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"Liu Xiaobo ist unser Idol!"

Am kommenden Freitag wird der chinesische Dissident Liu Xiaobo in Oslo mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Liu wird die Medaille allerdings nicht entgegennehmen können, denn er sitzt in China gerade eine elfjährige Haftstrafe ab. Die chinesische Regierung hat wütend auf die Nobelpreisvergabe reagiert - ganz anders die kritische Internetszene, die seit Jahren Tabus in China aufweicht.

Von Mathias Bölinger |
    Für Chinas Internetszene war der 8. Oktober ein Tag der Freudentränen. In Peking war es bereits später Nachmittag, als das Nobelpreiskomitee in Oslo bekanntgab, dass der Dissident Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis erhalten sollte.

    "Die Journalisten sind rausgegangen und ich sitze hier im Teehaus und schluchze ganz leise",

    ... twitterte der Publizist Mo Zhixu, ein Freund Liu Xiaobos. Er hatte die Nachricht gemeinsam mit mehreren Internetaktivisten und zahlreichen ausländischen Journalisten in einem Teehaus in Peking abgewartet - gegenüber der Wohnung Liu Xiaobos, in der die Polizei dessen Ehefrau Liu Xia abschirmte. Und der bekannte chinesische Blogger, Michael Anti, der sich gerade in Japan aufhielt, schrieb:

    "Ich habe mitten in Tokio laut losgeheult – als Einziger."

    Die Regierung in Peking bereitete da schon ihre wütenden Repliken vor. Das Nobelpreiskomitee habe einen "Kriminellen" geehrt, eine Wahl, die das chinesische Volk niemals akzeptieren könne, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums nur wenig später.
    Doch damit wird er nicht das ganze chinesische Volk gemeint haben können. Zumindest nicht die, die sich an den Internetsperren vorbeitricksen und auf ausländischen Plattformen frei diskutieren. Sie stimmten schon bald einen völlig anderen Ton an: "Lasst Liu Xiaobo frei", hieß es in zahlreichen Mitteilungen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter immer fordernder.
    Die Erfindung von Twitter, wo jeder Nutzer Nachrichten in SMS-Länge absetzen kann, sei die wichtigste Errungenschaft in den letzten Jahren im chinesischen Internet, sagt der Publizist Mo Zhixu:

    "Menschen an verschiedenen Orten, in Peking, Guangzhou oder Shanghai, mit verschiedenen Interessen: Künstler, Journalisten, Anwälte oder Menschen, die sich mit Politik beschäftigen – alle sind jetzt auf Twitter. Die chinesische Zivilgesellschaft war immer sehr zersplittert – lauter kleine Inseln, wo jeder für sich blieb. Durch Twitter sind sie plötzlich zu einem Netzwerk geworden."

    Man kann Chinas Internet in zwei Zonen einteilen. Die meisten Chinesen haben Zugriff auf Zone 1, das zensierte chinesische Internet. Dort ist der Zugang zu regierungskritischen Seiten gesperrt. Soziale Netzwerke wie Youtube, Twitter oder Facebook sind nicht zugänglich.
    Wer ohne Zensur diskutieren will, der muss das staatlich kontrollierte Internet verlassen, muss sich mithilfe technischer Tricks in Zone 2 begeben. So wie Cui Weiping, Professorin an der Pekinger Filmuniversität:

    "An meiner Arbeitstelle würde ich nie die Dinge sagen, die ich auf Twitter sage. Und so geht es 90 oder 95 Prozent der Menschen auf Twitter."

    Auf Twitter diskutieren die Chinesen über Themen, über die nicht gesprochen werden darf: die Tibetfrage, die Menschenrechte, politische und soziale Missstände. Und auch, wenn China weltweit wohl die größte Internetpolizei unterhält – die Rede ist meist von 30.000 Beamten – kann diese nicht ganz verhindern, dass selbst im zensierten Internet immer wieder auch Berichte und Filme über das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens auftauchen.

    Dabei ist gerade dieses Thema ein absolutes Tabu in China. Lange war es so gefährlich, darüber zu reden, dass die meisten Eltern nicht einmal ihren Kindern davon erzählten. Wer heute um die Zwanzig ist, hat meist noch nie von den Studentenprotesten gehört – es sei denn, er ist im Internet darauf gestoßen. Auch das gibt es, sagt die Professorin Cui Weiping von der Pekinger Filmuniversität:

    "Vor Kurzem war ich mit einem Freund essen und wir sprachen über den 4. Juni. Da kam ein junger Kellner, sagte, er habe da eben an unserem Tisch ein heikles Wort gehört. Und dann erzählte er, dass auch er auf dem Tiananmen-Platz gewesen sei, in diesem Jahr am 4. Juni. Ich fragte ihn nach seinem Alter. 22, sagte er. Ich war neugierig, wollte wissen, wie er von dem Massaker erfahren hatte. Er antwortete, er habe es im Internet gelesen. Dann stellte er sein Tablett ab, und gab uns ein Foto: Es zeigte ihn auf dem Platz: ein Junge in blauen Jeans und einem weißen T-Shirt. Er hatte ein weißes T-Shirt angezogen, weil weiß die Farbe der Trauer ist. Ein 22-jähriger Kellner also, der im Netz von dem Massaker liest und sich dann entschließt, auf den Platz zu gehen – das ist es, was das Internet in China bewegen kann."

    Doch wie viele solcher Fälle gibt es? Und wie groß ist der Einfluss des Internets auf Chinas Gesellschaft tatsächlich?
    Michael Anti ist einer der bekanntesten Blogger in China, ein energischer Streiter für die Meinungsfreiheit. 30.000 Menschen haben seine Mitteilungen bei Twitter abonniert – damit gehört er zu den meistgelesenen Chinesen auf Twitter. Doch was sind 30.000 Nutzer im Vergleich zu den restlichen 400 Millionen Chinesen, die sich des offiziellen Internets bedienen?

    "Für mich ist es ist nicht so wichtig, möglichst viele Menschen zu erreichen. Das hat mit der Struktur unserer Gesellschaft zu tun. Die chinesische Gesellschaft ist eine elitäre Gesellschaft. Veränderungen wurden oft nur von wenigen herbeigeführt. Es ist wichtiger, die Richtigen zu erreichen, als Informationen möglichst vielen zugänglich zu machen."

    Die chinesische Regierung scheint das anders zu sehen. Sie verhindert mit ihrer Zensur, dass unliebsame Nachrichten auch die erreichen, die gar nicht danach suchen. Ein Beispiel: Kurz nach der Verkündung des Friedensnobelpreises blockierte sie das Wort "Nobelpreis". Die Mehrheit der Chinesen sollte nichts von Liu Xiaobo erfahren. Dass damit auch alle anderen Nachrichten über den Nobelpreis – etwa für Chemie, Wirtschaft oder Literatur – verschwanden, nahm sie dabei inkauf. Bis heute dürften die meisten Chinesen nicht wissen, wer Liu Xiaobo ist.
    Für die Internetszene ist der Rebell dagegen zum Idol aufgestiegen. Auf Twitter beschlossen viele Nutzer am 8. Oktober spontan, die Nachricht aus Oslo zu feiern. Michael Anti kündigte an, zu trinken "bis zum Bankrott". Und der Journalist Shi Feike schrieb:

    "Jemand aus Shanghai da? Wir feiern heute mit einem großen Essen. Das ist eine Einladung! Treffpunkt um sieben auf dem großen Platz des Volkes, am Brunnen vor dem Museum."

    Die Einladung wurde nicht nur von der Netzgemeinde gelesen. Am Treffpunkt wartete bereits die Polizei und nahm die gesamte Gesellschaft mit. Mehrere solcher Abendrunden, die den Nobelpreis feiern wollten, endeten direkt auf dem Polizeirevier. Shi Feike meldete sich erst spät nachts wieder.

    "Vor einer halben Stunde nach Hause gekommen. Macht Euch keine Sorgen mehr. Danke für die Anteilnahme. Nur schade, dass wir nicht essen waren."

    Viele, die zum engsten Kreis um Liu Xiaobo gezählt werden, wurden unter Hausarrest oder ständige Bewachung durch die Polizei gestellt – unter ihnen auch Mo Zhixu und Cui Weiping. Denn dass der Freiheit im Netz reale Grenzen gesetzt werden, weiß jeder Nutzer genau. Laut der Organisation "Reporter ohne Grenzen" sitzen derzeit 77 Chinesen für Äußerungen im Internet hinter Gittern. Michael Anti glaubt trotzdem nicht, dass ihm seine Aktivitäten gefährlich werden könnten.

    "Ich beschäftige mich mit Meinungs- und Pressefreiheit. Diese Themen stellen für die chinesische Regierung keine große Gefahr dar. Für gefährlich halten sie Leute wie Liu Xiaobo, die ihre gesamte Politik infrage stellen. Seine Kritik ist umfassend. Er ist ein sehr mutiger Mann, der uns anderen die Richtung weist."