Silvia Engels: Bis spät in die Nacht tagten gestern in Paris die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Frankreichs, gemeinsam mit der deutschen Bundeskanzlerin. Es ging um den Konflikt in der Ostukraine. Die Ergebnisse klingen ja recht konkret. Bis Ende des Jahres soll ein vollständiger Waffenstillstand erreicht sein. Außerdem soll der Truppenrückzug fortgesetzt werden und auch ein groß angelegter Gefangenenaustausch ist avisiert.
Die Bilanz des Ukraine-Gipfels wollen wir noch vertiefen. Am Telefon hat mitgehört Stefan Liebich, außenpolitischer Sprecher der Fraktion Der Linken im Bundestag. Guten Tag, Herr Liebich!
Stefan Liebich: Guten Tag, Frau Engels.
Engels: Wenn Sie diese Beschlüsse gerade noch mal gehört haben, wer hat denn auf dem Gipfel den größeren Erfolg erzielt, Russland oder die Ukraine?
Liebich: Ich glaube, in solchen Kategorien sollten wir diesen Konflikt nicht bewerten, denn das Entscheidende ist, dass es ein Sieg ist für die Menschen, die im Osten der Ukraine leben. Denn jeder Schritt, der dort in Richtung Frieden gemacht wird, hilft den Menschen dort. Wir müssen uns vorstellen: Das sind Menschen, die lebten früher ohne Grenze in beide Richtungen, weil sie Teil der Sowjetunion waren. Dann gab es plötzlich eine Grenze zwischen der Ukraine und Russland und dann eine Grenze zwischen den sogenannten Volksrepubliken und der Ukraine. Für die Menschen dort ist das Leben wirklich beschwerlich und alles, was besser wird, ist ein Sieg für sie.
"Putin jetzt unter Druck"
Engels: Da würde natürlich helfen, wenn die Waffenruhe diesmal hält. Das hat ja in der Vergangenheit nie dauerhaft gehalten. Warum sollte das jetzt anders sein? Sehen Sie da Russland, dem ja als Akteur im Hintergrund ein mächtiger Einfluss zugemessen wird, als anders konfiguriert, dass man da jetzt andere Interessen hat?
Liebich: Russland hat seine Position nicht verändert. Eine Situation hat sich verändert: das ist die Lage in der Ukraine. Dort ist ja gewählt worden und Präsident Selenskyj ist mit einer deutlichen Mehrheit an die Macht gekommen und hat übrigens auch eine deutliche Mehrheit im Parlament, der Rada, und von ihm war es eine klare Aussage, dass er den Krieg dort beenden möchte. Was er jetzt tut ist, sich auf Vereinbarungen zu berufen, die sein Vorgänger, Herr Poroschenko, bereits unterschrieben hat, und ich muss mich manchmal schon wundern, dass es eine Kritik gibt von Poroschenko und seinen Unterstützerinnen und Unterstützern an der sogenannten Steinmeier-Formel, denn die ist ja von der früheren ukrainischen Regierung unterschrieben worden.
Jetzt will Herr Selenskyj wirklich Schritte machen und er hat auch bereits Schritte gemacht vor diesem Treffen, und das macht es für Putin in seine Regierung natürlich schwerer, die Regierung in der Ukraine als ein sogenanntes faschistisches Regime zu bezeichnen. Das ist offenkundiger Quatsch und deshalb ist ja auch Putin jetzt so unter Druck.
Engels: Dann greifen wir das Stichwort der sogenannten ominösen Steinmeier-Formel noch einmal auf. Da geht es ja um den perspektivischen Zusammenhang, das heißt die Frage, wer hat die Kontrolle über die abtrünnigen Gebiete in der Ukraine und in welchem Zusammenhang steht das mit Wahlen, wann wird Kontrolle übergeben, wann kommen die Wahlen. Da geht es ja um diesen Zusammenhang. Muss man da vielleicht auch etwas verändern, um den russischen Einfluss, der ja offenbar in den abtrünnigen Gebieten wächst, nicht zu groß werden zu lassen, was dann ja wieder Folgen für die Wahlen hätte?
Liebich: Ich glaube, das, was da vereinbart wurde bei Minsk II, das sollte man jetzt nicht antasten, sondern versuchen umzusetzen. Da hat die Ukraine damals Zugeständnisse gemacht. Sie hat de facto eine veränderte Situation im Osten der Ukraine akzeptiert, ohne allerdings jemals einer Abtrennung oder Föderalisierung zuzustimmen. De facto haben die Autoritäten in den Volksrepubliken in den letzten Jahren dort Einfluss gehabt. Das hat auch Spuren hinterlassen. Aber ich finde, dort jetzt auf Wahlen hinzuarbeiten und dann am Ende auch zu einer vollständigen Übergabe der Grenzkontrolle im Osten an die ukrainischen Autoritäten zu kommen, das muss das Ziel sein.
Engels: Aber nur, wenn dann - das ist ja auch ein russisches Ziel - ein starker Status von Autonomie diesen Regionen zugebilligt wird?
Liebich: Das, was unterschrieben wurde, muss man einhalten. Am Ende ist es doch so: Der Herr Selenskyj hat anders als sein Vorgänger, der Herr Poroschenko, gesagt, die Menschen im Osten der Ukraine, die sind Teil der Ukraine, das sind Ukrainerinnen und Ukrainer, ganz egal wie sie zu Russland oder zur russischen Sprache stehen. Das war ein wichtiger Schritt, denn in der Vergangenheit hatte man manchmal den Eindruck, dass sich niemand so richtig für die Menschen dort interessiert, Kiew nicht und Moskau auch nicht, und sie alle nur noch die Menschen dort als Faustpfand betrachten. Das scheint, sich geändert zu haben, und ich bin im Moment tatsächlich vorsichtig optimistisch, dass wir da etwas hinbekommen.
Engels: Auffällig ist ja, dass bei diesen ganzen Gesprächen und auch bei unserer Diskussion jetzt die besetzte Krim keine Rolle mehr spielt. Ist das de facto auch von der internationalen Politik das Einlenken, dass Russland hier einfach das Recht des Stärkeren durchgesetzt hat?
Liebich: Ich finde, dass die Staatengemeinschaft niemals akzeptieren darf, dass es völkerrechtswidrige Aneignung von Territorien gibt. Man muss allerdings auch feststellen, dass da die Krim nicht das einzige Territorium ist. Für mich ist es so: Ich habe das mental auf den Stapel der vielen ungeklärten Gebietskonflikte gepackt. Wir haben neulich zum Beispiel den Fall gehabt, dass die US-Regierung das völkerrechtswidrig von Israel besetzte Territorium der Golanhöhen als de facto zu Israel gehörig erklärt hat. So was, finde ich, soll man nicht tun. Völkerrechtlich ist es nur möglich, Territorien zu verschieben, wenn beide Seiten damit einverstanden sind. Das war bei der Krim nicht der Fall. Deswegen darf man das nicht akzeptieren. Aber ich finde, man darf es auch jetzt nicht zur Vorbedingung für eine Lösung des Konfliktes im Osten der Ukraine machen.
"Russland hat selber auch ein Interesse dran"
Engels: Das heißt, die Normalisierung der Beziehungen auch vom Westen zu Russland, wo ja die Krim lange als Problem im Weg stand, das möchten Sie abgeräumt sehen?
Liebich: Ich bin der Auffassung, dass, wenn wir zu einer Lösung im Osten der Ukraine kommen, wir dann auch Schritt für Schritt die Sanktionen zwischen Russland und der Europäischen Union und Russland und Deutschland aufheben sollten. Das ist im Interesse aller Seiten. Das bedeutet nicht, dass man die völkerrechtswidrige Integration der Krim in das Territorium der Russischen Föderation akzeptieren darf, aber das ist ein Thema, was jetzt hier nicht auf dem Tisch lag.
Engels: Skeptiker der Entwicklung fürchten ja, dass Russland die Krim am Ende behält und aus dem Gebiet der Ostukraine einen eingefrorenen Konflikt macht, wie man das ja an anderen russischen Außengrenzen auch gesehen hat. Warum sollte es nicht so kommen, denn das ist ja durchaus schon gelebtes Modell von Wladimir Putin in anderen Regionen?
Liebich: Weil wir gerade sehen, dass es Bewegung gibt. Und da muss ich es noch mal sagen: Es gab den klaren Willen der ukrainischen Bevölkerung, mit der Wahl von Herrn Selenskyj und der entsprechenden Mehrheit in der Rada Leute zu unterstützen, die hier in Gespräche gehen wollen und eine Lösung erzielen wollen. Das setzt Russland unter Druck und deswegen bin ich optimistisch, dass es hier anders als bei anderen Konflikten zu einer Lösung kommen wird. Übrigens hat da Russland selber auch ein Interesse dran. Die wirtschaftliche Situation Russlands ist nicht zum Besten. Die Unterstützung für das Agieren Russlands im Osten der Ukraine sinkt in Russland selber auch. Das war am Anfang des Konfliktes anders. Deswegen glaube ich, hat auch Präsident Putin ein Interesse daran, aus dieser Situation herauszukommen.
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