Die Kronprinzenbrücke im Herzen Berlins führt nicht nur über die Spree, sie verbindet auch zwei Sphären: Auf der einen Seite der Brücke liegen Reichstag, Bundestagsbauten und Kanzleramt. Auf der anderen die Reinhardstraße, die inoffizielle Lobbypromenade der Hauptstadt. Dutzende Verbände und Interessengruppen haben dort ihre Repräsentanz - vom Bund der Steuerzahler bis zum Bundesverband deutscher Busfahrer.
Am 1. November wird die grüne Bundestagsabgeordnete Kerstin Andreae, bildlich gesprochen, die Brücke überqueren: Dann wird sie Hauptgeschäftsführerin des Bundes der Energie- und Wasserwirtschaft, BDEW. Was entgegnet sie Kritikern, die sagen, sie lasse sich nun ihre politischen Kontakte als Lobbyistin vergolden? "Vielleicht könnte man auch sagen: Sie nutzt dieses Wissen und die Kontakte, um was Gutes zu tun."
17 Jahre im Parlament, jetzt Lobbyistin
Etwas Gutes, das ist für Kerstin Andreae die Umsetzung von Energiewende und Kohleausstieg. Nach 17 Jahren im Bundestag ist sie nun Seitenwechslerin, verwandelt sich von der Politikerin Andreae in die Lobbyistin Andreae.
Bislang sprach die 51-Jährige in der Grünenfraktion zu wirtschaftspolitischen Themen, bald vertritt sie im politischen Berlin die Interessen von etwa 1.800 Energie- und Wasserversorgungs-Unternehmen. Ihr Wunsch, schon von anderen Seitenwechslern genannt: in die Praxis zu gehen.
"Das war auf jeden Fall ein Antrieb, dass ich die Möglichkeit bekommen habe, durch diese Hauptgeschäftsführung die Energiewende tatsächlich auch mit umzusetzen. Das ist sehr wichtig für Politikerinnen und Politiker, dass sie auch einmal umsetzen können, was sie sich eigentlich auch immer vorstellen und was sie für richtig halten. Deswegen war das für mich eine großartige Chance, das jetzt machen zu können."
Bundestagsabgeordnete sind Mandatsträger, keine Amtsträger: Sie können deshalb direkt wechseln.
Seitenwechsel machen oft Schlagzeilen
Timo Lange von der NGO Lobbycontrol allerdings fürchtet, dass der Eindruck entsteht, zwischen Politik und Lobbyarbeit existiere eine Drehtür.
"Man kann das natürlich immer für sich begründen, da kann ich meine Ziele besser umsetzen. Die Frage ist, welche Auswirkungen hat das auf die Demokratie, auf die Regeln, die wir haben wollen, auch einen gewissen Abstand einzuhalten, so eine gewisse kritische Distanz zu haben zu einer gewissen Branche insgesamt."
Gerhard Schröder als Nordstream-Aufsichtsrat, Ex-Kanzleramts-Staatsminister Eckart von Klaeden als Daimler-Lobbyist, Ex-Entwicklungsminister Dirk Niebel als Interessenvertreter des Rüstungskonzerns Rheinmetall: Schlagzeilenträchtige Seitenwechsel gab es schon viele.
Seit 2015 soll eine gesetzliche Karenzzeitpflicht solchen Wechseln zumindest die Unmittelbarkeit nehmen: Ehemaligen Bundesministern und Staatssekretären kann für bis zu anderthalb Jahre nach Ausscheiden untersagt werden, in die Privatwirtschaft zu gehen. Eine deutlich zu kurze Frist, sagt Lobbycontrol.
Keine Registrierungspflicht für Lobbyisten
Und auch wenn inzwischen einige Bundesländer vergleichbare Regeln eingeführt haben: Mögliche Interessenkonflikte gibt es auch in anderen politischen Gremien. Jüngst erst wurde Kohlekommissions-Chef Stanislaw Tillich Aufsichtsratsvorsitzender beim Braunkohle-Unternehmen Mibrag.
Timo Lange: "Es sieht natürlich von außen betrachtet nicht schön aus, wenn jemand, der eben noch über die Zukunft entschieden hat oder eine wichtige Rolle in diesem langen Verhandlungsprozess über die Zukunft der Kohle gespielt hat, dann zu einer interessierten Partei wechselt."
Es ist oft vor allem ein Eindruck, der an Seitenwechslern haften bleibt – und damit mindestens indirekt auch das Vertrauen in den politischen Stand schwächt. Einmal abgesehen davon, dass sie oft nicht nur wegen ihrer Sachkompetenz, sondern wegen ihrer Kontakte angeworben werden, werden Politiker von Unternehmen womöglich belohnt für gefällige Politik? Ob solche Fragen berechtigt sind oder nicht, ist vom Einzelfall abhängig. Doch der lässt sich oft nur schwer nachverfolgen.
Das ist in Kanada zum Beispiel anders: Dort existiert ein Beauftragter für Interessenkonflikte. Der kann Politiker rund um Nebentätigkeiten und Seitenwechsel-Pläne beraten, aber umstrittene Fälle auch untersuchen. Auch eine Registrierungspflicht für Lobbyisten wie in den USA oder Brüssel existiert in Deutschland noch nicht – dann könnte die Öffentlichkeit zumindest teilweise sehen, welcher Ex-Politiker sein Adressbuch wie nutzt.
Viele Lobbyisten-Mythen stimmen nicht
Größere Transparenz würden auch viele Wissenschaftler begrüßen. Einerseits weil das die Forschung vereinfachen würde. Aber auch, weil es den Lobbyismus als Teil des politischen Prozesses entmystifizieren würde. So argumentiert zumindest Thomas von Winter, der an der Universität Potsdam über Lobbyismus lehrt und in der Bundestagsverwaltung arbeitet:
"Alles, was ich nicht direkt sehen und beobachten kann, das nährt natürlich Spekulationen. Deswegen gibt es irgendwelche Mythen über Lobbyisten, die mal zu ein, zwei, drei, vier oder fünf Prozent berechtigt sein können, aber im Großen und Ganzen nicht. In der Realität ist es ja so, dass, ich sage mal, 80 Prozent der Aktivitäten der Lobbyisten darin bestehen, Informationen zu beschaffen, Informationen aufzubereiten."
Wege ins reguläre Berufsleben notwendig
Monika Griefahn sieht sich selbst nicht als Lobbyistin. Die ehemalige Greenpeace-Aktivistin, niedersächsische Umweltministerin und langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete berät seit einigen Jahren einen Kreuzfahrtkonzern in Umweltfragen – eine Tätigkeit, die angesichts der enormen Klimabelastungen durch die Kreuzfahrtindustrie durchaus Stirnrunzeln auslöste. Die 65-Jährige erinnert daran, dass Politikerkarrieren endlich sind, und erzählt von der Zeit, als sie 2009 ihr Bundestagsmandat verloren hatte.
"Ich hatte die Vorstellung, dass ich mit meiner Erfahrung – ich habe in NGOs gearbeitet habe, als Ministerin und als Parlamentarierin – vielleicht für Unternehmen eine interessante Gesprächspartnerin bin, und habe mich an verschiedene Personalberater gewandt. Die haben aber alle gesagt, ich sei nicht vermittelbar, weil ich zu explizit und exponiert wäre als Atomkraftgegnerin, als exponierte Frau, als jemand, der sich nicht einordnen kann."
Unstrittig ist in der Seitenwechsler-Debatte, dass es für Berufspolitiker einen Weg zurück in sogenannte reguläre Tätigkeiten geben muss. Dass Politiker aus Ämtern und Mandaten keinen wirtschaftlichen Vorteil ziehen sollten, ist ebenso Konsens. Doch was einen solchen Vorteil darstellt, welche Regeln das verhindern und ob bereits der Anschein genügt, um das Vertrauen in die Demokratie zu beschädigen: Dazu ist bislang in keiner Demokratie der Welt das letzte Wort gesprochen.