Anzahl und Kompetenz der Gäste beim Abschied sind ja durchaus ein Indikator für die Qualität des Geleisteten. Insofern braucht sich Ulrich Raulff, der jetzt als Direktor des Marbacher Literaturarchivs verabschiedet wurde, um seinen Nachruhm keine Sorgen zu machen. Aber der ist ihm vermutlich eher egal. Ihm ging es immer um die Institution, die er in den letzten 14 Jahren von einer beschaulichen Oase der Gelehrsamkeit zu einer international vernetzten Forschungs- und Ausstellungs-Einrichtung entwickelt hat. Was immer Raulff in Marbach ins Schaufenster des "Literaturmuseums der Moderne" gestellt hat, es kam aus den Archiv- und Interpretations-Kammern des eigenen Hauses und zunehmend auch befreundeter Institutionen, die Raulff mit Charme und Zähigkeit für Marbach und für gemeinsame Unternehmungen gewann. So sind die letzten Ausstellungen - "Rilke und Russland", "Die Erfindung von Paris" und "Thomas Mann in Amerika" - paradigmatische Titel auch für den Anspruch des Hauses, nunmehr Forschung als Freundschaftsleistung über alle Fach- und Länder-Grenzen hinweg zu betreiben.
Gelehrt und unterhaltsam
Amerika, Israel, England; Berlin, Wolfenbüttel, Weimar – eine sehr bunte Forschergemeinde war da bei Raulffs Abschied. Richard Ovenden von der Bodleian Library in Oxford erinnerte an die gemeinsame Ersteigerung - von Kafkas Briefen an seine Schwester Ottla – mit Marbach, eine Pioniertat, die diese Handschriften für die Öffentlichkeit rettete. Der Literaturwissenschaftler Jan Bürger als Vertreter der Marbacher Mitarbeiter pries Raulffs intellektuelle "Beweglichkeit", verwies aber auch auf das "Ordnen", die Betonung des Dokumentarischen und die Zunahme nicht-literarischer, wissenschaftlicher Nachlässe im Archiv als Raulffs Anliegen. Der Geehrte selber zeigte in einer kleinen Abschiedsvorlesung noch einmal, wie das geht, gelehrt und unterhaltsam zugleich zu sein. Und dem Anlass gemäß sprach er über "letzte Sätze" und die Kunst, Schluss zu machen…
"Ich möchte zur Abwechslung das Pferd vom Schwanz aufzäumen und behaupten, dass nichts so schwer ist wie der letzte Satz. Und, dass er für die ganze vorangegangene Erzählung keine geringere Bedeutung hat als der ominöse erste Satz."
Ulrich Raulff ist eigentlich Historiker, allerdings einer, der es mit jedem Literaturwissenschaftler aufnehmen kann. Die kleine Typologie der Finalsätze, die Raulff an diesem Abend aufbot, führte von Walter Benjamin zu Sartre, vom Johannes-Evangelium zum Herrn der Ringe, von Hans Blumenberg über Georg Büchner, Jean-Paul und Diderot zu Harold Brodkey, Wolfgang Herrndorf und Péter Esterházy. Raulff, der letzthin ein Buch über das Verschwinden der Pferde aus der Gesellschaft vorgelegt hat, erwies sich – wieder - als Pegasus der Literaturgeschichte; allerdings spielte auch der Tod eine Rolle.
"Es zeigt sich, dass man von der Literatur mehr lernen kann als nur schön zu sprechen und schön zu schreiben. Von der Literatur kann man mehr lernen als Literatur."
Kollegial und lebensfroh
Was bleibt von diesem Direktorat? Massenhaft Anregungen für die Zukunft. Forschungs-Verbünde. Digitalisierung. Unendlich viele Lesungen, Diskussionen, Publikationen. Die "Zeitschrift für Ideengeschichte". Nachlässe, die aufgearbeitet werden wollen – voran natürlich das Suhrkamp- bzw. Siegfried-Unseld-Archiv, ein Kompendium der intellektuellen Nachkriegsgeschichte, dessen Erwerbung für Marbach 2009 Ulrich Raulffs größter Coup war.
Es bleibt in Marbach aber auch ein Klima der Kollegialität, der Disziplin und intellektuellen Lebensfreude. Das verliert sich nicht. Ulrich Raulffs Lebensform ist das intellektuelle Gespräch, das nun andere fortführen müssen – die Marbacher Wissenschaftler sind weitgehende Selbstständigkeit, allerdings auch eine enorme Arbeitsbelastung, gewohnt. Raulff selber wird künftig als Präsident des "Instituts für Auslandsbeziehungen" das tun, was er – neben dem Schreiben – am besten kann: Kontakte knüpfen und Ideen lancieren. Seine Marbacher - Ära aber ist das, was man einen Glücksfall nennt: Das Deutsche Literaturarchiv steht besser da denn je.