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Lockdown-Maßnahmen
BDI-Chef: "Wir müssen das Leben in einem Industriestaat aufrechterhalten"

Es sei richtig, die Industrie weitgehend vom Lockdown auszunehmen, sagte der Präsident des Bundesverband der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, im Dlf. Denn ein Monat Industrielockdown führe zu zwei Monaten Produktionspause. Wie stark die Industrie zum Infektionsgeschehen beitrage, sei hingegen unklar.

Siegfried Russwurm im Gespräch mit Sandra Schulz |
Fahrerkabinen von "Multicar"-Fahrzeugen stehen im Werk Waltershausen der Hako GmbH in einer Produktionshalle.
Produktion von Multicar-Fahrzeugen (picture alliance/dpa/Martin Schutt)
Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder haben sich auf die Verlängerung des Lockdowns zur Eindämmung der Corona-Pandemie bis zum 14. Februar verständigt. Anders als im Vorfeld zum Teil befürchtet, wurden die Maßnahmen nur unwesentlich verschärft. Im ÖPNV und in Geschäften müssen nun FFP2-Masken oder andere medizinische Masken getragen werden. Die Produktion in der Industrie soll dagegen weiterlaufen.
Lockdown verlängert - Heftiger Streit beim Umgang mit Schulen Bund und Länder haben sich auf einer Verlängerungen der Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bis zum 14. Februar verständigt, die Maßnahmen wurden nur unwesentlicht verschärft. Uneinigkeit herrschte beim Umgang mit den Schulen.
Das sei richtig, sagte der Präsident des Bundesverband der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, im Dlf: "Es ist gelungen von einer Symbolpolitik Abschied zu nehmen, die sagt, wir müssen jetzt die Industrie vollständig schließen."
Ein Lockdown für die Industrie sei ein Szenario, das man auch durch Planung nicht gut gestalten könne. "Wenn wir diese Warenströme mal unterbrechen, dann dauert das Wochen, um wieder in einen Normalzustand zu kommen", sagte Russwurm. Die Industrie sei der größte Wirtschaftssektor der Bundesrepublik, in dem acht Millionen Menschen arbeiteten. "Wir Müssen das Leben in einem Industriestaat aufrechterhalten."
Auf einer Schultafel steht mit Kreide geschrieben LOCKDOWN VERLÄNGERUNG. 
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Den Schaden eines Industrie-Lockdowns könne man gut quantifizieren: Das Bruttoinlandsprodukt würde demnach etwa fünf Prozentpunkte verlieren. Der Beitrag der Industrie zum Infektionsgeschehen sei hingegen bisher nicht klar zu benennen.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm spricht auf der Hauptversammlung von Thyssenkrupp.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm begrüßt die Entscheidung gegen einen Lockdown für die Industrie (picture alliance/dpa/Rolf Vennenbernd)

Homeoffice nicht unbegrenzt möglich

Der BDI appelliere schon länger darauf, dass Unternehmen Homeoffice ermöglichen. Es sei aber durchaus nachvollziehbar, dass in der zweiten Welle weniger Menschen im Homeoffice arbeiten als in der ersten Welle. Die Unternehmen hätten "große Summen investiert, um die unverzichtbaren Arbeitsplätze sicherer zu machen." Teams in Produktionsstätten würden beispielsweise in wechselnden Schichten und festen Teams arbeiten.
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Es gebe aber dennoch durchaus Unternehmen, die mehr Homeoffice ermöglichen könnten. Das betreffe dann insbesondere administrative Tätigkeiten. Doch in vielen Abteilungen sei Homeoffice nicht möglich und die Entscheidung welcher Arbeitsplatz im Homeoffice möglich ist, könne nur vor Ort von den Unternehmen selbst getroffen werden.

Das vollständige Interview im Wortlaut:

Sandra Schulz: Wie schauen Sie auf die Entscheidungen von gestern?
Siegfried Russwurm: In diesen Entscheidungen sind viele sehr positive Aussagen für die Industrie drin. Es ist gelungen, von einer Symbolpolitik Abschied zu nehmen, die sagt, wir müssen jetzt die Industrie vollständig schließen. Stattdessen gibt es abgewogene Veränderungen.
Und ganz wichtig: Es ist der Weg hin zu einer stärker evidenzbasierten Entscheidung. Da sind wichtige Elemente drin. Jetzt gilt es, die Details zu klären, wie denn die Umsetzung der Sachen passieren soll, die die Industrie treffen.
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Schulz: Werden die Unternehmen Ihres Verbandes denn jetzt mehr Homeoffice anbieten?
Russwurm: Der Appell von uns, von allen Unternehmensverbänden an ihre Mitglieder, mobiles Arbeiten soweit wie irgend möglich zu realisieren, der steht ja schon. Das wurde gestern noch mal verstärkt, ganz klar. Der entscheidende Passus heißt, wo es möglich ist. Und diese Entscheidung, was denn wirklich sachlich möglich ist, die muss vor Ort in den Betrieben zwischen den Betriebsparteien passieren.

"Arbeiten wieder möglich unter sicheren Bedingungen"

Schulz: Mit Appellen hat es vorher ja auch die Politik versucht. Wie erklären Sie es sich, dass wir jetzt diese Beobachtung haben, dass in dieser zweiten Welle, die als eigentlich sehr viel gefährlicher gilt, dass da deutlich weniger Menschen im Homeoffice arbeiten als in der ersten Welle im Frühjahr?
Russwurm: Inwieweit es deutlich weniger sind, da gibt es unterschiedliche Zahlen. Aber dass es weniger sind, ist für mich durchaus nachvollziehbar. Wir waren alle im März und April im Schock. Möglichst viele Leute waren weg von ihren Arbeitsplätzen, weil nicht klar war, wie das Arbeiten unter Pandemie-Bedingungen geht. Seitdem haben die Unternehmen aber große Summen investiert, um die unverzichtbaren Arbeitsplätze sicherer zu machen. Da ist ganz viel passiert in den Fabriken und damit wurde natürlich auch Arbeiten wieder möglich unter sicheren Bedingungen. Insofern würde mich der Trend nicht wundern.
Schulz: Wobei ja offenkundig jetzt diese Pflicht erst wieder verhängt werden muss. Das ist ja schon ein Widerspruch, dass wir immer wieder hören, die Unternehmen machen alles, was möglich ist, und trotzdem scheint da – noch mal der Verweis auf die Mobilitätsdaten – noch Luft nach oben zu sein.
Russwurm: Man muss hier sauber unterscheiden, wie unterschiedliche Gruppen von Arbeitsplätzen damit umgehen. Gibt es welche, die eher administrativen Charakter haben, wo das mit dem Homeoffice gut geht? – Ja, die gibt es und da ist auch Luft nach oben. Das will ich gar nicht bestreiten, dass es einzelne Unternehmen gibt, die da mehr tun können.
Dann gibt es den Teil auf der anderen Seite der Skala, die ganz sicher nicht im Homeoffice arbeiten können, in der Produktion, aber auch in vielen Entwicklungsabteilungen, wo Du im wahrsten Sinne des Wortes die Hand an das Objekt Deiner Arbeit legen musst.
Und dann gibt es den Bereich dazwischen, wo wir mit den Einschränkungen leben, wo wir mit Kompromissen leben. Noch mal: Es ist Luft nach oben, aber die Entscheidung, in welche Kategorie ein Arbeitsplatz fällt, die kann nur vor Ort getroffen werden.

"Das Leben aufrecht zu erhalten in einem Industriestaat"

Schulz: Was denken Sie denn, welchen Beitrag könnte die Industrie, jetzt mal abgesehen vom Homeoffice, leisten, um die Pandemie weiter einzudämmen?
Russwurm: Noch mal: Sie leistet ganz viel. Sie stabilisiert auch unsere Volkswirtschaft. Das sollte man nie vergessen dabei. Wir werden weiterhin alles tun in den Unternehmen, um das Arbeiten sicher zu machen. Aber gleichzeitig zum Beispiel auch Logistikströme aufrecht zu erhalten, das Leben aufrecht zu erhalten in einem Industriestaat, das muss jenseits von Symbolpolitik passieren.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Schulz: Wir haben gerade vor sieben Uhr im Interview mit dem Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft den Appell gehört, dass in der Produktion möglichst Schichten flexibilisiert werden sollten, dass es nicht die Situation in Stoßzeiten gibt, zu viele Menschen in einem Bus, in einer Bahn. Was ist da Ihre Antwort drauf?
Russwurm: Das passiert in den Unternehmen ganz oft, an ganz vielen Stellen – nicht nur in der Produktion. Es gibt inzwischen zwei Teams oder drei Teams, die sich auch in der Schichtübergabe nicht mehr treffen, um, wenn es denn ein Ausbruchsgeschehen gibt, wenn jemand aus seinem Umfeld infiziert in die Arbeit kommt, nicht die gesamte Belegschaft anzustecken. Da gibt es sehr ausgefuchste Pläne bei unseren Unternehmen. Das geht aber natürlich auch ums ganz persönliche Verhalten. Wer jahrzehntelang gewohnt ist, zu gewissen Zeiten zur Arbeit zu fahren, der muss sich jetzt ganz persönlich umstellen.

"Dauert Wochen, um wieder in einen Normalzustand zu kommen"

Schulz: Wir sind jetzt schon bei der Situation in der Produktion. Sie haben gerade zu Beginn des Gesprächs gelobt, dass es diese Diskussion jetzt nicht weiter gegeben hat um einen Lockdown auch in der Produktion. Das sind einzelne Stimmen, die das im Moment fordern, offensichtlich gestern zumindest keine Mehrheitsmeinung. Aber dass das kommen kann, darauf stellen Sie sich schon ein?
Russwurm: Darauf können wir uns nicht einstellen. Was wir klar sagen können, wie dramatisch die Auswirkungen wären. Acht Millionen Menschen, die in der produzierenden Industrie arbeiten, wenn man die zwangsweise nachhause schickt, wenn man das einstellt, das ist nicht wie ein Garagentor öffnen und schließen. Wir wissen ganz klar: Wenn wir die Warenströme mal unterbrechen, wenn wir die Prozesse unterbrechen, dann dauert es Wochen, um wieder in einen Normalzustand zu kommen. Und wir können ganz gut abschätzen, was es denn volkswirtschaftlich heißt, wenn dieser größte Wirtschaftssektor in der Bundesrepublik für viele Wochen eingeschränkt ist. Insofern: Den Schaden, den können wir quantifizieren. Solange es keine Evidenz gibt, dass die Unternehmen wirklich einen signifikanten Anteil am Infektionsgeschehen haben, ursächlich haben, wäre es Wahnsinn, auf Verdacht ein try and error zu machen und zu sagen, jetzt probieren wir es halt mal und schließen die Industrie, wird schon hoffentlich helfen.

"Fünf Prozentpunkte im Bruttoinlandsprodukt sind da schnell beieinander"

Schulz: Wie quantifizieren Sie den Schaden denn?
Russwurm: Ich mache da eine einfache Bierdeckelrechnung, wie ich immer sage. Die Industrie und die industrienahen Dienstleistungen sind 30 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Wenn Sie die für einen Monat schließen, meine ich aus meiner Erfahrung, dass es einen zweiten Monat dauert, bis das wieder zum Laufen kommt – mindestens. Wir sind nicht in der Urlaubszeit des Sommers, wir sind nicht in Weihnachtsferien. Also heißt meine Daumenregel, das sind 20 Prozent des Jahres mal 30 Prozent des BIP, also sechs Prozent BIP. Jetzt nehme ich ein bisschen weg, weil der ramp up nicht ganz auf null geht. Aber fünf Prozentpunkte im Bruttoinlandsprodukt sind da schnell beieinander. Und dann kippt eine Prognose, die wir vor einigen Tagen erhalten haben, dass im Jahr 2021 unser Bruttoinlandsprodukt wieder wachsen kann in einer Größenordnung von dreieinhalb Prozent, ganz schnell ins Negative, auch wenn jemand nur für wenige Wochen schließt.
Schulz: Das ist vollkommen klar, dass Sie jetzt konkrete Kosten zumindest im Wege einer Schätzung anbringen können. Wir wissen auf der anderen Seite, dass es auch Kosten verursacht, wenn Schulen zu sind. Schulen werden jetzt absehbar, wenn wir den Zeitraum bis Mitte Februar veranschlagen, auch acht Wochen zu sein. Ihr Argument ist, weil Sie Ihre Kosten jetzt konkret veranschlagen können, und weil die Kosten bei Bildungseinschnitten irgendwann in der Zukunft liegen, deswegen ist das jetzt aktuell gewichtiger? Oder erklären Sie es vielleicht noch mal genauer. Warum ist es gravierender, wenn vier Wochen keine Autos gebaut werden, als wenn vier Wochen Erstklässler nicht im Klassenzimmer sitzen?
Russwurm: Frau Schulz, es macht keinen Sinn, jetzt einzelne Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuwiegen. Sind die Einschränkungen an den Bildungseinrichtungen in den Schulen schwer? – Gar keine Frage. – Sind die Einschränkungen in der Gastronomie, im Kulturbereich schwer? – Das ist überhaupt keine Frage. Nur müssen wir zu einer evidenzbasierten Strategie kommen. Wir müssen verstehen, wie das Ausbreitungsgeschehen ist, und dann konkret dort eingreifen, wo wir ein Problem lösen können. Bisher gibt es keine Evidenz dafür, dass die Industrie da ein Problem war.

"Auswirkungen auf das Industrieland Deutschland wären wirklich immens"

Schulz: Das Argument haben wir eben auch schon in dem Interview besprochen. Das bringen ja nun alle Gruppen vor. Alle sagen, solange es bei uns nicht bewiesen ist, möchten wir offen bleiben. Nur, dass jetzt die Erfahrung ist, die anderen sind geschlossen und Sie offen.
Russwurm: Noch mal: Die Auswirkungen auf das Industrieland Deutschland wären wirklich immens, auch nicht einfach aufholbar. Und deswegen: Try and error geht da nicht. Hope is not a Strategy. – Übrigens unterstelle ich auch nicht, dass jemand auf gut Glück mal die Schulen schließt, sondern da gibt es ja auch die Notwendigkeit, das besser zu verstehen, besser zu verstehen, welche Altersgruppen denn in dem Infektionsgeschehen einen erheblichen Beitrag leisten. Aber das Papier von gestern weist ja in die richtige Richtung: Mehr Sequenzierung, besser zu verstehen, wie für neue Viren-Mutationen die Ausbreitung funktioniert. Das ist ja genau der richtige Ansatz.
Schulz: Das wollte ich auch nicht unterstellen. Ich stelle nur fest, die Schulen sind geschlossen. – Jetzt wollte ich mit Ihnen noch über einen konkreten Punkt sprechen, der ja nun auch in dieser Pandemie, in diesen Tagen immer wieder genannt wird. Wir hören, dass es Engpässe gibt, weil wieder Lieferketten brüchig werden. Es geht da jetzt im Moment um Chips in der Autoproduktion. Wie ernst ist das?
Russwurm: Dieser Engpass hat nach meinem Wissen nichts mit der Pandemie zu tun, sondern maßgeblich damit, dass der Handelskonflikt zwischen USA und China weiter eskaliert und damit chinesische Abnehmer dieser Chips sich massiv bevorratet haben und das mit relativ kurzen Vorwarnzeiten für die Hersteller. Das hat mit der Pandemie nichts zu tun. In der Pandemie geht es bei den Logistikketten eher darum, dass wir die Grenzen offen halten, insbesondere für den Warenverkehr.
Schulz: Noch ein anderer Punkt, der sicherlich heute Morgen viele interessiert. Wir haben diese Pflicht, die jetzt neu kommt, zu medizinischen Masken. Das sind die FFP2-Masken und auch diese sogenannten OP-Masken. Viele machen jetzt die Erfahrung, wenn sie solche Masken bestellen wollen, dass es da erhebliche Lieferzeiten gibt. Sind da die deutschen Unternehmen aufgestellt? Können die da schnell liefern?
Russwurm: Das wird sich einspielen, glaube ich, in relativ kurzer Zeit. Die Ankündigungen, begonnen in Bayern, dass diese FFP2-Masken Pflicht sind, die haben natürlich zu einem Run geführt. Ich habe auch sofort geguckt, wie viele habe ich denn und muss ich denn bestellen für meinen privaten Gebrauch. Das wird sich, glaube ich, relativ kurzfristig einspielen. Die Masken gibt es ja. Die müssen halt in der Logistikkette jetzt vernünftig verteilt werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.