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"Locus Solus" an der Volksbühne Berlin
Ein Versuch, die Sterblichkeit zu überwinden

Mit "Locus Solus" veröffentlichte der Schriftsteller Raymond Roussel 1914 einen futuristischen Roman, der bei vielen Zeitgenossen auf Unverständnis stieß. Der junge polnische Regisseur Krzysztof Garbaczewski hat das Werk wiederentdeckt und es für die Berliner Volksbühne adaptiert. Eine surreale Traumwelt, in der Menschen versuchen, die Sterblichkeit zu überwinden.

Von Eberhard Spreng |
    Volksbühne in Berlin
    "Locus Solus", Teil der sogenannten „Schwarzen Serie“ in der Berliner Volksbühne. (imago/STPP )
    Ach wie schön ist’s auf der Drehbühne. In der Volksbühne ist sie besonders groß und wenn man sich auf einen der Plätze in den fünf Reihen gesetzt hat und sie sich langsam, ganz langsam, zu drehen beginnt, dann ist das wie die Entdeckung einer neuen Attraktion im guten alten Lunapark Theater. Denn nun ziehen in epischer Trägheit Menschen, Bilder und Objekte vor dem Auge des Zuschauers vorbei, so als wäre er das Ich der rotierenden Erde und alles Sichtbare flöge vorbei wie die Sterne am Abendhimmel. Zu sehen sind z. B. ein auf einem Ventilator tanzender Erdball, den zwei große Pappmascheehände in der Schwebe zu halten scheinen, ein paar ganz große Backenzähne, eine Fee, Tänzer, die Bühnenarbeiter, gewaltige Videoprojektionen. Der erste Blick fällt in die Seitenbühne, wo ein nur im Video zu sehender, nie leibhaftig in Erscheinung tretender Herr Canterel zu seiner Weltsicht befragt wird.
    "The trouble is that people are too serious. If they were not they would be happier. A Chinese proverb says the seriousness reduces life..."
    Utopie, in der Maschinen die Sterblichkeit zu überwinden versuchen
    Zuviel Ernst ist dem Leben abträglich und zuviel Fragen nach Sinn auch. Denn, was sich hier vor den erstaunten Zuschauern in Bildern und Tönen abspielt, ist inspiriert von dem 1914 erschienen Roman des Franzosen Raymond Roussel, dem es in darum ging, die Worte aus ihren Kontexten zu befreien und in völlig neuen Zusammenhängen wieder zusammenzusetzen. Sein Romanheld Martial Canterel hat in einem Park sieben phantastische Maschinen gebaut, die er staunenden Besuchern vorführt. Die Surrealisten lobten den futuristischen Roman, später sahen Vertreter des Nouveau Roman in "Locus Solus" einen Vorläufer. Der junge polnische Regisseur Krzysztof Garbaczewski nimmt ihn eher zum Anlass für eine nunmehr weiter zerlegte Ansammlung von disparaten Szenchen und Videoprojektionen, während derer der Zuschauer dann auch bemerkt, was er zuvor schon ahnte: Es gibt auf der rotierenden Erdscheibe, nun: kein Down Under, sondern ein Over There, eine zweite Gruppe von Zuschauern, die, von einer Wand getrennt, in die entgegengesetzte Richtung schaut, mal sehen diese die leibhaftigen Akteure, während wir die Videoprojektion ihrer Aktion verfolgen, mal ist es umgekehrt. So ist es auch mit dem verzweifelten Vater, der von Herrn Canterel befragt, über das Trauma Auskunft gibt, das der Tod seiner Tochter hervorgerufen hat.
    - How does it affect you today
    - Ich fühl mich nicht gut
    - Any more details
    - Ich muss mir wieder ins Gedächtnis rufen, durch die Konstruktion einer Maschine, die mir wenigstens die Stimme meiner Tochter wieder gibt.
    Parallelwelt voller dadaistischer Erfindungen
    Locus Solus ist eine Utopie, in der Maschinen die Sterblichkeit zu überwinden versuchen und der Herr Canterel, der im Video mit Space-Anzug im Wolkenmeer in Erscheinung tritt, ist der Demiurg, befähigt zur Schaffung einer Parallelwelt voller dadaistischer Erfindungen und lustiger philosophischer Scherze.
    Wie man, da man nun einmal sterblich ist und trotz dieses Abends bleiben wird, zum Schöpfer seines Grabes werden kann, untersucht die Volksbühne in ihrer sogenannten "Schwarzen Serie" unter dem Motto "Erobert euer Grab". In die Osterzeit kreist sie mit diversen performativen und theatralen Positionen um die Frage, was es bedeutet, dass das Christentum als einzige monotheistische Religion den Tod Gottes ins symbolische Epizentrum ihres Glaubens stellt. Die Reihe begann mit der Installation "Krieg" des Isländers Ragnar Kjartansson, dessen Oper in einem Akt in einer hyperrealistischen Schlachtenlandschaft der Vergangenheit einen schwer verletzten Soldaten zu melodramatischen Klanggemälden sich immer wieder stöhnend und ächzend, wimmernd und schreiend aufraffen und wieder zusammenbrechen ließ. Wie in Echtzeit wurde hier ein nicht enden wollender Todeskampf vorgeführt, dem ein letzter tödlicher Schuss allerdings ein allzu banales Ende setzte. "Exodus" stellt den gleichnamigen Roman des russischen Aktivisten Petr Silaev auf die Bühne, der unter dem Pseudonym DJ Stalingrad erschienen war: Als trashiges Gewalttheater, das der religiös-literarischen Läuterung seines Autors nicht so recht auf die Spur kam. "Troja" und die von Sylvia Rieger mit Schauspielstudenten eingerichteten "Sommergäste" und ihre Realisation von "Jona" nach Inge Müller ergänzen die Reihe, die mit dem Gastspiel "War and Peace" des Performance-Kollektivs Gob Squad enden soll. Das ist dann etwa auf der kalendarischen Hälfte zwischen Ostern und Pfingsten. Hoffentlich findet das Theater bis dahin doch noch zu seinem Thema und nimmt es nicht nur als Stichwort für routinierte Performance.