Die jetzt vorliegende Textsammlung erfasst die Arbeiten von Liu Xiaobo aus einem Zeitraum von 30 Jahren. Sie zeigt den Friedensnobelpreisträger als einen Denker, dessen profunde Analyse gesellschaftlicher Prozesse und politischer Bedingungen weit über chinesische Verhältnisse hinaus weist. Die wichtigste politische Botschaft Lius ist – neben seinem Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit – die Absage an einen raschen politischen Umsturz in China. Zwar wünscht er ihn sich, hält ihn jedoch unter den gegebenen Verhältnissen für unmöglich. Die Veränderung beginne nicht damit, dass man der herrschenden Nomenklatura die Macht entziehe, sondern mit einem Wandel innerhalb der Gesellschaft, also von unten nach oben, so Liu.
"Eine Revolution von unten nach oben braucht das Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft, braucht eine spontane, fortgesetzte und ungebrochen starke Bewegung des zivilen Ungehorsams und eine Rechtsschutzbewegung der Zivilgesellschaft. Das heißt aber auch, die Kraft der Zivilgesellschaft, die Freiheit und Demokratie fordert, verlangt keine vollständige Erneuerung der Gesellschaft durch radikale Veränderung des Regimes, sondern eine Veränderung des Regimes durch die allmähliche Veränderung der Gesellschaft."
Der Begriff Rechtsschutzbewegung ist in Lius politischer Theorie zentral. Der Autor weist wiederholt auf diese von Intellektuellen und Juristen seit den 90er-Jahren forcierte Bewegung hin, die er gleichzeitig als bewusstseinsbildenden Prozess einer Zivilgesellschaft versteht: Mut und Bereitschaft, gegen staatliche Maßnahmen vorzugehen, konstituieren bürgerliches Selbstbewusstsein. Der Untertan wird zum mündigen Bürger. Damit erklärt Liu auch, warum das Regime so brutal gegen Menschen vorgeht, die bei Petitionsausschüssen oder vor Gerichten ihre Rechte durchzusetzen versuchen.
Kritikern und damit auch zahlreichen namhaften chinesischen Dissidenten, die auf die schlichte Abschaffung des Regimes hin arbeiten, hält Liu entgegen:
"Irgendwelche programmatischen und aktionistischen Pläne, die auf eine schnelle Veränderung des politischen Systems in China und des gegenwärtigen Regimes aus sind, bauen Luftschlösser. Deshalb muss China im Transformationsprozess langsam voranschreiten und Rückschläge hinnehmen, und das für einen Zeitraum, der selbst konservative Schätzungen übersteigen könnte."
Lius Analyse ist auch deshalb so erhellend, weil er als wissenschaftlich ausgewiesener Kenner von europäischer Geistesgeschichte und westlicher Kultur argumentiert. Gerade deshalb kann er all denjenigen, die eine bloße Adaption der westlichen Demokratie in China als Lösung ansehen, entgegen halten:
"Eines der wesentlichen Kennzeichen der westlichen Kultur ist die Tradition der kritischen Vernunft. Eine wahrhaftige Verwestlichung bestünde nicht nur in einer kritischen Überprüfung der chinesischen, sondern viel mehr noch der westlichen Kultur."
Dies ist nicht die einzige Passage in diesem Buch, die sich mehrfach zu lesen lohnt. Jedem einseitigen China-Bashing wird genauso eine Absage erteilt wie jenen Kräften im Westen, die China als soziales Laboratorium für das 21. Jahrhundert bezeichnen. Gemeint ist mit solchen Ansätzen die Errichtung einer effizienten Diktatur als Antwort auf systemimmanente Demokratiemängel. Worauf solche Wunschvorstellungen
hinauslaufen, ist derzeit an der Entwicklung in Ungarn zu beobachten. Auch über solche Irrwege lässt Liu den Leser den Erkenntnisprozess nachverfolgen – ganz in der Tradition der kritischen Vernunft und mit Blick auf die ganze Welt.
In dieser umfassenden Zusammenschau finden sich zahlreiche Detailbetrachtungen, die einem besseren Verständnis Chinas dienen und als Zeichen für eine zunehmende Pluralisierung zu verstehen sind. Dazu zählen ausführliche Beschreibungen literarischer Entwicklungen, von Trivial- und Undergroundkultur bis hin zur genauen Analyse von Bedeutung und Funktion des politischen Witzes. Beim Stichwort "Pluralismus" hört man Liu allerdings beinahe laut Halt! rufen. Nein, dieser kulturelle Pluralismus ist noch kein Indiz für eine zunehmende Demokratisierung. So begrüßenswert, wie die Trivialisierung als Gegenbewegung zur staatlich verordneten Einheitskultur laut Liu auch sein mag: Sie kennzeichnet kein wachsendes bürgerliches Bewusstsein, sondern ist Ausdruck der inneren Leere besonders der jüngeren Chinesen.
"Die Dinge, denen die Nach-89-Generation, von Wohlstand und Pragmatismus aufgeweicht, ihre wesentliche Aufmerksamkeit gewidmet hat, haben mit tiefer Reflexion, hoher Menschlichkeit, nüchterner Politik, humanem Engagement und transzendenten Werten nichts zu tun. Was das gesellschaftliche Umfeld angeht, so hat die Ideologie der chinesischen Kommunisten dieses von der Geschichte abgetrennt und Generationen von Menschen geschaffen, deren Erinnerung völlig leer ist."
Die Teilhabe an dem, was Liu für erinnerungsnotwendig hält, wird durch die von der Herausgeberin Tienchi Martin-Liao offenbar mit großem Bedacht ausgewählten Texte ermöglicht. Wichtiger vielleicht noch: Es gelingt die Einordnung. Die innere Logik der restriktiven Politik des Regimes gegen die eigene Bevölkerung etwa leuchtet ebenso ein wie die gut begründete These, dass der urbane Mittelstand als Motor des gesellschaftlichen Wandels ungeeignet ist. Trotz seiner umfassenden Kritik an den herrschenden Verhältnissen richtet Liu nicht über die Chinesen.
"Man sollte nicht im Glauben an das eigene Heldentum den Anderen Vorwürfe machen. Denn auch wenn die moralische nicht das Gleiche ist wie die politische Nötigung, so ist sie doch von der vom Liberalismus geforderten Toleranz weit entfernt."
In seinen literarischen Texten zeigt sich der scharfe Beobachter, dem keine Nuance gesellschaftlicher Veränderung entgeht, als sensibler Schwärmer, der ganz ungeschützt sein Herz sprechen lässt, auch dabei wieder die Wirkungen der Despotie reflektierend. Nicht nur das macht diesen genialischen Friedensnobelpreisträger in seinen Texten zu einer Person, der man – bei aller Freude an scharfem Verstand und brillantem Humor - mit Liebe begegnen mag.
Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass. Ausgewählte Schriften und Gedichte von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Das Buch ist im S. Fischer Verlag erschienen, 411 Seiten kosten Euro 24,95.
"Eine Revolution von unten nach oben braucht das Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft, braucht eine spontane, fortgesetzte und ungebrochen starke Bewegung des zivilen Ungehorsams und eine Rechtsschutzbewegung der Zivilgesellschaft. Das heißt aber auch, die Kraft der Zivilgesellschaft, die Freiheit und Demokratie fordert, verlangt keine vollständige Erneuerung der Gesellschaft durch radikale Veränderung des Regimes, sondern eine Veränderung des Regimes durch die allmähliche Veränderung der Gesellschaft."
Der Begriff Rechtsschutzbewegung ist in Lius politischer Theorie zentral. Der Autor weist wiederholt auf diese von Intellektuellen und Juristen seit den 90er-Jahren forcierte Bewegung hin, die er gleichzeitig als bewusstseinsbildenden Prozess einer Zivilgesellschaft versteht: Mut und Bereitschaft, gegen staatliche Maßnahmen vorzugehen, konstituieren bürgerliches Selbstbewusstsein. Der Untertan wird zum mündigen Bürger. Damit erklärt Liu auch, warum das Regime so brutal gegen Menschen vorgeht, die bei Petitionsausschüssen oder vor Gerichten ihre Rechte durchzusetzen versuchen.
Kritikern und damit auch zahlreichen namhaften chinesischen Dissidenten, die auf die schlichte Abschaffung des Regimes hin arbeiten, hält Liu entgegen:
"Irgendwelche programmatischen und aktionistischen Pläne, die auf eine schnelle Veränderung des politischen Systems in China und des gegenwärtigen Regimes aus sind, bauen Luftschlösser. Deshalb muss China im Transformationsprozess langsam voranschreiten und Rückschläge hinnehmen, und das für einen Zeitraum, der selbst konservative Schätzungen übersteigen könnte."
Lius Analyse ist auch deshalb so erhellend, weil er als wissenschaftlich ausgewiesener Kenner von europäischer Geistesgeschichte und westlicher Kultur argumentiert. Gerade deshalb kann er all denjenigen, die eine bloße Adaption der westlichen Demokratie in China als Lösung ansehen, entgegen halten:
"Eines der wesentlichen Kennzeichen der westlichen Kultur ist die Tradition der kritischen Vernunft. Eine wahrhaftige Verwestlichung bestünde nicht nur in einer kritischen Überprüfung der chinesischen, sondern viel mehr noch der westlichen Kultur."
Dies ist nicht die einzige Passage in diesem Buch, die sich mehrfach zu lesen lohnt. Jedem einseitigen China-Bashing wird genauso eine Absage erteilt wie jenen Kräften im Westen, die China als soziales Laboratorium für das 21. Jahrhundert bezeichnen. Gemeint ist mit solchen Ansätzen die Errichtung einer effizienten Diktatur als Antwort auf systemimmanente Demokratiemängel. Worauf solche Wunschvorstellungen
hinauslaufen, ist derzeit an der Entwicklung in Ungarn zu beobachten. Auch über solche Irrwege lässt Liu den Leser den Erkenntnisprozess nachverfolgen – ganz in der Tradition der kritischen Vernunft und mit Blick auf die ganze Welt.
In dieser umfassenden Zusammenschau finden sich zahlreiche Detailbetrachtungen, die einem besseren Verständnis Chinas dienen und als Zeichen für eine zunehmende Pluralisierung zu verstehen sind. Dazu zählen ausführliche Beschreibungen literarischer Entwicklungen, von Trivial- und Undergroundkultur bis hin zur genauen Analyse von Bedeutung und Funktion des politischen Witzes. Beim Stichwort "Pluralismus" hört man Liu allerdings beinahe laut Halt! rufen. Nein, dieser kulturelle Pluralismus ist noch kein Indiz für eine zunehmende Demokratisierung. So begrüßenswert, wie die Trivialisierung als Gegenbewegung zur staatlich verordneten Einheitskultur laut Liu auch sein mag: Sie kennzeichnet kein wachsendes bürgerliches Bewusstsein, sondern ist Ausdruck der inneren Leere besonders der jüngeren Chinesen.
"Die Dinge, denen die Nach-89-Generation, von Wohlstand und Pragmatismus aufgeweicht, ihre wesentliche Aufmerksamkeit gewidmet hat, haben mit tiefer Reflexion, hoher Menschlichkeit, nüchterner Politik, humanem Engagement und transzendenten Werten nichts zu tun. Was das gesellschaftliche Umfeld angeht, so hat die Ideologie der chinesischen Kommunisten dieses von der Geschichte abgetrennt und Generationen von Menschen geschaffen, deren Erinnerung völlig leer ist."
Die Teilhabe an dem, was Liu für erinnerungsnotwendig hält, wird durch die von der Herausgeberin Tienchi Martin-Liao offenbar mit großem Bedacht ausgewählten Texte ermöglicht. Wichtiger vielleicht noch: Es gelingt die Einordnung. Die innere Logik der restriktiven Politik des Regimes gegen die eigene Bevölkerung etwa leuchtet ebenso ein wie die gut begründete These, dass der urbane Mittelstand als Motor des gesellschaftlichen Wandels ungeeignet ist. Trotz seiner umfassenden Kritik an den herrschenden Verhältnissen richtet Liu nicht über die Chinesen.
"Man sollte nicht im Glauben an das eigene Heldentum den Anderen Vorwürfe machen. Denn auch wenn die moralische nicht das Gleiche ist wie die politische Nötigung, so ist sie doch von der vom Liberalismus geforderten Toleranz weit entfernt."
In seinen literarischen Texten zeigt sich der scharfe Beobachter, dem keine Nuance gesellschaftlicher Veränderung entgeht, als sensibler Schwärmer, der ganz ungeschützt sein Herz sprechen lässt, auch dabei wieder die Wirkungen der Despotie reflektierend. Nicht nur das macht diesen genialischen Friedensnobelpreisträger in seinen Texten zu einer Person, der man – bei aller Freude an scharfem Verstand und brillantem Humor - mit Liebe begegnen mag.
Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass. Ausgewählte Schriften und Gedichte von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Das Buch ist im S. Fischer Verlag erschienen, 411 Seiten kosten Euro 24,95.