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Literaturfestival am Lago Maggiore
"Was uns nährt und anregt, das ist die Wahrheit"

"Orte der Utopie": Das war das Thema der "Eventi Letterari Monte Verità" auf dem "Berg der Wahrheit" am Seeufer in Ascona. Autoren diskutieren über Sehnsuchts-Orte oder "Nicht"-Orte, wie sie Flüchtenden aus aller Welt begegnen. Abseits der Literatur ein Einblick in das geschichtsträchtige Häuschen.

Von Katrin Hillgruber |
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    Literaturfestival am Lago Maggiore: Autoren diskutieren "Sehnsuchts-Orte" oder "Nicht-Orte". (Deutschlandradio/Katrin Hillgruber)
    Es ist die Ambivalenz aus Exzentrik und Bescheidenheit, die den Monte Verità bis heute so anziehend macht. Das winzige Bad in der Casa Anatta ist wie alle anderen Räume dieses wunderlichen Refugiums der Vegetabilischen Gesellschaft holzgetäfelt. Mit seinen abgerundeten Ecken wirkt das Zimmer wie ein überdimensionaler Schrankkoffer. Die alte freistehende Badewanne bietet einen herrlichen Ausblick auf den Lago Maggiore in der Frühlingssonne.
    Utopie als Routenbestimmung
    Der Utopie bleibe immer nur die Zukunft, daher vertrage sie keine Musealisierung: Das hatte Christoph Ransmayr 1980 in einer Reportage über den Monte Verità festgestellt. Nun kehrte der große Erzähler und raunende Vortragskünstler nach Ascona zurück, um die fünfte Ausgabe der Eventi Letterari zu eröffnen.
    "Das Unerreichbare, das was wir der vielleicht schrecklichen, leidvollen, finsteren, tragischen Wirklichkeit gegenüberstellen, das […] kann die Utopie sein. Nicht als ein Abziehbild, das wir über politische Programme erreichen können, sondern das unserem Handeln eine Richtung, einen Impuls gibt, so wie ein Richtstern, den wir am Himmel sehen - den wir natürlich nie, jedenfalls mit unseren Mitteln jetzt, nie erreichen werden, der uns aber trotzdem erlaubt, unsere Routen zu bestimmen" , so der Schriftsteller Christoph Ransmeyer.
    Flüchtlingslager und Sehnsuchtsorte
    Utopie bedeutet stets Sehnsuchtsort und Nicht-Ort zugleich. Deshalb konzipierten der künstlerische Leiter Joachim Sartorius und sein Team das Festival "Eventi Letterari Monte Verità" diesmal als ein Gespräch über Orte und zeitgemäße Nicht-Orte wie Flüchtlingslager. Der slowenische Schriftsteller Aleš Šteger hatte sich im Sommer 2015 in ein Belgrader Flüchtlingscamp begeben:
    "Wenn ich in der Lage wäre, jenseits dieser Schattenrisse von Geschichten, die mir die Flüchtlinge in ihrem gebrochenen Englisch berichtet haben, in die Zukunft zu sehen, herauszufinden, was aus Ahmed, Ibrahim, Muhamed und Aymen wird. Werden sie es in die Schweiz, nach Ascona, schaffen?"
    "Diese Utopie war ja nicht nur eine Idee, sie war unser Leben"
    Wer wüsste besser über verlorene Utopien und enttäuschte Hoffnungen zu berichten, als die weißrussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, hundert Jahre nach der russischen Revolution. Angriffslustig parierte sie die Frage des Moderators Andreas Breitenstein, wie sie die Zeitzeugen für ihre dokumentarische Prosa auswähle: Wie habe er denn seine Frau ausgewählt, sei das Strategie oder Zufall gewesen?
    "Vierzig Jahre lang habe ich an einer Geschichte der Utopie geschrieben. Ich wollte eine Enzyklopädie unseres Lebens verfassen, damit die Menschen sich ein Bild machen können. Ich wollte zeigen, wie die Utopie nach russischer Art ausgefallen war. Warum die Zeiten so blutig waren, warum die Menschen so leicht gestorben sind. Diese Utopie war ja nicht nur eine Idee, sie war unser Leben. […] Und angesichts des knallharten Kapitalismus und der Diktatur erinnern sich die Menschen heute sogar gerne an die sowjetischen Zeiten."
    Verleihung des Enrico-Filippini-Preis
    Um das Literaturfestival näher zu den Einwohnern und Besuchern Asconas zu bringen, fanden diesmal alle Lesungen in einem weißen Zelt am Seeufer statt. Das ist zwar praktisch, führt jedoch bedauerlicherweise vom viel beschworenen Geist des Monte Verità weg. Der italienischsprachige Höhepunkt der Eventi Letterari ist stets die Verleihung des Enrico-Filippini-Preis für verdiente Persönlichkeiten des Verlagswesens. Dieses Jahr wurde Italiens berühmtester Buchhändler Romano Montroni geehrt. Montroni hatte das innovative Konzept der Feltrinelli-Buchhandlungen mitentwickelt und erbte den legendären Citroën des Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli. Die begeisternde Laudatio des Theologen Vito Mancuso, dessen Bücher auch auf Deutsch erscheinen, bündelte die magischen Kräfte des Ortes:
    "Wir befinden uns im Frühling, wir befinden uns auf dem Monte Verità – wir befinden uns im Frühling auf dem Monte Verità. Wie heißt Frühling auf Lateinisch? 'Ver', Genitiv 'veris'. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass die Grundbedeutung, die Wurzel von 'ver', unsere Vorfahren schlussfolgern ließ: Das, was das Leben erblühen lässt, ist der Frühling, und das, was stabil ist, uns nährt und anregt, das ist die Wahrheit."