Ein Buch kann ein Freund sein. Man reist mit Büchern, man liest unterwegs oft produktiver als daheim. Und wer immer nur online ist, wird die "Steckdosenzone" nie verlassen – sagen etwa die früheren Pop-Literaten Christian Kracht und Eckhart Nickel, die zweieinhalb Jahre in Katmandu verbrachten und in den dortigen monsun-gefeuchteten Antiquariaten jeden Tag ein Buch kauften. Die daraus entstandene Katmandu Library erzählt von Herkunft und Reisewegen der früheren Besitzer und von den Interessen und Träumen dieser Himalaya-Touristen, die vor dem Berggang lästiges Gewicht loswerden wollten. Das Buch als transitäres Objekt...
"Die Bücher wurden gekauft als Einladung zu lesen, als Einladung nicht nur an uns, sie zu lesen, sondern auch an unsere Gäste, die wir immer wieder hatten... und viele dieser Bücher hatten wir bereits gelesen; man findet ja immer das in Gebrauchtbuchhandlungen, was man eh schon gelesen hat oder kennt oder schätzt... - Das ist ja immer das Fälligste, was einem zu-fällt, und wir haben dadurch den Zufall als große Gottheit des Tages zu würdigen versucht....Oder wie Samuel Beckett immer sagt: solange das Schlimmste betrachten, bis es einen zum Lachen bringt...was wir am liebsten gemacht haben."
Auf der Eröffnungsveranstaltung wurde von Kracht und Nickel dandyhaft palavert und vom Bücherklau auf der Buchmesse berichtet. Und man konnte erfahren, dass Christian Kracht öfter mal ein Schokoladenkeks in seinen Büchern vergisst, wenn er über der Lektüre einnickt. Sehr süß.
Die Ausstellung selber befasst sich eher mit dem Buch als Arbeitsmittel, als Material. Das ist einerseits als Aufforderung ans Publikum zu verstehen, das etwa die Gefängnisbibliothek der Justizvollzugsanstalt Münster benutzen und dabei seltsamste (und von den Insassen kommentierte) Literatur entdecken darf. In den Vitrinen erfährt man dann, dass Gefängnisbücher natürlich auch Kassiber und Transportmittel sind, man kann die Seiten ja auch entfernen.
Andererseits bekommen wir Autorenbibliotheken vorgeführt, und die Lektürespuren in den Büchern erzählen oft auch etwas über den Schreibprozess ihrer Besitzer: Paul Celan interpunktierte und rhythmisierte, was er an Gedichten las, auf völlig eigene Weise; Martin Heidegger las nie ganze Bücher, sondern spezielle Teile, die aber dann mit dem analytischen Skalpell; W.G.Sebald benutzte Bücher wie Atlanten, als Gedächtnishilfe, und legte Farne und Blätter als Wegmarken ein; Peter Rühmkorf konsultierte die entlegensten kulturgeschichtlichen Spezialwerke, um seine lyrische Zauberwerkstatt triebmythologisch aufzuladen.
Bücher kursierten schon im 18.Jahrhundert als Raubkopien und verkleinerte Taschenformate; ab dem 19.Jahrhundert gab es Groschenromane und Eisenbahnliteratur; nach 1945 legte Rowohlt die zeitungsgroßen Rotationsromane auf. All das gibt es in Marbach zu sehen: das Buch ist immer unterwegs, und die Welt ist eine große Leihbücherei – im letzten Raum der Ausstellung gibt es eine Bücher-Tauschzone. Allerdings fällt, im Gegensatz zu dieser großen Mobilität, auch eine gewisse statische Anhänglichkeit der Marbacher Kuratoren an bestimmte Objekte auf, die in fast jeder Ausstellung auftauchen...
Manche Texte entstehen heute im Netz, als Tagebuch, als Blog, und wandern dann, wenn der Autor die digitalen Spuren löscht, zwischen zwei Buchdeckel: Rainald Goetz' "Abfall für alle" oder Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur" sind so entstanden. Das Gros der Leser aber arbeitet immer noch analog: in vielen Kisten stehen auf den Marbacher Treppen jene Bücher, die zwischen dem 6.Juli und dem 1.Oktober dieses Jahren in Zügen der Deutschen Bahn vergessen oder ausgesetzt wurden. Diese Fundbibliothek ist ein verwirrendes und manchmal deprimierendes Kaleidoskop heutigen Zeitgeists. Die liegengelassenen Bücher bekommen nun in Marbach Asyl – bis jemand kommt, der sie wirklich braucht.