"Rettet das Internet" – hinter diesem dramatischen Slogan versammeln sich derzeit Netzaktivisten, Social-Media-Nutzer und Influencer. Mit dem Hashtag "#savetheinternet" trommeln sie lautstark gegen die geplante EU-Urheberrechtsreform.
Die Proteste laufen schon seit längerem, wurden aber durch einen Brief der YouTube-Chefin Susan Wojcicki noch einmal verstärkt. Darin wandte sie sich am 22. Oktober an die Nutzer der Plattform und warnte vor den angeblich drastischen Folgen der Reform. Hunderttausende Jobs seien in Gefahr, zudem könnten Millionen Menschen daran gehindert werden, Videos online zu stellen.
Das Thema trifft einen Nerv
"YouTube ist mit Abstand die beliebteste Videoplattform, auch mit Abstand das beliebteste soziale Netzwerk in dieser Form, das es gibt, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, und da trifft man natürlich einen Nerv, wenn das an YouTube geht und wenn auf einmal diese Plattform vermeintlich in Gefahr steht", erklärte Mirko Drotschmann, Journalist und YouTuber, im Dlf.
Ein Anfang November veröffentlichtes Video zum Thema auf dem deutschen Kanal "Wissenswert" wurde über drei Millionen Mal geklickt. "YouTube wird schon bald nicht mehr so sein, wie es zuvor war. In einigen Monaten werden fast alle Kanäle, die wir kennen, lieben und immer wieder gucken, gelöscht werden", heißt es darin, "egal, wie groß und beliebt, niemand wird übrig bleiben, bis auf einige Kanäle von sehr großen Firmen."
Angst vor Zensur
Dass es für eine Plattform, die von Nutzern hochgeladene Inhalte monetarisiert, höchst kontraproduktiv wäre, die Mehrzahl der Kanäle zu löschen – dieser Widerspruch scheint vielen nicht aufzufallen. Stattdessen reihen sich unter dem Video unzählige verzweifelte Kommentare aneinander, zum Beispiel "Wenn das passiert, hat mein Leben keinen Sinn mehr" oder "Ihr zerstört die Zukunft für richtig viele Leute! Unverschämtheit !!!".
Auch die Tweets zum Thema sind hitzig, immer wieder ist von "Zensur" die Rede. Viele Fans scheinen davon auszugehen, dass ihre Lieblingskanäle nach der EU-Reform schließen müssen.
EU-feindliche Stimmung
"Die meisten, die sich da jetzt Sorgen machen, das sind Minderjährige", stellte Drotschmann klar. "Das sind Unter-18-Jährige, die das glauben, was da jetzt erzählt wird, und die jetzt plötzlich aufstehen und sagen, die EU ist schlimm und die Politiker sind alle doof." Ein großer Konzern wie Google, zu dem YouTube gehört, solle sich Gedanken machen, ob man das wirklich wolle.
Die Hysterie zeige auch, wie viel Macht die Influencer inzwischen hätten: "Diesen Videos wird geglaubt. Das wird gar nicht hinterfragt, es wird nicht noch einmal eine andere Quelle geprüft."
Upload-Filter sind umstritten
Die überwiegende Mehrzahl der Kommentare und Tweets geht auf die Hintergründe der Problematik gar nicht ein. Ziel der EU-Richtlinie ist es unter anderem, die Urheberrechte von Künstlern und anderen Rechteinhabern zu schützen. Deswegen sollen Plattformen wie YouTube in Zukunft für alle hochgeladenen Inhalte haften. Bei Urheberrechtsverstößen könnten die Konzerne mit hohen Strafzahlungen belegt werden.
Möglich ist, dass die Konzerne das Problem mit so genannten Upload-Filtern lösen werden, die jede Datei vor dem Hochladen überprüfen - genau das lehnen die Netzaktivisten ab. Der Begriff "Filter" kommt im bisherigen Richtlinienentwurf allerdings gar nicht mehr explizit vor. Zudem verhandeln die EU-Gremien bis Anfang nächsten Jahres noch über Einzelheiten.
Fraglich ist deshalb, welche konkreten Auswirkungen die Reform haben wird, wenn sie beschlossen wird. Urheberrechtskonforme Videos sind ohnehin nicht betroffen.
EU wehrt sich gegen Vorwürfe
Wie der Brüssel-Korrespondent des Dlf, Paul Vorreiter, im Oktober 2018 in @mediasres berichtete, ist auch ein ergänzender Passus im Gespräch. Wenn der in die Richtlinie aufgenommen werde, könnten Online-Plattformen von der Haftung für Online-Inhalte ausgeschlossen sein. Dazu müssten sie nachweisen, dass sie sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um Urheberrechtsverletzungen zu verhindern.
Wie das Portal "meedia" berichtet, wehrt sich die EU-Kommission unterdessen gegen die Kritik von YouTube. Demnach stellte ein Sprecher klar, YouTube-Nutzer könnten auch in Zukunft kreative Inhalte hochladen. Dass die EU gegen das Internet sei, sei "Unsinn".
Lobbyarbeit mit Unterstützung der Community
Hinter der vermeintlichen "Rettung des Internets" steckten, so Drotschmann, auch finanzielle Interessen. YouTube wolle sich in seiner bisherigen Geschäftspraxis nicht einschränken lassen und kurbele deshalb die Proteste weiter aktiv an. Auf einer eigenen Seite ruft der Konzern dazu auf, Videos zum Thema zu erstellen und EU-Abgeordnete zu kontaktieren.
Drotschmann zufolge betreibt der Google-Konzern damit klassische Lobbyarbeit - mit einem Unterschied: "Google hat natürlich ein ganz großes Plus: Sie haben unglaublich viele Leute, die sie als Stimme nutzen können."
"Ich würde mal behaupten, dass genau das geplant war"
Auch die YouTuber, die die dramatischen Videos online gestellt haben, profitieren unmittelbar von der Präsenz des Themas: Es bringt ihnen Tausende Klicks.
Mirko Drotschmann vermutet, dass der Konzern die Hysterie gezielt geschürt hat: "Ich würde mal behaupten, dass genau das geplant und beabsichtigt war. Dass man eben wollte, dass die Leute die Videos erstellen, da so ein bisschen Panik verbreiten und Stimmung machen", sagte er im Dlf. Auf seinem eigenen Kanal "MrWissen2go", der zum öffentlich-rechtlichen Netzwerk "funk" gehört, hat er ein Gegendarstellungsvideo mit dem Titel "Warum Youtube 2019 NICHT tot ist" gepostet - und damit das Panikvideo von "Wissenswert" vom Platz eins der YouTube-Trends verbannt.