Tanya Lieske: Den Literaturkritiker stellt man sich ja bei uns in Deutschland gerne als einflussreiche Person vor. Sie, die Person, kann gewichtig sein. Von Gewicht ist aber vor allem ihr Urteil: Daumen hoch, Daumen runter - all das kann über Wohl und Wehe eines Romans entscheiden. Meine Beschreibung ist natürlich der Person Marcels Reich-Ranickis nachempfunden, er war ja die vielleicht letzte Inkarnation eines Kritikertypus, der uns hier in Deutschland lange begleitet hat. Als Vorfahren kann man Namen wir Heine oder Börne oder Herder oder Schlegel begreifen. Literaturkritik hat bei uns in Deutschland viel zu tun mit der Herkunft unserer Nation aus einer Sprache und mit der Aufgabe der Universitäten. Dort nämlich, an den Unis, wurde die Kritik im 18. Jahrhundert sozusagen erfunden. Die Debatte über neue deutschsprachige Texte nahm dann mit dem Unfehlbarkeitsgestus des Kritikers langsam Platz in der Öffentlichkeit.
Wie sehr das Verständnis von Literaturkritik mit der Geschichte einer Nation zu tun hat - auch darum geht es heute hier im Büchermarkt. Und ich habe von Deutschland aus nach Frankreich geschaut. Auch dort wird gerne und mit Leidenschaft über Bücher gesprochen, aber in einer ganz anderen Tradition - und hier ist ein Wochentag sehr wichtig, nämlich der Donnerstag. Aber warum ist der Donnerstag so wichtig? Das habe ich Joseph Hanimann gefragt. Er ist Kulturjournalist und Essayist und er lebt seit vielen Jahren in Paris.
Joseph Hanimann: Frankreich ist eine Nation der Rituale. Man macht alles gern am selben Tag. Und das hat im Grunde medientechnische Gründe. Die großen Tageszeitungen haben keine tägliche Literaturseite, sondern eine wöchentliche Beilage. Und wann macht man so eine Beilage? Wohl nicht Montag oder Dienstag, da hat man anderes im Kopf, eher aufs Wochenende hin. Am Freitag sind die Zeitungen mit Magazin oder anderen Dingen voll, also bleibt der Donnerstag. Und wenn eine Zeitung das macht, dann machen das die anderen, dann machen das eben die Fernsehanstalten - und schon haben wir den Literaturtag Donnerstag!
"Ausländische Literatur ist stärker präsent als in der Realität"
Lieske: Ein Land der Rituale, sagen Sie, ein gemächlicher Auftakt ins Wochenende. Welche Werke werden denn besprochen? Sind es vorwiegend französische Autoren, die da auftauchen? Oder welchen Stellenwert haben denn die Werke anderer Nationen?
Hanimann: Wenn man die Literaturseiten, -kritiken anschaut, dann ist eigentlich die ausländische Literatur relativ eher stärker präsent als in der Realität. In Frankreich fällt auf sechs publizierte Bücher ein ausländisches Buch. Also ungefähr ein Sechstel. Und in den Literaturbeilagen ist die ausländische Literatur eher stärker präsent. Mindestens in den großen Zeitungen gibt es oft eine Seite, die ist nur ausländische Literatur. Das heißt dann auch "littératures" mit s, also im Plural.
Lieske: Das heißt, die Literaturkritik, die Literaturjournalisten bewegen sich auch jenseits des Marktes. Gehört das, Herr Hanimann, auch zur Berufsethik in Frankreich?
Hanimann: Ja, das versuchen sie. Gut, ich meine, man ist natürlich gezwungen, dem Markt zu folgen, man muss natürlich auf die Beststeller eingehen. Aber die meisten Zeitungen haben wirklich ein breites Spektrum von Literaturkritikern, die dann versuchen, solche etwas abgelegenere Themen, Autoren, Bücher den Lesern vorzustellen.
Schreiben, kritisieren, verlegen in Personalunion
Lieske: Wer rezensiert denn? In Deutschland ist es ja so, dass die Zahl der festangestellten Literaturkritiker rückläufig ist, dass der Markt für die freien Rezensenten größer wird, dass sich das Geschäft auch verlagert auf freie Kritiker. Wie sieht das in Frankreich aus?
Hanimann: Das ist in Frankreich ziemlich anders. Festangestellte Literaturkritiker gab es in Frankreich immer schon sehr wenige, sehr wenige. Nicht mal eine kleine Handvoll in den großen Zeitungen. In Frankreich gibt es eine Sache, die in Deutschland nicht so geläufig ist, man nennt das das Prinzip der drei Mützen. Das heißt im Grunde: Sehr viele tun alles. Das heißt, schreiben selber Bücher, schreiben Kritiken über andere Bücher und sind manchmal auch Lektoren beziehungsweise leiten eine Abteilung in Verlagen. Das heißt, man schreibt, man verlegt und man kritisiert.
Das hat natürlich ein Problem, eben dieses Jonglieren mit den drei Funktionen, mit den drei Mützen, dass so eine Insider-Gefälligkeitskultur entstehen könnte, das wird auch immer wieder kritisiert. Aber das läuft trotzdem weiter. In Frankreich ist es so, eine Redaktion hat eben ein paar wenige festangestellte Kritiker und dann sehr, sehr viele Freie und sehr viele Autoren. Autoren, Romanciers kritisieren selbst. Das ist auch wieder daran absehbar, dass in Frankreich schon immer - wie jetzt in Deutschland ein bisschen mehr auch als früher - die Literaturpreise eine große Rolle, eine sehr große Rolle spielen. Die haben alle ihre Jurys und in diesen Jurys sitzen sowohl Schriftsteller wie Kritiker, dann überhaupt Journalisten, manchmal sogar Verleger. Also die Grenzen zwischen den Berufsgattungen sind sehr, sehr viel durchlässiger.
Salonkultur: Klüngel, aber auch unterhaltsam
Lieske: Das klingt nach einem sehr verflochtenen Literaturbetrieb. Wenn ich versuche, mir das jetzt in Deutschland vorzustellen, dann könnte ich mir vorstellen, dass offene oder hinter den Kulissen da große Freundschaften, aber auch wahnsinnige Feindschaften entstehen. Wie geht denn die Kulturnation mit diesen persönlichen Verflechtungen um, die da zwangsläufig mit dabei sind?
Hanimann: Da gibt es eine Grundvoraussetzung. Die französische Literaturkritik kommt aus der Salonkultur. Also, Salon ist natürlich - das zentralistische, monarchische System steht dahinter, steht weiterhin natürlich der Paris-Effekt dahinter, dass im Grunde alle in derselben Stadt sitzen. Das heißt, Salon, man läuft sich permanent über den Weg, man spricht miteinander, man feindet sich an, man schließt Freundschaften, man schließt Allianzen gegen den oder jenen. Das heißt, es ist ein permanentes Hin und Her. Und in Deutschland kommt ja die Literaturkritik eher von einem Literaturzirkel, von einem Kennerkreis, später kam dann sogar die Universität dazu. In der französischen Salontradition ist es eher so was von Causerie, von Konversation. Und insofern ist es praktisch schon negativ gesagt so ein Klüngel, der auch gewisse ethische Probleme dann stellt. Man schickt sich gegenseitig die Bücher mit Widmung und hofft dann vielleicht, dass der Kollege was rezensiert. Das kann den Vorteil haben, dass es sehr unterhaltsam ist, wie eben der Salon. Und dadurch strahlt die Gesellschaft überhaupt natürlich stärker rein. Also, das allgemeine Klima ist heißer als in Deutschland.
Lieske: Findet das in allen Medien statt oder vorwiegend in der Printpresse?
Hanimann: Das findet eher in der Printpresse statt, ja. Speziell im Fernsehen ist es eher eine Plauderrunde mit freundlichem Ton, während natürlich in den Printmedien, da kann es schärfer zugehen.
Literaturgespräche im französischen Fernsehen
Lieske: Im Fernsehen war ja mehrere Jahrzehnte lang sehr wichtig die Sendung "Apostrophes", moderiert von Bernard Pivot. Erklären Sie uns in Kürze, wie diese Sendung funktionierte!
Hanimann: Diese Sendung "Apostrophes", die von 1970 bis 1990 lief - also, das ist ja schon einige Zeit, dass es sie leider nicht mehr gibt -, das war ein typisches Beispiel eben von diesem Salongespräch über Literatur. Bernard Pivot, der ein absolutes Genie war, sammelte um sich zwei, drei, vier Autoren und dann wurde geplaudert über diese Werke, also eins nach dem anderen. Manchmal gab es Themen, manchmal keins. Und da konnte also ein Autor, der ein Buch übers Gärtnern geschrieben hat, neben einem Philosophen sitzen oder neben einem Romancier. Und Pivot hat es verstanden, zwischen denen die Funken springen zu lassen. Er sprach sehr gern von Wein, hatte auch selbst ein Weingut, wo er Wein produzierte. Also, dieser Stil des witzigen, absolut freien Hin-und-Herspringens von einem Thema zum anderen, in einer Komplizenrunde von Autoren, das war glaube ich der Hauptcharakter dieser Sendung.
Lieske: Das kann man sich vorstellen wie der ins Fernsehen gewanderte Salon. Es waren ja wirklich alle großen Autoren zu Gast, sogar der Staatspräsident Mitterrand hat mal ein Buch vorgestellt. Nun ist "Apostrophes" ja geendet, Anfang der 90er-Jahre, sie sagten es. Eine Weile war es eher still im Fernsehen, und dann, seit 2008, läuft eine neue Sendung. "La grande librairie" heißt sie, moderiert von François Busnel. Kann man sich das als Nachfolgesendung vorstellen, Herr Hanimann? Oder funktioniert die irgendwie anders?
Hanimann: Sie funktioniert nicht anders, sie hat im Grunde dasselbe Funktionsprinzip. Aber was sich radikal geändert hat, ist die Zeit, die Epoche. "Apostrophes" heute hätte bei Weitem nicht mehr diesen Effekt, wie es damals hatte. Damals gab es drei Fernsehkanäle, da saß eben ein großer Teil der Nation vor dem Fernsehen. Heute setzt sich die Nation außer in besonderen Ausnahmefällen nicht mehr praktisch im Kollektiv vor den Fernseher und schaut sich eine Sendung an. François Busnel, der diese neue Sendung jetzt leitet, weiß das genau. Er versucht, das Rezept von Pivot weiterzuführen, es sitzen wieder eine Handvoll Schriftsteller und sprechen über Literatur, plaudern über Literatur, sehr frei. Wird gern gelesen auch, Busnel liest gern, wie übrigens Pivot auch. Was neu ist: François Busnel macht eine Literatursendung, aber er versucht auch, praktisch mehr etwas mehr Magazinhaftes reinzubringen. Zum Beispiel gibt es oder gab es zumindest eine Zeit lang immer eine Einlage, wo er eine Buchhandlung in Frankreich vorstellt. Solche Einsprengsel kommen dann hinzu. Aber im Grunde ist es praktisch die Fortführung von "Apostrophes" in sehr viel kleinerem Kreis, unter veränderten Fernsehzuschauergewohnheiten.
"Das Buch ist der Anlass zum Plaudern"
Lieske: Das heißt, die Medienlandschaft hat sich verändert, in Deutschland herrscht durchaus manchmal Katerstimmung unter den Rezensenten und den KritikerInnen, weil das Internet jetzt so eine große Rolle spielt, weil es Blogs gibt, weil es Laien gibt, die das Wort erheben. Dazu gab es auch unlängst hier eine große Debatte in Deutschland. Wie sieht das denn in Frankreich aus?
Hanimann: Von Katerstimmung würde ich nicht sprechen, Katerstimmung, das verträgt sich auch irgendwie schlecht zum Salon. Aber es ist natürlich schon so, dass die Wirkung sich noch reduziert hat. Es kommt ein weiterer Unterschied dazu: In Deutschland ist doch immer noch sehr wichtig in der Literaturkritik das Urteil, also, was denkt der Kritiker vom Buch? Ist es nun ein gutes Buch oder ist es ein schlechtes Buch? In Frankreich spielt das eine kleinere, geringere Rolle. Das Buch ist der Anlass zum Plaudern und das hilft wahrscheinlich auch gegen die Katerstimmung: Na ja, wir sprechen jetzt mal übers Buch, auch wenn die Bücher selbst nicht mehr so gelesen werden, dann haben wir immerhin ein Thema, worüber wir jetzt sprechen können, Sie, mein lieber Leser, werden es dann lesen oder nicht, aber wir haben eine gute halbe Stunde oder eine gute Stunde zusammen verbracht, über dieses Buch zu sprechen.
Kritiker als Richter - nicht in Frankreich
Lieske: Also, der gepflegte Austausch, die schnelle Replik, die Eleganz der Sprache, all das spielt eine große Rolle. Gibt es denn in diesem Zusammenhang auch so etwas wie den Kultstatus eines Kritikers, etwa vergleichbar mit dem Ansehen, das Marcel Reich-Ranicki bei uns genoss?
Hanimann: Nein, das gibt es nicht. Das hängt auch wieder - in Deutschland hießen ja im 17. Jahrhundert und im 18. dann, als das Kritisieren als professioneller Akt aufkam, hießen Kritiker ja Kunstrichter. So was, diese Perspektive ist in Frankreich überhaupt nicht vorhanden. Und eben ein Richter, das ist eine strenge Figur, bei Marcel Reich-Ranicki hat man es ja mehrmals sehr gut gesehen, diese Strenge, die sich dann theatralisieren kann, in den Mittelpunkt stellen und praktisch Daumen rauf, Daumen heben, Daumen runter, entscheidet mit der ganzen Dramatik des Akts - das eben kommt in Frankreich nicht vor. Man spricht drum herum, das Kritische wird eher klein geschrieben, er ist eher ein Animateur, der das Gespräch beschleunigen soll. So populär Bernard Pivot war mit seinen "Apostrophes" stand er nicht so im Zentrum. Ist eine landesweit bekannte Figur, aber er war eben eher so der Plauderonkel als der Richter.
"Das Lesen als kollektiver Akt wird sehr gepflegt"
Lieske: Man merkt doch sehr, wie die Kultur der Nation auch in die Kritik hineinspielt. Kommen wir zu denen, für die das alles gemacht sein sollte: Wer liest denn Literaturkritik und wer schaut sich diese Sendungen im Fernsehen an?
Hanimann: Eine Lieblingsadressatin von Bernard Pivot war die Hausfrau von 50 Jahren und mehr. Hat sogar ein Buch geschrieben mit diesem Titel. Das ist natürlich pointiert gesagt. Leute, die Muße haben, die mitreden möchten, also in der Aktualität, eben auch hier wieder Salon, die auf dem Laufenden sein wollen. Das heißt, ein ziemlich breites Publikum. In Frankreich ist ja die Literatur überhaupt, sagen wir so, in der Öffentlichkeit wahrscheinlich präsenter als in Deutschland. Frankreich, zum Beispiel als Marguerite Duras starb oder große Figuren wie sie, dann steht das in allen Zeitungen auf der Eins, ganz groß, manchmal in gewissen Zeitungen sogar die ganze Seite und nichts anderes. Die Literatur ist sehr präsent. Das Lesen als kollektiver Akt wird sehr gepflegt. Und zu gewissen Zeiten, bei der Rentrée dann, im Sommer, wenn die neuen Bücher kommen, wiederum. Da spricht alles über Literatur, auch wenn man sie vielleicht selbst nicht liest, aber man möchte gern wissen, was los ist, man möchte gern mitreden in der Konversation.
Lieske: Frankreich ist also eine Lesenation, Herr Hanimann. Sie leben seit vielen Jahren in Paris, Sie schreiben auch selbst Bücher. Wie informieren Sie sich denn über Neuerscheinungen?
Hanimann: Frankreich ist eine Lesenation. Ich würde vielleicht sagen: Frankreich ist eine Mitlesenation. Man liest - es gab sogar vor ein paar Jahren ein Buch, das hieß: "Wie kann ich über Bücher sprechen, ohne sie gelesen zu haben?" Das hatte einen großen Erfolg, war natürlich sehr verspielt, so au second degré gemeint, dieser Titel. Aber man spricht gerne über Bücher, die man selbst jetzt nicht unbedingt gelesen hat. Und auch das kann eine Kunst sein. Wie ich mich informiere - wenn man in Paris ist, ist es sehr einfach, es gibt immer noch zum Glück sehr viele Buchhandlungen, werden zwar auch immer weniger - in Buchhandlungen herumflanieren, schauen, was auf den Tischen liegt. Da fällt mir auf, dass wirklich sehr ausgefallene, sehr winzige Verlage in vielen Buchhandlungen sehr präsent sind. Da passiert mir selbst immer wieder, dass ich was finde, was ich auch in den Kritiken nicht gesehen habe und was sehr interessant aussieht. Ansonsten liest man natürlich die Zeitungen, die Medien, die Magazine. Davon gibt es immer noch relativ viele, zum Beispiel "Lire", Monatsmagazin, praktisch ein ganzes Heft mit Kritiken, mit sehr breitem Publikum, "Magazine littéraire" und so weiter. Dann die übrigen Medien und dann natürlich auch - und hier haben wir wiederum die Salonkultur -, was so im Gespräch ist: Hast du das schon, hast du davon schon gehört - also praktisch breit durchs ganze Feld.
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