Bund und Länder haben sich auf einen Lockdown ab dem 16. Dezember geeinigt. Der Einzelhandel muss weitgehend schließen, die Kontaktbeschränkungen werden nur an Weihnachten gelockert, das öffentliche Leben wird heruntergefahren. Dies sei die Konsequenz daraus, dass das Coronavirus in Deutschland außer Kontrolle geraten sei, sagte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) im Deutschlandfunk. Die weniger eingreifenden Maßnahmen hätten nicht ausgereicht.
Wirtschaftlichen Stillstand verhindern
Die Frage, inwieweit sich der Lockdown auf das Wachstum im vierten Quartal dieses Jahres auswirke, werde erste Ende Januar beantwortet werden können, erklärte Altmaier. Er gehe aber davon aus, dass die Wirtschaftszahlen nicht sehr deutlich korrigiert werden müssten. Anders als im Frühjahr müssten jetzt keine Fabriken stillstehen, die Betriebe arbeiteten weiter. Möglich sei, dass Maßnahmen in anderen europäischen Ländern am Ende einen dämpfenden Effekt auf die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland hätten. "Ich bin mir aber relativ sicher, dass wir eine Rezession wie im Frühjahr diesmal nicht erleben werden", so Altmaier.
Gleichzeitig betonte er, dass die deutsche Wirtschaft auch nach der "größten Rezession der Nachkriegsgeschichte" im Frühjahr sehr schnell wieder in Gang gekommen sei. Die milliardenschweren staatlichen Hilfsmaßnahmen wirkten. "Ich habe noch nie ein Konjunkturprogramm erlebt, dass so passgenau gewirkt hat wie jetzt in diesem Jahr", sagte Altmaier. Deshalb habe er die Hoffnung, dass ein wirtschaftlicher Stillstand verhindert werden könne. Die wirtschaftliche Entwicklung im kommenden Jahr sei noch volatil, er glaube aber, dass mit einer "vernünftigen Entwicklung" zu rechnen sei.
Das Interview im Wortlaut:
Jörg Münchenberg: Herr Altmaier, wirtschaftliche, bildungspolitische und auch soziale Vollbremsung, ausgerechnet jetzt kurz vor Weihnachten. Ist das nicht auch letztlich das Eingeständnis, dass man mit dem "Lockdown light" einen massiven politischen Fehler begangen hat?
Peter Altmaier: Es ist zunächst einmal die Schlussfolgerung daraus, dass das Virus außer Kontrolle geraten ist, wie Markus Söder es zu Recht gesagt hat. Wir haben ja in den letzten Monaten mit Maßnahmen, die Rücksicht nehmen auf die Bildung, auf die soziale Situation, auf die wirtschaftlichen Belange auch des Einzelhandels und vieler anderer, zunächst einmal einige positive Erfolge erzielt. Aber wie in anderen Ländern auch sind die Infektionszahlen wieder gestiegen, zuletzt sehr steil. Heute Morgen lagen sie für gestern 40 Prozent über dem Niveau der letzten Woche. Wenn es in dem Tempo weiterginge, dann wären in einigen Wochen die Krankenhäuser überfüllt. Dann hätten wir große Auswirkungen auf das soziale, private, aber auch wirtschaftliche Leben. Deshalb mussten wir diese Maßnahmen ergreifen, weil die weniger eingreifenden Maßnahmen offenbar nicht ausreichend waren.
Münchenberg: Trotzdem, Herr Altmaier, macht die Politik, machen die Ministerpräsidenten, die Bundeskanzlerin jetzt ja genau das, was man ja noch vor Wochen eigentlich ausgeschlossen hatte: erneuter harter Lockdown, Schließung der Geschäfte, Schließung der Schulen. Da stellt sich ja schon ein Stück weit die Frage nach der Glaubwürdigkeit.
Altmaier: Es ist richtig, dass wir, als wir vor einigen Wochen die Beschlüsse gefasst hatten, von genau der anderen Seite kritisiert wurden. Dort wurde kritisiert, dass es immer noch zu weitgehende Einschränkungen gab, dass man mit anderen Maßnahmen vielleicht eher Erfolg gehabt hätte, ohne dass diese Maßnahmen benannt wurden. Und es haben jetzt diejenigen recht gehabt – dazu gehören viele auch aus der Medizin und aus der Wissenschaft -, die gesagt haben, wenn ihr den Mut habt, zu Anfang größere Einschränkungen zu verhängen, dann könnt ihr einen Anstieg der Infektionen eher verhindern als umgekehrt. Genau das hat sich als richtig herausgestellt. Das muss man auch anerkennen.
"Eine erneute Rezession verhindern"
Münchenberg: Also war Politik doch auch ein Stück weit zu mutlos?
Altmaier: Wenn Sie es vom Ergebnis her rechnen, ja. Das haben damals allerdings viele ganz anders gesehen. Ich habe ebenso wie auch jetzt wieder die Politik der Bundeskanzlerin sehr unterstützt, dass wir spürbar und deutlich reagieren, aber es war offenbar in der Vergangenheit noch nicht deutlich genug.
Münchenberg: Herr Altmaier, die Wirtschaft, den Einzelhandel treffen die neuen Maßnahmen empfindlich. Das Weihnachtsgeschäft ist ja essentiell für die Branche. Ist denn am Ende nicht doch mit einer neuerlichen Rezession zu rechnen?
Altmaier: Ich bin immer sehr vorsichtig mit Prognosen für die Zukunft. Im letzten Jahr haben wir erlebt, dass nach der größten Rezession vermutlich der Nachkriegsgeschichte im Frühjahr das Wachstum sehr schnell wieder in Gang gekommen ist. Wir hatten im dritten Quartal ein Wachstum von 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Darum haben uns viele beneidet. Es ist möglich! – Es ist möglich, wenn wir klug vorgehen, auch jetzt noch einmal die wirtschaftliche Substanz des Landes zu bewahren. Dazu gehören Hilfsmaßnahmen, dazu gehört, dass der Lockdown nicht immer wieder unendlich weit verlängert werden muss, weil wir nicht mutig genug sind. Dann können wir auch eine erneute Rezession verhindern. Aber ich muss es ganz deutlich sagen: Es hängt vom weiteren Verlauf der Dinge ganz entscheidend ab.
"Das ganze nächste Jahr ist volatil"
Münchenberg: Nun müssen Sie natürlich als Wirtschaftsminister auch immer ein bisschen Optimismus verbreiten. Es gibt aber viele Volkswirte die sagen, im vierten Quartal wird das Bruttoinlandsprodukt wohl weiter schrumpfen, einfach weil die Einschränkungen zu massiv sind und weil dieser Monat Dezember, was die Umsätze angeht, einfach zu wichtig ist.
Altmaier: Es gibt einen Lichtblick. Die allermeisten Fabriken und Betriebe haben weitergearbeitet. Im Frühjahr mussten sie stillstehen, weil es keine Ersatzlieferungen aus China, aus Asien, aus anderen europäischen Ländern gab. Dieses Mal haben wir die Lieferketten geschützt und es ist gelungen, einen kompletten industriellen Stillstand zu verhindern.
Der zweite Punkt ist: Es war ja gerade so, dass wir bis gestern zu diesem Beschluss mit Ausnahme der Gastronomie, der Hotellerie und der körpernahen Dienstleistungen fast alle anderen Wirtschaftsbereiche offengehalten haben. Die werden jetzt für zwei Wochen zum Ende des Jahres hin geschlossen. Das tut uns allen außerordentlich leid, weil wir wissen, dass damit für den Einzelhandel in den großen Städten enorme Schwierigkeiten und Probleme verbunden sind. Aber die Frage, inwieweit dies sich auf das Wachstum im vierten Quartal auswirkt, die werden wir Mitte, Ende Januar beantworten können, wenn die Zahlen vorliegen. Ich gehe davon aus, dass wir unsere Wirtschaftszahlen für das letzte Jahr nicht sehr deutlich werden korrigieren müssen, aber das ganze nächste Jahr ist in seiner wirtschaftlichen Entwicklung immer noch volatil. Das heißt, es kann sein, dass die Maßnahmen, die jetzt ja nicht nur in Deutschland, sondern auch um uns herum in Frankreich, in den Niederlanden, in Großbritannien, überall ergriffen worden sind, dass diese Maßnahmen am Ende noch mal einen dämpfenden Effekt haben. Ich bin mir aber relativ sicher, dass wir eine Rezession wie im Frühjahr diesen Jahres diesmal nicht erleben werden.
"Wellenbewegung verhindern"
Münchenberg: Trotzdem gelten die Maßnahmen jetzt erst mal bis 10. Januar. Es gibt aber doch einige, die sagen, die Frage ist, was wird danach sein. Oder droht dann, falls der harte Lockdown erst mal aufgehoben wird, doch wieder ein nächster harter Lockdown, sprich eine Wellenbewegung auch im kommenden Jahr? Und das Ganze würde sich natürlich massiv auf die Wirtschaft auswirken.
Altmaier: Wir wollen eine solche Wellenbewegung natürlich verhindern. Deshalb treffen sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten erneut am 5. Januar, um zu schauen, wie sich die Infektionslage bis dahin entwickelt hat. Wir werden dann entscheiden, wie es am 11. Januar weitergeht. Aber klar ist für mich jedenfalls: Solange die Infektionszahlen so steigen wie in den letzten zehn Tagen, solange praktisch alle Landkreise in Deutschland mit einer einzigen Ausnahme Hotspot geworden sind mit viel zu hohen Infektionen, so lange wird es ohne staatliche Maßnahmen nicht gehen. Das muss man ehrlicherweise sagen. Ich glaube, dass wir trotzdem jetzt das Beste aus der Situation machen, dass wir versuchen, über Weihnachten auch Kraft zu schöpfen für das, was im nächsten Jahr an Herausforderungen kommt. Es ist weder richtig, Panik zu verbreiten, noch ist es richtig, den Menschen Erleichterungen in Aussicht zu stellen, von denen wir nicht wissen, ob wir sie leisten können.
Münchenberg: Herr Altmaier, da wollte ich kurz einhaken. Sie haben ein neuerliches Konjunkturprogramm ja schon ausgeschlossen. Aber ist das klug, angesichts der doch, wie Sie selber sagen, sehr volatilen Lage?
Altmaier: Ich habe gesagt, wir haben seit dem März dieses Jahres mehrere hundert Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um Familien mit Kindern zu helfen, um Arbeitnehmern zu helfen, damit sie nicht arbeitslos werden, mit Kurzarbeitergeld, um Unternehmen zu helfen, dass sie weiter existieren und bestehen können. Das alles hat ja auch gewirkt, Gott sei Dank. Ich habe noch nie ein Konjunkturprogramm erlebt, das so passgenau gewirkt hat, wie jetzt in diesem Jahr. Deshalb hoffe ich und glaube ich, dass wir mit einer vernünftigen wirtschaftlichen Entwicklung auch im nächsten Jahr rechnen können. Das ist kein Ausschluss, darüber entscheidet auch nicht ein einzelner Politiker, aber ich habe die Hoffnung, dass es uns in dieser zweiten Welle gelingt, einen kompletten wirtschaftlichen Stillstand zu verhindern. Das ist ja auch gestern nicht beschlossen worden. Wir haben gestern vor allen Dingen das Ziel gehabt, die Zahl der sozialen Kontakte zu reduzieren, weil die Wissenschaftler uns sagen, dass dies der Schlüssel ist, um Infektionszahlen zu ermäßigen.
"Dem Einzelhandel helfen"
Münchenberg: Trotzdem, Herr Altmaier, sind die Prognosen für nächstes Jahr nicht so günstig. Viele Experten, zum Beispiel auch die Bundesbank erwartet mehr Firmenpleiten. Geschäfte werden mehr ins Internet abwandern. Das wird man natürlich durch die jetzigen Maßnahmen beschleunigen. Menschen werden auch ihren Job verlieren. Da ist ja schon die Frage: Kommt da auf den Bund finanziell nicht doch wieder einiges zu über das hinaus, was man sowieso schon plant?
Altmaier: Wir haben uns, weil wir die letzten 10, 15 Jahre eine vernünftige ausgewogene Finanzpolitik gemacht haben, Spielräume, um zu handeln, wo Handeln notwendig ist. Trotzdem ist es richtig, dass jeder Eingriff des Staates wiederum zu weiteren Eingriffen führt, und deshalb wollen wir zum volkswirtschaftlich normalen Zustand dann zurückkehren, wenn die Pandemie es erlaubt. Der Chef der Wirtschaftsweisen hat heute Morgen gesagt, dass er damit rechnet, dass der Aufschwung leicht gedämpft wird, aber weitergehen kann. Wir werden sehen, wie sich die Entwicklung gestaltet. Was ich auf jeden Fall für notwendig halte ist, dass wir dem Einzelhandel, den Geschäften und den Läden in den Innenstädten, dort wo die Menschen normalerweise gerne shoppen mit ihren ganzen Familien, dass wir denen helfen, denn die sind in der Tat unter verschiedenen Gesichtspunkten unter Druck.
Münchenberg: Da sagt der Einzelhandel aber auch, das was jetzt beschlossen ist reicht nicht.
Altmaier: Ja. Wir haben allerdings klar mit allen 16 Ministerpräsidenten in der gesamten Bundesregierung gesagt, als wir im November und Dezember nur wenige Branchen geschlossen haben, etwa die Gaststätten, da haben wir gesagt, dann muss es eine besonders außerordentliche Unterstützung für diese Branchen geben. Die anderen können ja ihre Arbeit fortsetzen. Jetzt gilt es praktisch für alle Geschäfte in der Innenstadt, mit Ausnahme des Lebensmittel-Einzelhandels und einiger weniger anderer. Dann ist es wieder richtig, dass wir eine Lösung finden, die auch für alle gleichermaßen gilt. Wir haben diese Überbrückungshilfen stark verbessert und stark ausgebaut und deshalb bin ich überzeugt, dass sie für die allermeisten Unternehmen eine wichtige Entlastung sind und dass sie auch angenommen werden und funktionieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.