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Literaturwissenschaftlerin zum Postfaktischen Diskurs
"Halbwahrheit macht die Lüge biegsam"

Bill Gates kontrolliert die WHO und Großbritannien muss monatlich 350 Millionen Euro an die EU überweisen - zwei Halbwahrheiten, die dennoch viele glauben. Halbwahrheiten blühten in Zeiten von Wissens- und Vertrauenskrisen, sagte die Autorin Nicola Gess im Dlf.

Nicola Gess im Corsogespräch mit Susanne Luerweg |
verschiedene Bilder von Ken Jebsen
Meister der Halbwahrheiten? Der Aktivist Ken Jebsen (www.imago-images.de )
Die Wahl Donald Trumps und die Debatten rund um den Brexit haben die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess bewogen, sich mit dem Thema Halbwahrheiten auseinanderzusetzen. "In diesen Wahlkämpfen war es egal, ob jemand die Wahrheit sagte, viel wichtiger waren Bauchgefühl und Ressentiments."
Gess wollte wissen, wie der postfaktische Diskurs funktioniert und "ich kam schnell darauf, dass Halbwahrheiten dafür eine wichtige Rolle spielen könnten. Sie schlagen die Brücke von einem faktenbasierten Diskurs zum Raum der Spekulation und auch der Fiktion."

Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Presse

Und ähnlich wie schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt auch der Hochstapler gerade eine Renaissance. Damals wie heute war der Hochstapler als Sozialfigur omnipräsent - vor Gericht, in der Presse, in der Literatur, im Film. "Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände führten zu einem andauernden Krisenbewusstsein und dazu gehörten in den 20er Jahren ein tiefes Misstrauen zu dem neuen politischen System, aber auch gegenüber Wissenschaft und Presse."
Obwohl viele Halbwahrheiten haarsträubend sind, wie die Behauptung, dass Melinda und Bill Gates die Weltgesundheitsorganistation kontrollieren und eine Impfdiktatur anstreben," gibt es sehr viele, die gern an die verdrehte Wahrheit glauben wollen, denn die wird so verdreht, dass sie einem bestimmten Publikum gefällt", sagt Gess. "Der Populist findet sein Popolus."

Aus Halbwissen werden Halbwahrheiten

Halbwahrheiten finden vor allem in schwierigen Zeiten einen Nährboden. "Halbwahrheiten blühen in der Zeit der Wissens-und Vertrauenskrisen. Also Zeiten, in denen Wissen fehlt, wie jetzt, wenn eine neue Pandemie auftritt und zugleich das Vertauen in Expertinnen und Experten bröckelt. Halbwahrheiten, bestätigt Gess, sind deshalb auch gefährlicher als Lügen. "Halbwahrheiten lassen sich schwerer widerlegen. Die Halbwahrheit macht die Wahrheit biegsam, öffnet sich für Spekulation und Fiktion."
Die sozialen Medien, die digitalen Echokammern, sind sehr geeignet "um Halbwahrheiten nicht nur in die Welt zu setzen, sondern sie auch zu verbreiten."
Nicola Gess: "Halbwahrheiten - Zur Manipulation von Wirklichkeit", Matthes & Seitz, S. 157, 14 Euro.