Noch ist nicht ganz klar, was Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow mit seiner Ankündigung zur Lockerung der Corona-Maßnahmen in seinem Bundesland meint. Am Wochenende erklärte der Linken-Politiker an, dass Thüringen ab dem 6. Juni auf allgemeine Corona-Schutzvorschriften verzichten werde. Details der Pläne sind zwar noch nicht bekannt, dennoch wird der Vorstoß von verschiedener Seite kritisiert. Unter anderem wird davor gewarnt, das Erreichte im Kampf gegen SARS-CoV-2 leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Es gibt aber auch Verständnis für Ramelows Vorstoß, zum Beispiel von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. "Wenn man weiter vorsichtig ist und notfalls auch diese Lockerungsmaßnahmen wieder zurücknimmt, dann ist das Risiko nicht unvertretbar", sagte der CDU-Politiker. Der Co-Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion Dietmar Bartsch verteidigte im Dlf-Interview seinen Parteikollegen Ramelow und dessen Ansatz für einen Weg aus dem Krisenmodus: Weg von Verboten und staatlichem Zwang hin zu Geboten und Eigenverantwortung.
Eigenverantwortung der Bürger sei zweifellos wichtig und richtig, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann im Dlf, sie reiche jedoch nicht aus, wenn sich andere rücksichtlos verhielten. Deswegen brauche es zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie nach wie vor ein Mindestmaß an staatlichen Geboten und Verboten, so der CSU-Politiker. Dabei sei es sinnvoll, dass es weiterhin eine möglichst gemeinsame Grundlinie in Deutschland gebe. Auch Ramelow habe das inzwischen offenbar einsehen, und rudere nun bereits zurück.
Das Interview in voller Länge:
Christine Kaess: Bleiben Sie dennoch gelassen, angesichts der geplanten Schritte im Nachbarbundesland?
Joachim Herrmann: Ich halte das, was Bodo Ramelow jedenfalls am Samstag erklärt hat, für wirklich nicht zu verantworten. Wenn er davon sprach, auf landesweite Corona-Schutzvorschriften insgesamt zu verzichten, dann ist das in der Tat ein Signal an die Bürgerinnen und Bürger, das so nicht hingenommen werden kann. Damit wird der Eindruck erweckt, als ob wir überhaupt keine Probleme mehr hätten, dass es nur noch ganz kleine lokale Probleme gäbe, die die Kommunen selber lösen könnten, und die Länder bräuchten sich nicht mehr darum kümmern.
Thüringen hat insgesamt weniger Fälle als beispielsweise wir in Bayern. Das ist gar keine Frage. Trotzdem jetzt solche Signale auszusenden, halte ich für nicht nur ausgesprochen unklug, sondern auch für nicht verantwortungsbewusst gegenüber der Gesundheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Inzwischen habe ich aber den Eindruck, dass Ramelow hier schon wieder ein Stück weit zurückrudert.
Schutzvorschriften dienen allen
Kaess: In der Tat, Herr Herrmann, sind die Infektionszahlen in Thüringen viel geringer als in Bayern. Wie soll denn die thüringische Landesregierung bei ihren Bürgern die Einschränkungen noch rechtfertigen?
Herrmann: Es gibt ja ständig gewisse Grundsätze, auf die wir uns bislang auf Bundesebene geeinigt haben. Es ist immer richtig, wenn Länder dann der spezifischen Situation in ihrem Land gerecht werden. Aber es ist auch sinnvoll, dass wir doch eine möglichst gemeinsame Grundlinie in Deutschland haben. Darauf haben wir uns ja bislang zwischen Bundeskanzlerin und den 16 Regierungschefs der Länder immer wieder auch einigermaßen einigen können.
Es ist interessant, nachdem jetzt ja doch von nahezu allen anderen Seiten auch kam: Natürlich brauchen wir doch weiter die Mund-Nasenschutz-Pflicht im öffentlichen Personennahverkehr, in Bussen und Bahnen, ja wir brauchen weiterhin das Abstandsgebot, mindestens 1,5 Meter Abstand von anderen Menschen auf der Straße, in irgendwelchen Einrichtungen zu halten, sagt ja Ramelow inzwischen, der Meinung sei er ja auch und das wolle er gar nicht in Frage stellen. Die Frage ist, was wollte er denn eigentlich am Samstag machen? Ich glaube, es ist gut, wenn er jetzt seinen Rückzieher antritt und Thüringen doch an diesen gemeinsamen Grundsätzen festhält.
Wir werden manche einzelnen Regelungen, zum Beispiel werden wir heute auch in Bayern darüber beraten, wieder mehr Sportarten weiter zu ermöglichen, sowohl Outdoor wie Indoor und dergleichen, diese Dinge werden ständig weiter gelockert werden. Das ist ja auch richtig. Aber gerade diese Grundlinien, wir brauchen in bestimmten Einrichtungen, im ÖPNV, beim Einzelhandel und so weiter, Mund-Nasenschutz-Pflicht, wir brauchen das Abstandsgebot. Und wohl gemerkt: Das dient ja immer nicht nur der eigenen Sicherheit, sondern es ist ein Stück weit auch Schutz anderer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Daran immer wieder zu erinnern: Wir müssen Rücksicht nehmen auf Mitbürger - das muss erwartet werden in dieser schwierigen Corona-Zeit -, auf diese Botschaft dürfen wir nicht verzichten.
Ohne Mindestmaß an Gemeinsamkeit gibt es Chaos
Kaess: Herr Herrmann, bleibt noch abzuwarten, ob das wirklich ein Rückzieher von Herrn Ramelow wird. - Sie haben die Bundesebene angesprochen. Es spielt sich aber nun mal sehr viel im Moment auf der Länderebene ab und auf der kommunalen Ebene, und man hat teilweise auch den Eindruck, da ist so etwas wie eine Konkurrenz entstanden. Wir hören uns mal an, was Dietmar Bartsch, Linken-Fraktionschef im Bundestag, gestern im Deutschlandfunk bei uns gesagt hat, mit Blick auf Herrn Ramelow. Er hat ihn verteidigt und folgendes gesagt:
Dietmar Bartsch: "Was ich allerdings nicht verstehe, dass diejenigen, die das höchste Infektionsgeschehen haben, wie in Bayern, die die meisten Infizierten haben, dass die Bodo Ramelow vorwerfen, dass er sozusagen gefährdet. Da muss man sich schon mal selbst fragen. Es geht hier nicht nach B-Note von Herrn Söder, sondern es geht nach konkreten Zahlen."
Kaess: Müssen Sie die eigenen Zahlen mehr im Blick haben, Herr Herrmann, bevor Sie Bodo Ramelow für seine Schritte kritisieren?
Herrmann: Wir haben die ja im Blick und deshalb haben wir uns ja auch immer für sehr konsequente Maßnahmen ausgesprochen. Wir waren mit unserem Ministerpräsidenten Markus Söder an der Spitze ja die ersten, die nachdrücklich darauf gedrängt haben, dass es Beschränkungen geben muss. Ja, in der Tat: Wir waren vor allen Dingen durch die Infekte aus Italien und Österreich, von Skifahrern und Ähnlichem natürlich massiv davon betroffen und haben deshalb eine höhere Infektionsrate als andere Bundesländer. Aber es ist eben nicht so, dass der Rest Deutschlands ansonsten davon völlig gefeit wäre. Darum sage ich noch mal: Ja, eigene Maßnahmen in den Ländern ja, aber insgesamt doch möglichst auch das Bemühen um eine gemeinsame Linie. Denn wir haben innerhalb Deutschlands ja auch sehr viel Austausch untereinander und auch die Thüringer sind nicht davor gefeit, dass hier ein Virus in ihr Land kommt und umgekehrt. Wir müssen schon ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit hier entsprechend bewahren.
Und noch einmal: Wenn Ramelow jetzt sagt, jawohl, er steht weiter zu dem 1,5-Meter-Abstandsgebot, er steht zu dem Maskengebot im ÖPNV, im Einzelhandel, dann sind wir ja schon wieder einen Schritt weiter. Und ich glaube, er hat vielleicht schon eingesehen, dass die Botschaft, die er ausgesandt hat, man bräuchte überhaupt keine landesweiten Schutzvorschriften, vielleicht doch nicht die richtige ist. Wir werden jedenfalls dafür kämpfen, dass hier eine gemeinsame Linie entsprechend auch gefahren wird.
Es macht ja auch keinen Sinn. Das gilt ja auch, wenn ich beispielsweise im ICE sitze. Soll ich, solange ich mich in Bayern befinde, im ICE die Maske aufhaben, und sobald der Zug dann die Landesgrenze nach Thüringen Richtung Erfurt überschritten hat, darf ich die Maske absetzen? Und wenn ich dann wieder Richtung Berlin unterwegs bin im gleichen ICE, muss ich sie wieder aufsetzen? - Ich glaube, da wird doch schon deutlich: Wenn wir da nicht ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit in diesen Dingen haben, dann haben wir sehr schnell wieder blankes Chaos.
Eigenverantwortung allein reicht nicht
Kaess: Herr Ramelow hat ja auch letztendlich diese Botschaft ausgesendet, dass er Verantwortung wieder zurück an die Bürger geben will. Warum trauen Sie den Menschen nicht zu, diese Verantwortung zu übernehmen? Da könnte Thüringen ja auch durchaus Maßstäbe setzen für den Ausstieg aus den Maßnahmen.
Herrmann: Verantwortung der Bürger, Eigenverantwortung ist zweifellos wichtig und richtig. Da stehe ich absolut dazu. Aber es ist gerade das Problem – und das haben wir auch bei manchen kuriosen Demonstrationen der letzten zwei Wochen auch gesehen -, dass manche darunter nur verstehen, das ist ihr Freiheitsanspruch für sich selbst. Das ist in unserer Gesellschaft auch richtig. Aber dazu kommt dann immer, dass die eigene Freiheit dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, und wenn meine Freiheit so ausgeübt wird, dass ich rücksichtslos wäre gegenüber anderen, dann wäre das nicht verantwortungsbewusst.
Deshalb ist das Problem: Es wissen nach wie vor viele, viele bei uns nicht, wenn sie schon infiziert sind, weil sie vielleicht gar keine Symptome haben. Sie haben vielleicht gar keine böse Absicht, aber weil sie schon unerkannt infiziert sind, stecken sie, wenn sie dann das Abstandsgebot gegenüber einem anderen nicht einhalten, den an, infizieren den, und der wird womöglich dann schwerkrank. Das ist nach wie vor offensichtlich ein paar Leuten bei uns nicht bewusst und da tritt die Schutzpflicht des Staates ein. Da sagen wir: Ja, deswegen muss jeder nicht nur zur eigenen Sicherheit, sondern zur Sicherheit der anderen den Abstand einhalten. Deshalb komme ich allein mit dem Thema Eigenverantwortung nicht weiter, wenn jemand dann aber gegenüber anderen rücksichtslos ist. Deswegen braucht es nach wie vor auch ein Mindestmaß an staatlichen Geboten und Verboten.
"Ich hoffe, dass Thüringen nicht ausschert"
Kaess: Jetzt hat der bayerische Ministerpräsident Markus Söder in dieser ganzen Aufregung um Bodo Ramelow und dieser Ankündigung angekündigt, im Zweifel werde die bayerische Landesregierung Gegenmaßnahmen ergreifen. Welche sind das?
Herrmann: Ich glaube, wir müssen im Moment diesen Streit nicht weiter eskalieren lassen, nachdem Ramelow angekündigt hat, letztendlich ja doch wieder da einen Rückzieher zu machen und doch auch bei landesweiten Vorschriften bleiben will. Wir schauen mal, wie sich jetzt der weitere Tag heute ergibt. Es geht ja nach wie vor auch darum, auf Bundesebene, zwischen Bund und Ländern hier die Linie, sagen wir, bis Ende Juni abzustimmen. Ich hoffe, dass es da eine Einigung gibt. Wir wollen jetzt da nicht große Drohgebärden ausstoßen. Uns ist weiterhin daran gelegen, dass wir zu einer gemeinsamen Linie kommen, und ich hoffe, dass Thüringen da nicht ausschert.
Kaess: Es war etwas auffällig, Herr Herrmann, dass einzig und allein die AfD-Fraktion im Bundestag Bodo Ramelow gelobt hat für diesen Vorstoß am Wochenende und gesagt hat, sein Vorstoß sei genau das, was die AfD seit Wochen fordere. Ist Herr Ramelow getrieben von der AfD?
Herrmann: Nein, das kann man ihm sicherlich nun nicht vorwerfen. Aber es sollte jedem zu denken geben, dass es hier offensichtlich in der Art der Forderungen dann wieder Gemeinsamkeiten insgesamt von Teilen der AfD und Teilen der Linkspartei gibt. Vielleicht könnte das gerade auch der Linkspartei zum Nachdenken geben, ob sie da wirklich auf dem richtigen Kurs sind, wenn umgekehrt beispielsweise zurecht CDU/CSU, SPD, auch die Grünen hier einen doch wesentlich klareren Kurs zur weiteren Bekämpfung dieser Virusverbreitung vertreten.
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