Das eigene Zuhause muss sich in diesen Tagen mehr und mehr anfühlen wie eine Gefängniszelle. Die mehr als 25 Millionen Menschen in Shanghai dürfen ihre Wohnungen seit Ende März nicht verlassen – „auf unbestimmte Zeit“, wie es seitens der chinesischen Regierung noch immer heißt. Überwachungsdrohnen patrouillieren in den Wohnvierteln und fordern die Menschen per Lautsprecher dazu auf, die Straßen zu verlassen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist schwierig. Zwar sollen Lieferanten Lebensmittelpakete zu den Menschen bringen, in einigen Teilen der Stadt kommt es dabei allerdings immer wieder zu Engpässen. Selbst die chinesischen Staatsmedien berichten von „Schwierigkeiten“ bei der Versorgung.
Im Internet kursieren Videos von Plünderungen und Protesten, andere Menschen versammeln sich an ihren Fenstern und rufen sich gegenseitig Solidaritätsbekundungen zu. Auch wenn die Echtheit dieser Aufnahmen nur schwer zu überprüfen ist, ist klar: Der Unmut wächst. Denn auch die Versorgung mit Medikamenten funktioniert nicht. Es gibt Berichte über chronisch Kranke, die in ihren Wohnungen gestorben sind, weil sie ihre Medizin nicht rechtzeitig erhalten haben.
Kinder wurden von ihren Eltern getrennt
Wer positiv auf das Coronavirus getestet wird, wird mit dem Bus in eine staatliche Isolationseinrichtung gebracht. Dort werden die hygienischen Zustände zum Teil als katastrophal beschrieben.
Außerdem hatte es erhebliche Kritik daran gegeben, dass infizierte Kinder von ihren Eltern getrennt und alleine in Einrichtungen gebracht worden waren. Das französische Konsulat schrieb im Namen der EU-Mitgliedsstaaten an die Regierung in Shanghai und protestierte gegen dieses Vorgehen. Inzwischen haben die Behörden eingelenkt: Eltern dürfen ihre Kinder begleiten, wenn sie vorher erklären, sich auf eigenes Risiko in die Isolationseinrichtungen zu begeben.
Maßnahmen sollen gelockert werden
Obwohl die Infektionszahlen weiter steigen, haben die Behörden nun erste Lockerungen angekündigt. Manchen Einwohnern wurde gestattet, ihre Häuser zu verlassen, um Besorgungen zu erledigen. Auch einige Märkte und Apotheken sollen wieder öffnen. Die Wohngebiete wurden in drei Risikokategorien unterteilt, um Einwohnern in den Gebieten, in denen innerhalb von zwei Wochen keine positiven Fälle aufgetreten sind, wieder die Möglichkeit, zu „angemessenen Aktivitäten“ in ihren Vierteln zu geben.
Dennoch gab die US-Botschaft heute bekannt, Mitarbeiter aus Shanghai abzuziehen. Ein Sprecher der Botschaft teilte mit, US-Diplomaten hätten chinesischen Vertretern gegenüber „Bedenken über die Sicherheit und das Wohlergehen von US-Bürgern“ angesprochen. Bereits zuvor hatten die Vereinigten Staaten ihre Bürger wegen der harten Maßnahmen davor gewarnt, nach China zu reisen. Die chinesische Regierung hatte empört reagiert.
Eine gescheiterte Strategie?
Die chinesische Regierung verfolgt seit dem ersten Auftreten des Coronavirus in Wuhan eine strikte Null-Covid-Strategie. Das bedeutet, dass Maßnahmen wie Ausgangssperren, Massentests oder Abschottung von Städten verhängt werden, wenn auch nur einzelne Fälle auftreten. Mit dieser Strategie waren die Behörden lange erfolgreich – die höhere Ansteckungsfähigkeit der Omikron-Variante des Virus scheint nun aber die Karten neu zu mischen.
Nach Angaben der Behörden verlaufen die meisten Neuinfektionen bisher ohne Symptome. Da die in China verwendeten Impfstoffen allerdings nur unzureichend gegen die Omikron-Variante schützen, könnte sich dies möglicherweise bald ändern. Und: Ein massiver Ausbruch in China könnte – abgesehen von wirtschaftlichen Schäden – auch für uns konkrete Folgen haben. Der Virologe Christian Drosten warnte bereits Ende vergangenen Jahres vor dem Entstehen neuer Varianten durch sehr hohe Infektionszahlen in China.