Die britischen Buchmacher behalten recht. Es ist ihr Favorit, den der Jury-Vorsitzende am Ende des festlichen Dinners mit Jakobsmuscheln und Maronen in Londons Guildhall als Sieger bekannt gibt:
"The winner of this year's Man Booker Prize for fiction is 'The narrow road to the deep north'."
Der Name des Autors geht im Beifall der 500 geladenen Gäste unter. Aus den Händen Camillas, der Herzogin von Cornwall, nimmt der Australier Richard Flanagan den mit 50.000 Pfund dotierten Man Booker Preis gerührt entgegen. Und der Jury Chef AS Grayling begründet:
"Das Buch ist so heftig und machtvoll, dass man es einfach nicht zur Seite legen kann, wenn man es liest, und man kann es auch nicht nur für eine kurze Zeit zur Hand nehmen, weil man von ihm so betroffen ist, so kraftvoll ist es."
Auf 350 Seiten beschreibt Richard Flanagan, wie australische Kriegsgefangene 1943 von den Japanern gezwungen werden, zwischen Thailand und Burma unter unmenschlichen Bedingungen eine 500 Kilometer lange Eisenbahnstrecke durch den Dschungel zu bauen. Sie wird von ihnen - den nackten, hungernden und misshandelten Sklaven - Todeslinie genannt: death line. Textprobe des Autors:
"They began to clear the jungle for the line, break the rock for the line und move the dirt for the line ... as naked slaves they were starved and beaten and worked beyond exhausting on the line. As naked slaves they began to die at the line."
Bester australischer Autor seiner Generation?
Bis zu 200.000 Australier starben. Richard Flanagan, 1961 in Tasmanien als fünftes von sechs Kindern geboren, widmet das Buch dem Kriegsgefangenen 335 - seinem Vater, der als einer, der wenigen überlebte.
"Mein Vater war Kriegsgefangener. Ich bin aufgewachsen als Kind der Todeslinie. Und an einem bestimmten Punkt wusste ich, dass ich darüber schreiben musste oder ich wäre nicht mehr imstande gewesen zu einem anderen Buch. Ich habe fünf völlig verschiedene Romane geschrieben und am Ende erkannte ich, ich hatte versagt. Ich habe die Festplatte gelöscht und die Manuskripte verbrannt - und habe noch einmal angefangen."
Richard Flanagan gilt vielen als derzeit bester australischer Autor seiner Generation. Seine fünf früheren Romane waren Bestseller; der New Yorker und der Observer kürten seinen vorletzten Roman "Wanting", auf Deutsch 2009 unter dem Titel Mathinna erschienen, zum Buch des Jahres. In seinem neuen Roman ist ein tasmanischer Arzt die Hauptfigur, zerrissen von der Erinnerung an eine leidenschaftliche Vorkriegsliebe und von dem Verlust unzähliger Kameraden.
"Die Herausforderung war für mich, den Tatsachen meines Vaters zu entkommen; Charaktere und Situationen zu erfinden, die nicht seine waren und die ihn doch nicht beschämen durften oder jene, die an diesem Schreckensort gestorben sind."
Sein Vater kann das Buch nicht mehr lesen
Der Schriftsteller macht im Zuge seiner Recherchen in Japan ehemalige Aufseher ausfindig, auch jenen Iwan den Schrecklichen, von dem sein Vater nur mit Verachtung gesprochen hat. Flanagan kehrt nach Australien zurück und richtet seinem betagten Vater Iwans Entschuldigung aus und noch am selben Tag verliert er sämtliche Erinnerungen an seine Zeit als Kriegsgefangener.
"Die Wunden, die Menschen aus Kriegen davontragen sind nicht nur individuelle. Sie übertragen sich in die Familien, Gemeinden, Gesellschaften. Und manchmal ist es die Aufgabe von anderen, in den Schatten zurückzukehren, damit am Ende das Leben hoffentlich siegt."
Sein Vater kann das Buch nicht mehr lesen. Mit 98 Jahren stirbt er an jenem Tag, an dem Richard Flanagan seinen Roman "The narrow road to the deep north" beendet.