartre-Besuch aufgeschrieben hat… scheint mir die Sache ein Grundmissverständnis auf beiden Seiten gewesen zu sein. Es ist klar, dass Sartre instrumentalisiert wurde."
Kurz: Die beiden hatten sich nichts zu sagen; Sartre gab auf der Pressekonferenz pflichtschuldigst sein Bedauern über die angeblich an Folter erinnernden Haftbedingungen kund und die RAF hatte das gewünschte Medienecho. Im Kassiber beschimpft Baader den Übersetzer der Unterredung als „Kretin“ und meint, er wisse nicht, was Sartre überhaupt verstanden habe. Sartre dagegen schrieb, obgleich er Baader offenbar für ein „con“, ein Arschloch hielt, nach seiner Rückkehr in der Pariser Tageszeitung „Libération“ einen aufrüttelnden Artikel unter dem Titel „La mort lente d’Andreas Baader“ - der langsame Tod des Andreas Baader. Jedem das Seine.
Mythos Stammheim lebt weiter
Das sorgfältig recherchierte Spuren-Heft listet auch zwei bemerkenswerte Reaktionen aus Deutschland auf: Günter Zehm, der einst über Sartre promoviert hatte, nannte Sartres Aktion in der konservativen „Welt“ ein „Schmierentheater“. 1982, also viel später, veröffentlichte der Literaturkritiker Hans-Egon Holthusen ein Buch über Sartres Stammheim-Besuch; es gipfelt in der Feststellung, Sartre habe einen Pakt mit dem Leibhaftigen geschlossen. Holthusen selber war diesen Pakt allerdings schon viel früher eingegangen: Er war bereits 1933 Mitglied einer SS-Standarte, später Parteimitglied und trat an der Münchner Uni in schwarzer Uniform auf. In der Bundesrepublik hat ihm das nicht geschadet.
Der „Mythos Stammheim“ wird auch den Abriss des Gefängnisbaus überleben, der jetzt bevorsteht; er wird nur abgekoppelt werden vom realen Ort und in den Köpfen weiterleben. Weiterleben werden aber auch die „Spuren“, die sich zumeist ja erfreulicheren Themen widmen. Es ist eine bibliophile Reihe, die man übrigens auch abonnieren kann. Und die Gestaltung der Hefte funktioniert ganz einfach, sagt Herausgeber Thomas Schmid.
"Es ist ein ganz strenges Konzept. Ist auch ganz einfach: Ein Bogen Papier, das sind 16 Seiten. Ein gut geschriebener Essay mit ner begrenzten Zeichenzahl. Sehr viel Investition in die Gestaltung, in die Bildauswahl. Und ein immer wechselnder Pergamin-Umschlag mit ner Vignette, also das macht sehr viel Spaß, das zu gestalten, aber es ist auch sehr aufwendig."
Günter Riederer: Sartre in Stammheim, Die 100. Ausgabe der Zeitschrift „Spuren“, eine Publikation der Deutschen Schillergesellschaft, herausgegeben von Thomas Schmidt