21 Menschen kamen bei der Loveparade 2010 in einer Massenpanik ums Leben, 625 wurden zudem teils schwer verletzt. Die juristische Aufarbeitung endete ohne Urteil. Es habe Planungsfehler gegeben, doch die Angeklagten trügen daran höchstens geringe Schuld, teilte das Gericht zum Abschluss des Verfahrens mit.
Strafrechtlich sei das sicher richtig, sagte Wolfgang Seibel, Verwaltungswissenschaftler an der Universität Konstanz, im Dlf. Die Hoffnung auf den Strafprozess sei von Anfang an überzogen gewesen. Denn man müsse die strafrechtliche Verantwortung von der ethischen Verantwortung trennen. Gerade die nicht-justiziablen Fälle von krassem Fehlverhalten in der Verwaltung seien schließlich sehr problematisch gewesen.
Denn das Bauordnungsamt habe in der Planung von Anfang an auf Sicherheitsbedenken hingewiesen, doch diese habe man auf höheren Verwaltungsebenen nicht hören wollen, stattdessen habe man sich "aus politischen Gründen über die fachliche Kompetenz der eigenen Mitarbeiter hinweggesetzt."
Die Veranstaltung galt für die Stadt Duisburg schließlich als prestigeträchtig, weil sie im Rahmen des Programms zur Kulturhauptstadt Europa stattfinden sollte. Man habe deshalb alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Event trotz der Bedenken durchzusetzen.
Insbesondere der Abteilungsleiter des Dezernats II – das ausgerechnet für Sicherheit zuständig ist – habe dabei Druck auf die Verwaltung ausgeübt. Dabei habe er "abenteuerliche" Argumentation genutzt, sagte Seibel. Ein Schlüsselmoment dazu sei eine letzte Besprechung neun Tage vor der Loveparade gewesen. Der Leiter des Dezernats 2 habe da gefragt, ob es Sicherheitsbedenken gebe. Laut Protokoll gab es keine, doch zu diesem Zeitpunkt hätten auch noch die Planungsunterlagen des Veranstalters gefehlt. Die Mitarbeiter des Bauordnungsamtes hätten das stillschweigend hingenommen.
Dass fachliche Bedenken aus politischen Gründen ignoriert werden, sei ein klassischer Grund für massive Verwaltungsfehler. Um wirklich Lehren aus dem Fall der Loveparade 2010 ziehen zu können, brauche es eine ordentliche Aufarbeitung, die gebe es aber bis heute nicht.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Professor Seibel, wer oder was hat in Duisburg vor allem versagt?
Wolfgang Seibel: Es gab in diesem Fall natürlich wie immer in der Verwaltung klare Zuständigkeiten. Die Zuständigkeit unmittelbar für die Genehmigung der Loveparade lag beim Amt 62 der Duisburger Stadtverwaltung. Das war das Bauordnungsamt, weil es sich hier technisch gesehen um die Umwidmung eines bestimmten Areals handelte. Und diese Mitarbeiter – das muss man übrigens auch mal erwähnen – haben ihre Arbeit sehr sauber erledigt. Die haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen auf diesem Veranstaltungsgelände schlicht nicht erfüllt werden konnten.
Und wenn es um die Frage geht, wer ist dann dafür verantwortlich, dass die Veranstaltung doch genehmigt wurde, dann muss man vor allem zwei Dezernenten nennen – leider: Das Dezernat zwei für ironischerweise Sicherheit und Recht und sein Kollege im Dezernat fünf, der Dezernatsleiter für Stadtentwicklung, zu dem das Bauordnungsamt als Genehmigungsbehörde gehörte. Der Leiter des Dezernats zwei war federführend für die Organisation der Loveparade und hat massiven Druck ausgeübt, was auch gut dokumentiert ist, auf die Mitarbeiter in der Genehmigungsbehörde, dass sie, ich sage jetzt mal, Fünfe gerade sein lassen sollten und die Veranstaltung Loveparade unter allen Umständen genehmigen sollten, wofür dann zum Teil, ich bin schon geneigt zu sagen, abenteuerliche Konstruktionen der Begründung gefunden wurden. Das sind diejenigen, die nach allem, was man weiß, die Hauptverantwortlichen für diese Katastrophe waren, soweit es die Erteilung der Genehmigung für die Veranstaltung betrifft.
Heinemann: Warum dieser Druck?
Seibel: Das haben Sie ja selbst in Ihrer Anmoderation angesprochen. Das muss man sich in Erinnerung rufen. Es war natürlich eine, wie man zurecht meinte, prestigeträchtige Veranstaltung für die Stadt Duisburg, und der Druck wurde dadurch verstärkt, dass in dieser Veranstaltungsserie von mehreren Loveparades im Rahmen des Kulturprogramms "Kulturhauptstadt Europa" des gesamten Ruhrgebiets, was ja auch wirklich ein großer Erfolg war für die Ruhrgebietsregion, da hatte die Stadt Bochum im Jahr 2009, also ein Jahr zuvor, die Loveparade, die dort durchgeführt werden sollte, wohlgemerkt aus Sicherheitsgründen absagen müssen. Das hatte in Bochum schon einen Sturm der Entrüstung ausgelöst und das hatte man natürlich vor Augen und wollte buchstäblich nicht nur die Stadt Duisburg, sondern, wenn man so will, das Ruhrgebiet als solches nicht blamieren. Deswegen hat man alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Veranstaltungsgenehmigung doch durchzudrücken. Aber das verweist darauf, dass es hier objektive Grenzen gab, auch der Politisierung einer Fachentscheidung der Verwaltung, die nicht hätten überschritten werden dürfen. - Das ist übrigens auch eine der zentralen Lehren, die man aus diesem ganzen Geschehen ziehen kann und ziehen muss.
Heinemann: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte in dieser Woche mit Blick auf die Einstellung des Loveparade-Verfahrens vor dem Duisburger Landgericht "Die Katastrophe nach der Katastrophe". – Zurecht?
Seibel: Ob man das jetzt eine Katastrophe nennt, das ist eine andere Frage. Aber man muss sich vor Augen führen, dass allein schon die starke Konzentration auch des öffentlichen Interesses auf einen Strafprozess in bestimmter Hinsicht abwegig war. Denn ein Strafprozess kann überhaupt nur individuelles Verschulden, pflichtwidriges Verschulden in diesem Fall von öffentlichen Bediensteten aufklären.
"Krasse Verantwortungslosigkeit einzelner Angehöriger der Duisburger Stadtverwaltung"
Heinemann: Aber dieses Verschulden haben Sie doch gerade benannt.
Seibel: Aber nicht im strafrechtlichen Sinne. Man muss ja auseinanderhalten die amtliche Verantwortung, auch die ethische Verantwortung etwa von insbesondere höheren Verwaltungsbeamten auf der einen Seite und dem, was dann strafrechtlich relevant ist, wenn es um die Rekonstruktion einer lückenlosen Kausalkette geht, etwa zwischen dem Tod eines Veranstaltungsbesuchers und dem Tun oder Unterlassen einzelner Beamter oder Angestellter in der Duisburger Stadtverwaltung. Das sind zwei Paar Schuhe. Das ist von Anfang an nicht richtig auseinandergehalten worden und gerade die nicht justiziablen Fälle von krassem Fehlverhalten und, man muss leider sagen, auch krasser Verantwortungslosigkeit einzelner Angehöriger der Duisburger Stadtverwaltung, das ist ja nun nach wie vor nicht nur nicht aufgearbeitet, sondern es ist auch in der breiteren Öffentlichkeit, wie ich es wahrnehme, gar nicht bekannt.
Heinemann: Das Landgericht verwies auf eine Sitzung am 15. Juli 2010, an der 36 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Polizei, Feuerwehr, Ordnungs- und Bauamt teilnahmen und während der keinerlei Bedenken gegen die Planung der Loveparade geübt worden seien. Ist das ein Argument dafür, individuelle Schuld auszuschließen?
Seibel: Das ist es vielleicht im strafrechtlichen Sinne. Aber das ist ein sehr denkwürdiger Vorgang, den Sie da ansprechen. Das war die letzte große Zusammenkunft von Beteiligten bei der Vorbereitung der Loveparade und dann fragte der Sitzungsleiter – das war übrigens der Leiter des Dezernats zwei für Sicherheit und Recht, den ich gerade erwähnt habe – in die Runde, ob es denn noch Bedenken, Sicherheitsbedenken insbesondere gegen die Durchführung der Loveparade gäbe, und dann heißt es im Protokoll dieses Treffens, es gab keine solche Äußerung.
Nur was bei dieser Gelegenheit der Veranstaltungsleiter hätte erwähnen müssen war, dass es zu diesem Zeitpunkt, wohlgemerkt neun Tage vor der Loveparade selbst, noch gar keine genehmigungsfähigen Unterlagen des privaten Veranstalters gab. Das war der Grundtatbestand und dieser Grundtatbestand ist vom Sitzungsleiter verschwiegen worden. Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Genehmigungsbehörde, des Bauordnungsamtes, die saßen dabei, haben das schweigend hingenommen. Das ist wirklich ein Schlüsselmoment geradezu, der aber auch deutlich macht, dass diese Sitzungsleitung buchstäblich manipulativ war, denn natürlich sollte hier so etwas wie Scheinlegitimität erzeugt werden. Es sollte dann im Protokoll stehen, na ja, es gab keine Sicherheitsbedenken, und damit wurde geradezu systematisch abgelenkt davon, dass die Überprüfung der gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen, die glasklar waren, bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden hatte.
"Solche Situationen gibt es in der Verwaltung gar nicht so selten"
Heinemann: Herr Seibel, Sie untersuchen Verwaltungsversagen. Welche Elemente kommen zusammen, wenn Behörden schwere Fehler begehen?
Seibel: In diesem Fall – gehen wir mal von diesem Fall aus und fragen wir uns mal, was daran verallgemeinerungsfähig ist –, da war es tatsächlich, wie ich eingangs schon gesagt habe, die ganz verständliche Neigung von kommunalen Wahlbeamten, eine politisch erwünschte Entscheidung gegen alle, ich sage jetzt auch mal ganz bewusst, bürokratischen Widerstände durchzusetzen, und solche Situationen, die gibt es in der Verwaltung gar nicht so selten. Das kann finanzieller Druck sein, das kann politischer Druck sein, das kann zum Beispiel auch Personalknappheit sein – denken wir an die Situation in den Jugendämtern zum Beispiel und an die Missbrauchsskandale, die wir gehabt haben. Diese Situation, dass es Anreize gibt, insbesondere für Leitungspersonal in der öffentlichen Verwaltung, Fachfragen nicht nur nach sachlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, sondern aus politischen Opportunitätsgründen sich auch über die Fachkompetenz der eigenen Mitarbeiter hinwegzusetzen, das ist ja hier passiert, was übrigens auch in der breiteren Öffentlichkeit so nach meinem Eindruck gar nicht bekannt ist. Das ist sozusagen der Baustoff, wenn Sie so wollen, aus dem dann fatale Verwaltungsentscheidungen entstehen können oder auch Unterlassungen natürlich, und das sind dann auch die Lehren, die man aus solchen Abläufen ziehen muss. Aber die kann man natürlich nur ziehen, wenn diese Vorgänge auch rigoros aufgearbeitet werden, was ja bis heute nicht der Fall ist.
Heinemann: Was raten Sie Angestellten in den unterschiedlichen Verwaltungen, die Zweifel bekommen an der Durchführbarkeit von Projekten, oder die Missstände aufdecken?
Seibel: Auch da ist der Fall, wenn man sich die Fakten etwas genauer ansieht, aufschlussreich. Erfahrene oder auch weniger erfahrene Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung, die wissen das eigentlich ganz gut, was man zunächst mal machen muss. Man legt, schlicht gesagt, Vermerke an. Die Tatsache, dass wir relativ gut unterrichtet sind, jedenfalls dann, wenn man sich Mühe gibt, das zu verstehen, über die Vorgeschichte der Loveparade und die Fehler, die da begangen worden sind, ist darauf zurückzuführen, dass die involvierten Mitarbeiter Vermerke angelegt haben. Das sollte man zunächst mal tun.
Wenn man – und das gehört auch zur, schlicht gesagt – großes Wort -, ethischen Grundausstattung von Menschen in der Verwaltung, wenn man den begründeten Verdacht hat, dass hier etwas grundsätzlich in die falsche Richtung läuft, so dass zum Beispiel rechtswidrige Entscheidungen vorbereitet werden, oder Entscheidungen, die moralisch oder ethisch nicht vertretbar sind, dann sollte man seine Stimme erheben und dann sollte man auch auf das Risiko – ich weiß, das sind heroische Worte -, dass das vielleicht der eigenen Karriere nicht zuträglich ist, den Mut haben, sich zu artikulieren – zunächst mal innerhalb der Behörde (es gibt ja eine Aufsichtsstruktur), notfalls dann auch dadurch, dass man in die Öffentlichkeit geht.
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