Archiv

Londoner U-Bahn-Attentat
"Ich dachte, dass wir alle sterben"

Sajda Mughal hat den Anschlag auf die Londoner U-Bahn vor genau zehn Jahren überlebt. Seitdem durchlebt sie Albträume. Kurz nach den insgesamt vier Anschlägen wird sie, die selbst Opfer war, gar öffentlich angefeindet, weil sie Muslimin ist. Heute kämpft sie gegen islamischen Extremismus – auf friedliche Weise.

Von Stephanie Pieper |
    Sajda Mughal überlebte das Londoner U-Bahn-Attentat von 2005. Sie wurde von Großbritannien für ihre Arbeit gegen islamischen Extremismus ausgezeichnet.
    Sajda Mughal überlebte das Londoner U-Bahn-Attentat von 2005. Sie wurde von Großbritannien für ihre Arbeit gegen islamischen Extremismus ausgezeichnet. (afp/Pool/Yui Mok)
    Für Sajda Mughal ist es immer noch etwas Besonderes, an diesen Ort zu kommen: zum Bahnhof King's Cross, wo sie am Vormittag des 7. Juli 2005, nach einer gefühlten Ewigkeit, aus dem dunklen U-Bahn-Tunnel wieder das Tageslicht erreicht. Sajda steuert damals den nächsten McDonald's an, holt sich einen Tee und versucht, zur Ruhe zu kommen. Zehn Jahre ist das jetzt her, aber noch immer blitzt die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag auf, noch immer hat die 33-Jährige ab und zu Albträume:
    An diesem 7. Juli 2005 erreicht der islamistische Terror London: Vier Selbstmord-Attentäter sprengen sich in der morgendlichen Rush hour in die Luft, in einem Bus und in drei U-Bahnen.
    An jenem verhängnisvollen Donnerstag nimmt Sajda wie jeden Morgen die Piccadilly Line auf ihrem Weg in die City. Kurz nachdem der Zug die Station King's Cross verlassen hat, hört sie einen lauten Knall; die voll besetzte U-Bahn kommt abrupt zum Stehen, das Licht geht aus:
    Es ist zehn vor neun. Niemand ahnt in diesem Moment, dass im ersten Waggon ein 19-jähriger extremistischer Muslim namens Germaine Lindsay eine Bombe gezündet hat – auch Sajda nicht:
    "Wenn ich zurückblicke, wird mir klar: Ich stand unter Schock, ich habe einfach nur still da gesessen und geschwiegen. Ich dachte, der Zug wäre entgleist und dass gleich der nächste Zug mit vollem Tempo auf uns drauf fährt - und dass wir alle sterben."
    Um sie herum jammern Menschen, schreien, weinen, hämmern gegen Fenster und Türen, erinnert sich Sajda. Nach knapp einer Stunde dann die Erlösung: Polizisten befreien die Passagiere und geleiten sie durch den Tunnel zum inzwischen menschenleeren Bahnhof King's Cross:
    "Ich war damals Anfang 20: Ich wollte Karriere machen, verreisen, die Welt sehen, wollte mir was leisten. Doch dann hat dieser Anschlag mein Leben verändert."
    26 Menschen sterben allein bei der Explosion in der Piccadilly Line, 52 insgesamt an diesem Tag, rund 700 werden verletzt: Was 9/11 für New York ist, ist 7/7 für London. Sajda hat Glück im Unglück: Sie sitzt in einem Waggon in der Mitte des Zuges und bleibt körperlich unversehrt. Sie ist selbst Muslimin und kann gerade deshalb nicht verstehen, dass andere junge Muslime unschuldige Menschen töten.

    Zerstörter Wagen einer U-Bahn nach dem Anschlag in London
    2005: Zerstörter Wagen einer U-Bahn nach dem Anschlag in London (AP)
    Tötest du einen Unschuldigen, tötest du die gesamte Menschheit
    Der Islam besage, so Sajda: Töte man einen Unschuldigen, dann töte man die gesamte Menschheit. Nach diesem Tag des Terrors gibt die junge Frau ihren Job auf und arbeitet seither für die Wohltätigkeitsorganisation JAN Trust, eine Anlaufstelle für verzweifelte Frauen im Norden Londons, viele von ihnen Musliminnen. Dort ist es Sajdas Anliegen, islamischen Extremismus an der Wurzel zu bekämpfen:
    "Wir arbeiten mit der muslimischen Gemeinschaft, vor allem mit den Müttern, um sie über die Gefahren aufzuklären. Damit sie der Radikalisierung ihrer Söhne und Töchter entgegenwirken. Die Mütter schützen so nicht nur ihre eigenen Kinder, sondern die ganze Gesellschaft - damit so etwas nie wieder geschieht."
    Dies ist Sajda Mughal heute, da sie selbst zwei kleine Kinder hat, besonders wichtig. Sie ist schwarz gekleidet, hat ihre Augen mit einem dicken, dunklen Kajalstrich umrandet und trägt ihr langes, braunes Haar offen. In den Tagen und Wochen nach dem Anschlag wird auch sie als Dunkelhäutige – obwohl selbst Opfer – angepöbelt von weißen Briten. Was ihr bis heute bisweilen passiert:
    "Es macht mich traurig und frustriert mich, dass wir hier in Großbritannien leben, in einer so vielfältigen Stadt wie London, dass wir aber auch im Jahr 2015 noch sowohl die Radikalisierung von Muslimen erleben müssen als auch den Hass auf den Islam."
    Sajda hat einen Neuanfang gemacht, weil sie dem Tod ins Auge geblickt hat, und weil sie eine zweite Chance bekommen hat.
    Sajda nimmt das Leben heute als besonders kostbar wahr.